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Nylons: Prügelei für ein Paar Strümpfe

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Nylonstrümpfe Der Stoff, aus dem die Träume sind

Prügelei für ein Paar Strümpfe: Als Anfang der vierziger Jahre zum ersten Mal günstige Nylons angeboten wurden, kam es in den Kaufhäusern zu Krawallen. Jahrzehntelang war die Kunstfaser der Traum modebewusster Frauen - viele hätten sogar ihre Männer dafür geopfert.

Am 15. Mai 1940 brach in amerikanischen Kaufhäusern die Hölle los. Schon auf der Straße konnte die Menge nur durch Polizeiabsperrungen in Schach gehalten werden, in den Geschäften prügelten sich die Frauen zwischen den Regalen. Und das, obwohl die "New York Times" gewarnt hatte: Der Verkauf werde nur mit einer begrenzten Menge beginnen, die wahrscheinlich bis mittags ausverkauft sein werde. Die Warnung hatte die entfesselten Massen aber offensichtlich nur noch weiter angestachelt - binnen kürzester Zeit waren alle Bestände restlos ausverkauft.

Das Objekt der Begierde: der Nylonstrumpf. Den gab es zwar schon vorher, allerdings nur zum stolzen Preis von 250 Dollar pro Paar - da griffen höchstens Hollywoodstars zu. An jenem Mittwoch im Mai jedoch wurde alles anders. Es war der erste offizielle Verkaufstag von in Massenproduktion hergestellten und damit günstigen Nylonstrümpfe in den USA - er ging als "N-Day" oder "Nylon-Day" in die Geschichte ein.

Die zarten Strümpfe waren von Anfang an ein Renner. Bereits in ihrem ersten Jahr als Massenware wurden in den USA 54 Millionen Paar verkauft. Jede Frau wollte die hauchfeinen Beinkleider und sich fühlen wie ein Filmstar. Denn die mittels eines Hüfthalters am Bein gehaltenen Strümpfe, heute auch gern salopp als Strapse bezeichnet, schafften einen beispiellosen Balanceakt: Sie versprachen Glamour und versprühten etwas Anrüchiges - waren aber zugleich damenhaft und seriös.

Vom Kohlen- zum Traumstoff

Die Entwicklung der Traumfaser hatte etwas ähnlich Atemloses wie der Run der amerikanischen Frauen auf ihr erstes Paar bezahlbare Nylons. Bereits in den dreißiger Jahren begann Wallace Hume Carothers als Forschungsleiter des US-Chemiekonzerns DuPont mit der Entwicklung einer zähen Masse namens Polyhexamethylenadipinamid. Aus Kohlenstoff, Luft und Wasser schuf er den Stoff, der innerhalb weniger Jahre die Frauen verzücken sollte - Nylon. Fast zur gleichen Zeit wurde auf der anderen Seite des Atlantiks, in Deutschland, vom Chemiker Paul Schlack für die IG Farben eine sehr ähnliche Faser erfunden - Perlon.

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Nach erbittertem Wettrennen am Ziel angekommen blieb ein Strumpfkrieg zwischen beiden Chemiekonzernen aus: Die ehemaligen Kontrahenten setzten sich an einen Tisch, tauschten ihre Formeln aus und teilten den Markt für Kunstfasern friedlich untereinander auf. DuPont sollte alle Länder westlich von Deutschland mit Nylons beliefern, die IG Farben den Markt östlich von Deutschland mit seinen Perlonstrümpfen bedienen.

So liefen bereits Ende der Dreißiger die ersten deutschen Großstädterinnen elegant bestrumpft über die Boulevards. Rund zwölf Paar verbrauchten die deutschen Damen damals pro Jahr - immer mit Blick nach hinten: Denn weil es bis dato noch keine Rundstrickmaschinen gab, die die feinen Fasern gleich im Kreis zum Strumpf spinnen konnten, zog sich eine Naht von der Ferse bis zum Schenkel an der Rückseite jedes Damenbeins entlang. Und auf deren Sitz achteten die Trägerinnen stets peinlichst genau.

