
Rennen zum Obersalzberg "Eine Flasche weniger für die Deutschen"
Nichts hatte geholfen. Weder Hammer noch Dietrich. Jetzt sollte Sprengstoff den französischen Soldaten den Weg frei machen. Mit einer gewaltigen Explosion rissen die Männer um Bernard de Nonancourt eine Lücke in das Tor aus Stahl.
Vorsichtig zwängte sich der Unteroffizier hindurch und betrat einen der geheimnisumwittertsten Orte des "Dritten Reiches": Adolf Hitlers Kehlsteinhaus in über 1800 Metern Höhe nahe Berchtesgaden. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte die NSDAP am 20. April 1939 ihrem "Führer" das knapp 30 Millionen Reichsmark teure Gebäude in luftiger Höhe zu seinem 50. Geburtstag geschenkt.
Jetzt, rund sechs Jahre später, stand der Franzose Nonancourt am 5. Mai 1945 in dem verlassenen Gebäude. Mit dem Licht seiner Taschenlampe drang er immer weiter vor. Plötzlich blieb er vor Ehrfurcht stehen. "Das glaubt ihr nicht!", rief er fassungslos seinen Kameraden zu. Tausende Weinflaschen stapelten sich in dem Raum - eine wertvoller als die andere. "Da stand jeder große Wein, von dem ich je gehört hatte", schwärmte Nonancourt noch Jahre später.
Bordeaux-Weine, Burgunder, Cognacs und Champagner aus den bedeutendsten Kellereien Frankreichs waren hier versammelt: Bollinger, Piper-Heidsieck, Moët. Und auch Salon. Beim Anblick dieses Etiketts überkam Nonancourt die Rührung. Jahre zuvor hatte er in der Champagne als Angestellter einer Kellerei ansehen müssen, wie die Deutschen im Auftrag Hermann Görings diese Flaschen stahlen. Nun waren die Franzosen gekommen, um sie als Sieger wieder nach Hause zu bringen.
Kampf um jede Flasche
Tagelang hatte sich Nonancourts Truppe deshalb ein hartes Rennen mit ihren amerikanischen Verbündeten geliefert. Don und Petie Kladstrup schildern in ihrem Buch "Wein und Krieg" das erbitterte Rennen der Alliierten zum Obersalzberg - basierend unter anderem auf einem Interview mit Bernard de Nonancourt.
Jede Nation wollte in den letzten Tagen des Krieges als erste das mythenumwobene Obersalzberg besetzen, das neben Berlin als zweite Machtzentrale galt. In der Nähe zu Hitlers "Berghof" hatten viele Nazigrößen im sogenannten Führersperrbezirk Residenzen bezogen - Hermann Göring, Martin Bormann oder auch Albert Speer. Geraubte Kunstschätze aus ganz Europa wurden hier vermutet. "Nachdem sie uns angebettelt hatten, sich uns anschließen zu können, verschwanden sie einfach", beschwerte sich ein abgehängter GI über die Franzosen.
Diese waren außerordentlich besorgt, dass sich die Amerikaner bei der Siegesfeier an ihrem Wein vergreifen würden. Der Geheimdienst hatte berichtet, dass zahlreiche gestohlene Flaschen in den Weinkellern der Hitler-Vertrauten in Berchtesgaden gelandet wären. Bereits während der deutschen Besatzungszeit hatten die Franzosen erbittert um jeden einzelnen Tropfen gekämpft.
20.000 Flaschen besten Weins ließ das Pariser Restaurant "La Tour d'Argent" einmauern, um sie vor einer Beschlagnahme zu beschützen. François Taittinger, Chef der gleichnamigen Kellerei, landete im Gefängnis, weil er minderwertigen Champagner an die Invasoren verhökert hatte. Nachts verschwanden ins Reich bestimmte Zugladungen mit alkoholischen Getränken spurlos. Und ein alteingesessener Teppichhändler lieferte Staub an Spitzenrestaurants - dort nämlich bestäubten Kellner Weinflaschen mit billigem Fusel, den sie für horrende Summen an deutsche Offiziere als ehrwürdigen Tropfen ausschenkten. "Noch eine Flasche weniger für die Deutschen", prosteten sich die Franzosen beim Genuss hochwertigen Weins zu.
"Aufgesprittet"
Fast ebenso großes Misstrauen wie den Deutschen brachten die Franzosen den Amerikanern bei der Rückeroberung des Landes entgegen. Ein General erklärte dem britischen Kriegsberichterstatter Wynford Vaughan-Thomas: "Die Amerikaner waren unverzichtbar, aber der weinkundige Historiker wird feststellen, dass sie noch nicht einmal in den Nähe eines einzigen besseren Weinbergs gelassen wurden."
