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Obdachlosigkeit in USA: Ein amerikanischer Alptraum

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Obdachlosigkeit in USA Ein amerikanischer Alptraum

Letzte Zuflucht Pappkarton: Die Obdachlosen-Camps der dreißiger Jahre waren eines der schaurigsten Symbole der Großen Depression - und wurden zum Anstoß für die Anfänge einer staatlichen Sozialpolitik in den USA. 2009 kamen die "Hoovervilles" von damals zurück.
Von Wiebke Junk

Der Geruch von faulem Müll in der Luft, die Matratzen auf dem Boden verwanzt, verdreckte Kinder, die zwischen Horden von Ratten spielen. Überall Verwahrlosung, Alkoholismus und Gewalt; ein Leben ohne Perspektiven, ohne Hoffnung und ohne ein Zuhause. Keine Szene aus einem Katastrophengebiet, einem Dritte-Welt-Slum oder einem Albtraum - sondern Anfang der dreißiger Jahre bittere Realität in einem der reichsten Länder der Welt, den USA.

Als am "schwarzen Donnerstag" im Oktober 1929 die New Yorker Börse ins Nichts stürzte, riss der Crash Millionen Amerikanern buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise stand jeder vierte Arbeiter ohne Job da. Mehr als eine Million Menschen verloren auch noch das Dach über dem Kopf. Wer Glück hatte, kam bei Freunden und Verwandten unter, doch schon bald hatte das Problem der Obdachlosigkeit die Nation nahezu überwältigt.

So entstanden Anfang der dreißiger Jahre in ganz Amerika Tausende Barackenstädte: Die "Hoovervilles" - benannt nach dem damaligen US-Präsidenten Herbert Hoover, dessen Politik viele für die Krise verantwortlich machten. Allein in New York gab es mehr als zwanzig Hoovervilles, eine davon mitten auf dem Rasen des Central Parks. Auch in Detroit, Seattle, St. Louis und anderen großen Städten schossen Obdachlosen-Camps mit bis zu eintausend Einwohnern aus dem Boden. Hunderttausende Familien im ganzen Land hausten auf einmal in notdürftigen Konstruktionen aus Pappe, Wellblech und Bauholz - ohne Elektrizität, ohne fließendes Wasser und vor allem ohne Aussicht auf Besserung.

Häuser aus Pappe

Schnell wurden die Hoovervilles zum Symbol des Elends, in das die Depression Millionen von Amerikanern trieb. Oft genug waren sie gezwungen, wie Nagetiere beim Nestbau alles Auffindbare einzusammeln - Pappen, Stoffplanen, Blechplatten, Bauholz, Autowracks und anderes Gerümpel - um sich daraus einen Unterschlupf zu zimmern und sich in solchen Müllstädten ihr Leben einzurichten.

Vor dem Börsencrash kannte Amerika weder ein nennenswertes Sozialversicherungssystem noch Auffangnetze für jene, die der Kapitalismus aus der Bahn geworfen hatte. Private Wohlfahrtseinrichtungen hatten sich um solche Fälle gekümmert, Ausdruck des traditionellen robusten Individualismus, wie er seit Pioniertagen unter Amerikanern gepflegt wurde. Nun aber, in der größten Wirtschaftskrise seit Menschengedenken, war die gesellschaftliche Selbsthilfe überfordert von dem Andrang all derer, die plötzlich mittellos da standen.

Doch die Geschichte der Hoovervilles hatte, bei aller Not dort, auch eine zweite Seite. Denn in den Obdachlosensiedlungen herrschten nicht überall und ausschließlich Hunger, Gewalt und Leid. Sie waren nicht selten auch Orte ungewöhnlicher Solidarität - und Kristallisationskern einer neuen Sozialpolitik in den USA.

Einige der Obdachlosenstädte entsprachen nicht unbedingt dem Klischee von menschenunwürdigen Slums, sondern entwickelten sich zu sauberen und gut organisierten kleinen Gemeinwesen: Mit eigenem Bürgermeister und verschiedenen Komitees wurde hier, am untersten Ende der sozialen Skala, auf halbwegs demokratische Weise das Zusammenleben geregelt. Dadurch entstanden stabile Gemeinschaften von Obdachlosen - wie zum Beispiel in dem Barackendorf Hoover City im New Yorker Stadtteil Brooklyn, das Anfang der dreißiger Jahre mindestens 600 Bewohner beherbergte. 1933 kam hier sogar ein Kind zur Welt.

Leben im Palast

Zu den Bewohnern von Hoover City zählten ein arbeitsloser Maschinenbauer namens Blair und der ehemaliger Seemann Lyon. Blair hauste dort in einem ausrangierten Truck. Lyons Unterkunft wurde von den anderen Einwohnern Hoover Citys "Der Palast" genannt: In seiner gut eingerichteten Hütte hatte er sogar einen Linoleumboden verlegt und in seinem Vorgarten wuchs Gemüse.