Die Freude der deutschen Damen an ihrem neuen Accessoire währte allerdings nur kurz: Nach dem Kriegsbeginn 1939 wurden aus Perlon nicht länger Strümpfe gefertigt. Die synthetische Faser wurde zu einem kriegswichtigen Material erklärt - und fortan nur noch zu Fallschirmen, Zelten, Hängematten und Seilen verarbeitet. Auf der anderen Seite des Atlantiks erging es den weiblichen Nylon-Fans ähnlich: Bereits ein Jahr nach dem "Nylon Day" traten nach dem Angriff auf Pearl Harbour die USA in den Zweiten Weltkrieg ein, die Verarbeitung der Traumfaser wurde auch dort streng rationiert: Im Jahr 1942 wurden gerade noch 4,5 Millionen Paar Synthetik-Strümpfe verkauft, in den darauf folgenden Jahren fast keine mehr.

Zwischen Schokolade und Zigaretten

Von nun an waren Damenstrümpfe Mangelware - und höchstens noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Begehrt waren sie trotzdem: "Was fehlt euch am meisten?", wurden junge Amerikanerinnen nach Kriegsende gefragt. Nur 35 Prozent antworteten: "Männer" - der Rest wollte "Nylons". Sie sollten sie bekommen, denn zumindest in den USA lief die Produktion nach Kriegsende schnell wieder an. Für die Frauen in Nachkriegsdeutschland allerdings blieben sie erstmal wieder nur ein Traum. Sie behalfen sich mit Produkten wie "Farbstrumpf Coloral Sonnenbraun", die, einem Make Up gleich, aufs Bein geschmiert wurden und so einen eleganten Schimmer zauberten. Wer kein Geld für die Schminkstrümpfe hatte, nahm Kaffeesatz. In beiden Fällen zogen die Damen mit einem Kajalstift die "Strumpfnaht" nach.

Einen Weg aber gab es auch für deutsche Frauen, um endlich wieder an die heiß begehrten Strümpfe zu kommen: Amerikanische GIs brachten die Nylons wieder nach Deutschland - und im Nu wurden sie zur begehrtesten Tauschware auf dem Schwarzmarkt. Angeblich bezahlten die US-Geheimdienste ihre Spione und Informanten in den ersten Nachkriegsjahren teilweise gar nicht mit Geld, sondern mit Nylons. Die GIs versprachen sich viel von den zarten Geschenken, denn die deutschen "Fräuleins", so hieß es, seien für ein Paar Strümpfe gern zu unkeuschen Handlungen bereit - was Nylons auch die Bezeichnung "Bettkantenwährung" einbrachte.

In ihrem Buch "Gewirkte Wunder, hauchzarte Träume" führt die Autorin Susanne Buck das Verlangen der deutschen Frauen allerdings auf eine andere Ursache zurück: Den körperlich und seelisch elenden Zustand, in dem die deutschen Männer aus dem Krieg heimkehrten. Die jungen amerikanischen Soldaten mit ihrem unbekümmerten Lebensstil, so Buck, seine da eben sehr viel attraktiver gewesen.

Tränen über eine Laufmasche

Unbestritten ist jedoch eines: Die deutschen Frauen waren verrückt nach den "zärtlichen Strümpfen", wie sie 1948 die Zeitschrift "Constanze" nannte. Und während die Nylons jenseits des Atlantiks schon lange wieder Massenware geworden waren, blieben Strümpfe hierzulande vorerst noch teure Luxusartikel. Sie versprühten den Glamour der Hollywoodstars, die dafür Werbung standen. Wer ein Paar besaß, hütete es wie seinen Augapfel. Eine Laufmasche war ein Drama - deswegen gab es überall in Deutschland "Laufmaschendienste", die kaputte Strümpfe wieder reparierten. Übrigens sehr zum Ärgernis der Strumpf-Hersteller.