Ihren Ruf als Wein-Banausen hatten die Amerikaner ausreichend bewiesen. Für ein gemeinsames Festessen hatten hohe französische Offiziere 1944 eine Auswahl der erlesensten Jahrgänge des Landes zur Verfügung gestellt. Doch die Amerikaner hatten eine Überraschung parat. "Unser Doc hat das Zeug mit Wundalkohol aus dem Lazarett ordentlich aufgesprittet", verriet ein amerikanischer Oberst. Der ranghöchste französische General kippte das Gesöff im Dienste der Waffenbrüderschaft ergeben hinunter - mit den geflüsterten Worten: "Oh Befreiung, was für Verbrechen in deinem Namen schon begangen wurden!"
Kein Wunder, dass am 4. Mai 1945 französische Soldaten als erste von Berchtesgaden aus die Schönheit der Alpenwelt bestaunten, die auch Adolf Hitler hierher gezogen hatte. Bernard de Nonancourt, der aus einer Champagner-Dynastie stammte, sollte die Ruhe allerdings nicht lange genießen können. "Morgen werden Sie bergsteigen", informierte ihn sein vorgesetzter Offizier - hinauf zum Kehlsteinhaus, dessen in den Fels gehauenen Aufzug die SS irreparabel beschädigt hatte, um dem Feind die Inbesitznahme zu erschweren.
Nach dem Fund des Weinschatzes am nächsten Tag transportierten die Männer mit Krankentragen die zahlreichen Flaschen den Berg hinunter. Außer diejenigen, die die Aufschrift "Reserviert für die Wehrmacht" trugen. Die Soldaten wussten, dass ihre Landsleute in solche Flaschen nur minderwertigste "Brühe" abgefüllt hatten. Mit exzellenten Jahrgängen wurde der Sieg dagegen bereits bei der harten Arbeit begossen - vor allem als die Trikolore auf dem Kehlsteinhaus gehisst wurde.
"Champagnerkorken sausten"
Auf Lastwagen und in Panzern brachten die Soldaten danach den Alkohol in Sicherheit. Schließlich waren am Vortag auch die Amerikaner angekommen - äußerst erzürnt. Bald kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen Franzosen und GIs, die fast in bewaffneten Auseinandersetzungen geendet hätten. "Sie standen unter unserem Befehl und stehen es immer noch!", fuhr der US-General Waide Haislip den französischen Kommandanten Philippe Leclerc an.
Die GIs machten sich während dieses Streits lieber auf die Suche nach Hochprozentigem. Weitere 10.000 Flaschen warteten allein in Görings Weinkeller auf durstige Kehlen. "Das sieht hier aus, als hätte man sich darauf vorbereitet, den Berg durch den Einsatz von Weinflaschen zu verteidigen", amüsierte sich ein amerikanischer Offizier.
In Koffern beförderten die Soldaten die Getränke aus den von alliierten Bombenangriffen zerstörten Häusern: Anschließend begann ein gewaltiges Besäufnis. "Draußen tobte eine wilde Party, Champagnerkorken sausten um den Flaggenmast herum in die Luft", beschrieb die amerikanische Kriegsberichterstatterin Lee Miller die Stimmung. Dramatisch unterlegt von Hitlers Berghof, der in Flammen stand.
"Lauter Besoffene"
Einige Franzosen verloren im Suff am nächsten Morgen völlig die Kontrolle. Sie erschossen einen deutschen Ingenieur, der mit den Alliierten wegen seiner Arbeiter verhandeln wollte. Sein Stellvertreter Heinz Noris holte einen hochrangigen US-Offizier samt Panzer zur Verstärkung. "Dann hat der Offizier den Saustall selber gesehen", berichtete der Deutsche. "Lauter Besoffene, sie haben Bilder rumgeschleift und Weinkeller gesprengt. Dementsprechend sahen sie auch aus."
Mit der Waffe verschaffte sich der Offizier Respekt, so Noris: "Da hat der Amerikaner denen mit dem Maschinengewehr was vor die Füße hingelassen, die sind gehüpft wie die Hasen." So endete die Siegesfeier für die Franzosen zunächst im großen Katzenjammer.
Die Amerikaner veranstalten dagegen drei weitere Tage ein beispielloses Kampftrinken. General Philippe Leclerc war trotzdem zufrieden. Immerhin hatte er mit Hilfe seiner Männer Frankreichs beste Weine gerettet. Ein Untergebener fasste die Stimmung zusammen: "Gott liebt eben die Franzosen."

Don und Petie Kladstrup:
Wein und Krieg
Bordeaux, Champagner und die Schlacht um Frankreichs größten Reichtum.
Klett-Cotta Verlag; 380 Seiten; 24,95 Euro.