Die Lage der beiden Männer, deren Erfahrungen 1934 im Rahmen eines Reports der National Social Welfare Assembly dokumentiert wurden, mochte von außen betrachtet hoffnungslos erscheinen: Arbeitslos und veramt waren sie auf der Straße gelandet und lebten nun in Behausungen aus altem Gerümpel. Dennoch schätzen beide das Leben in Hoover City. Für sie herrschte dort, trotz allem, eine Atmosphäre von Zufriedenheit, in der die Bewohner gemeinsam die Depression aussitzen konnten. So boten die Hoovervilles, obwohl sie auf den ersten Blick das Elend in konzentrierter Form präsentierten, auch kleine Fluchten aus dem vollkommenen sozialen Absturz.

Wer keine solche Gemeinschaft fand, musste nicht selten auf Parkbänken, in Hauseingängen oder U-Bahn-Schächten schlafen und tagsüber bettelnd durch die amerikanischen Städte streunen. Vom Glück anscheinend verlassen, versuchten Obdachlose alles, um irgendwie von der Straße zu kommen. Die "New York Times" berichtete im Dezember 1930 von einem jungen Mann, der in seiner Verzweiflung einen Polizisten gebeten hatte, ihn zu verhaften. Ansonsten, so drohte er, sähe er sich gezwungen eine Fensterscheibe einzuschlagen, um in Gewahrsam zu kommen. Der Richter zeigte Mitleid: Die Anklage wurde fallengelassen, und der Jurist verhalf dem jungen Mann sogar zu einem Job.

Das menschliche Gesicht

Solch ein Happy End war die Ausnahme, Solidarität und Mitleid waren es durchaus nicht. Da die meisten Obdachlosen in den Hoovervilles offensichtlich "ohne eigene Schuld verarmt" waren, wie der Bürgermeister von Philadelphia 1930 erklärte, war die öffentliche Meinung bald auf ihrer Seite. Hier lebten nicht nur Taugenichtse, so die Erkenntnis, sondern Mitglieder der Mittelschicht. Jeden konnte die tiefe Depression unerwartet treffen.

Diese Einsicht vor allem löste eine Welle der Solidarität aus. Privatleute, Geschäfte und Restaurants nahmen sich der Obdachlosen an; Suppenküchen wurden ins Leben gerufen. Doch das Problem war bei weitem zu gewaltig, um dadurch gelöst werden zu können. So wurden Forderungen nach staatlicher Hilfe für die Ärmsten der Armen Anfang der dreißiger Jahre zunehmend lauter - und bald unüberhörbar auch für die Politik.

Ein einzelner Politiker wurde in dieser Lage zur Symbolfigur schlechthin für einen helfenden, nicht mehr nur passiven Staat: Franklin D. Roosevelt, seit 1929 demokratischer Gouverneur des Staates New York, machte 1931 mit einem Notprogramm Furore: Seine Administration übernahm die Unterstützung der Arbeitslosen als öffentliche Aufgabe - und erhöhte dafür kurzerhand die Einkommenssteuer um 50 Prozent. Das wirkte - und katapultierte FDR 1932 als Präsident in das Weiße Haus. Der "New Deal", den er den Amerikanern anbot, versprach soziale Sicherheit, Arbeit und eine Zähmung des Raubtierkapitalismus.

In der ersten 100 Tage seiner Amtszeit setzte Roosevelt im Kongress eine Flut von Sozialprogrammen durch. Darunter war auch das "Federal Transient Program, die erste staatliche Organisation zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit in der amerikanischen Geschichte. Mit einem Budget von 15 Millionen Dollar wurden rund 600 Auffanglager für Obdachlose eingerichtet. Mindestens 500.000 Hooverville-Bewohner fanden dort Unterschlupf - nun immerhin mit richtigen Betten und sanitären Einrichtungen. Dank großangelegter öffentlicher Bauprogramme für Brücken, Autobahnen oder Staudämme gab es nun im Rahmen des New Deals auch wieder Arbeit.

"Schlichtweg nicht akzeptabel"

Der New Deal führte Amerika aus der Hoffnungslosigkeit. Doch in den achtziger Jahren geriet die amerikanische Variante des Staatsinterventionismus in die Defensive. Die neue Weltwirtschaftskrise des Jahres 2009 hat die Debatte neu entfacht, denn die Schrecken der frühen dreißiger Jahre drohen Amerika wieder einzuholen. An vielen Orten der USA entstehen derzeit die Hoovervilles des 21. Jahrhunderts. Durch rasant steigende Arbeitslosigkeit und dramatische Zuwachsraten bei Zwangsversteigerungen von Eigenheimen schießen auch die Obdachlosenzahlen wieder erschreckend in die Höhe.

Laut der Nationalen Allianz gegen Obdachlosigkeit leben in den USA wieder eineinhalb Millionen Menschen ohne festen Wohnsitz - und immer mehr von ihnen suchen in Zeltstädten Unterschlupf. Im März 2009 machte Amerikas berühmteste Talkmasterin, Oprah Winfrey, die neuen Hoovervilles zum Medienthema. Präsident Barack Obama sah sich daraufhin gezwungen, in einer Pressekonferenz erstmals auf das Thema einzugehen. Dass in einem reichen Land wie Amerika Familien ohne Dach über dem Kopf hausen müssten, so Obama, sei "schlichtweg nicht akzeptabel".

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