Und die drängten Anfang der fünfziger Jahre mit Macht zurück auf den deutschen Markt. 1951 wurden allein in Westdeutschland bereits wieder 30 Millionen Strümpfe hergestellt, 1952 waren es 45 Millionen Nylons und schon 1955 wurde die 100-Millionen-Marke geknackt. Nylons in den Fünfzigern, das waren nicht einfach Textilien. Sie waren ein gesellschaftlicher Gradmesser - und der Schlüssel zu einem besseren Leben. Eine Frau, deren gesellschaftliches Ziel in dieser Zeit hauptsächlich das Finden und Halten eines beruflich erfolgreichen Ehemanns war, musste entsprechend in ihr Äußeres investieren. Den richtigen Strümpfen und dem richtigen Sitz derselben kamen dabei eine zentrale Rolle zu. "Denn der Strumpf trägt sehr viel zur Formung des äußeren Erscheinungsbildes einer Frau bei, und wie auf allen anderen Gebieten der Mode rächen sich Geschmacklosigkeiten auch hier oft mehr, als man denkt.", drohte Lilo Aureden 1955 in ihrem Benimm-Klassiker "Schön sein - Schön bleiben".

Entsprechend begehrt waren die seidenen Söckchen denn auch trotz zunehmender Massenproduktion Das einzige Problem der neu anlaufenden Industrie war schnell und kreativ gelöst: Weil das in Deutschland verwendete Perlon nicht so elastisch war wie das amerikanische Nylon und sich die Strümpfe nicht jeder Beinform anpassten, mussten genormte Größen her. Doch was war das deutsche "Normalbeinmaß"? Um diese Frage zu beantworten, veranstaltete der Strumpfhersteller Arwa 1951 einen Beinwettbewerb und krönte die "Deutsche Beinkönigin". Bei der vermeintlichen Suche nach Deutschlands schönsten Beinen handelte es jedoch in Wirklichkeit um eine groß angelegte Marktanalyse. Tausende Frauen vermaßen ihre Beine und verhalfen den Strumpffabrikanten so zu einem Prototyp des deutschen Frauenbeins.

Nahtlose Schlotterlinge

In den Folgejahren brachen alle Dämme, die Strumpfherstellung wurde zum wachstumsstarken Industriezweig - und die Preise purzelten. Kosteten die Nylons Anfang der Fünfziger noch 10 DM, gingen bereits 1955 nur noch 3,50 DM für ein Paar Nylons über den Ladentisch, Tendenz fallend.

Doch es war nicht die ruinöse Preispolitik, die den Nylons am Ende den Garaus machte, sondern eine andere Textilie: Der Minirock. 1963 präsentierte die Engländerin Mary Quant das knappe Kleidungsstück - das Todesurteil für die Nylons. Nicht etwa, weil sich der Minirock sofort auf den Thron des sexiesten Modeaccessoire schwang, sondern allein aus praktischen Gründen. Der Mini war einfach zu kurz - nicht nur die Strümpfe, sondern auch die Strumpfhalter wären allen Blicken frei gegeben gewesen.

Die modebewussten Frauen stiegen nun endgültig auf Strumpfhosen um, die zwar bereits 1960 erstmalig auf den deutschen Markt kamen, aber erst mit der Ankunft des Minirocks ihren Durchbruch feierten. Zuerst noch misstrauisch beäugt, fanden die Frauen schnell Gefallen an der deutlich bequemeren Lösung. Vorbei die Zeit der Strumpfhalter, die zwar sexy aber auch unpraktisch waren. Vorbei die Zeit der kaputten Verschlüsse, die notdürftig mit einem Knopf oder einer Münze geflickt wurden, die dann immer im falschen Moment heraus fiel. Vorbei aber irgendwie auch die Zeit, da Männerblicke an der Naht hinauf ein Frauenbein entlang gleiten konnten. Und genau darum ging es immer: Glamour, Sex, ein besseres Leben, Nylons waren vor allem eins - Verheißung.

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