
Ölkrise 1973: Die Autos blieben in der Garage
Autofrei, Spaß dabei Als die Scheichs den Ölhahn zudrehten
An den 25. November 1973 und die folgenden drei Advent-Sonntage erinnern sich die meisten Zeitzeugen mit Nostalgie. "War das schön, mit dem Fahrrad über die Autobahn zu fahren" - im autoversessenen Deutschland ein ganz ungewohntes Bild. Kinder sausten per Kettcar oder auf Rollschuhen über die ganz großen Pisten. An Verkehrsknotenpunkten im Ruhrgebiet, wo sich sonst die Fahrzeuge dauerstauten, flanierten Familien mit Kinderwagen durch die plötzlich abgasfreie Luft. Volksfeststimmung.
Weiter im Süden nahmen Leute auf Langlaufskiern verschneite Fernstraßen, durch Innenstädte trabten Reiter auf ihren Pferden. Ein Bürgermeister in Hessen führte seine Gemeinde zum "Ölspar-Wandertag", der Touristik-Verband Mosel rief zum "Raderlebnis Happy Mosel". Und Loriot versuchte im TV-Sketch, auf einem Fahrrad-Gepäckträger zum SPD-Parteitag in Essen zu trampen (YouTube-Video ).
Oh happy day - was für eine unverhoffte Idylle.
Diese Tage des Glücks verdankten die Bundesdeutschen einem Embargo der Organisation Erdöl exportierender Staaten (Opec). Weil sie ihre Lieferungen drosselten, verordnete die Regierung in Bonn erstmals in der Geschichte ein bundesweites Fahrverbot. Rund 13 Millionen Autobesitzer mussten an vier Sonntagen ihre Wagen stehen lassen. Ausnahmegenehmigungen erhielten fast nur Polizisten und Ärzte.
"Wenn ihr kein Öl liefert, kriegt ihr auch kein Bier"
Für die Wochentage galten Tempolimits von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen, 80 km auf Landstraßen. Sprit zu sparen, wurde Pflicht für alle Bürger. Und die schienen es als Spaß zu empfinden, den Sonntagsausflug statt im Wagen mal zu Fuß oder radelnd zu unternehmen. Auch die Schweiz ordnete wegen Benzinknappheit drei autofreie Sonntage an.
Die Erinnerungen an die Gaudi auf autofreien Autobahnen leben; eher vergessen sind jene an die aufkommenden Sorgen. Politiker und Kommentatoren bangten um das hart erarbeitete Wirtschaftswunder: "Gehen in Europa die Lichter aus?" - "Kommt ein Zeitalter des Mangels?" Begriffe wie "Ölangst", "Ölwaffe" und "Energiekrise" bereicherten die deutsche Sprache. Schlagartig wurde allen bewusst, wie abhängig Westeuropa von Öllieferungen aus dem Nahen Osten war.

Ölkrise 1973: Die Autos blieben in der Garage
Der Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt hatte die Bundesrepublik erreicht. Gleich schürte "Bild" anti-arabische Emotionen. "Die Erpresser, die aus der Wüste kommen", überschrieb die Zeitung eine Serie über die Scheichs im Nahen Osten - und traf die Stimmungslage vieler Deutscher: In Hamburg weigerte sich ein Barkeeper, arabischen Gästen Getränke auszuschenken: "Wenn ihr kein Öl liefert, kriegt ihr auch kein Bier."
Ihre "Erpressung" hatten die Araber am 17. Oktober 1973 gestartet, dem 12. Tag des Jom Kippur Krieges. Als nach Anfangserfolgen die ägyptischen und syrischen Truppen gegen die Israelis einbrachen, beschlossen die zehn arabischen Ölstaaten bei einem Treffen in Kuweit, nach Panzern und Raketen nun ihr Erdöl gegen Israel einzusetzen - gegen alle Staaten, die ihren israelischen Erbfeind unterstützten. Sie entschieden, die Öl-Förderung um monatlich fünf Prozent zu drosseln. So wollten sie den Westen zwingen, Position für die arabische Seite zu beziehen.
Vom "Tankwart Amerikas" zur Schlüsselfigur des Boykotts
Die Opec-Länder taten damit, was ihnen Industriestaaten in West und Ost oft genug vorgemacht hatten: Sie nutzten ein wirtschaftliches Monopol, um ein politisches Ziel zu erreichen. Weil mehr als 60 Prozent der bekannten Erdöl-Vorräte in der arabischen Welt lagen, verfügten sie über ein erschreckendes Drohpotential. Denn das Wirtschaftswachstum der westlichen Welt im Industriezeitalter basierte auf Öl als Energiequelle.
Saudi-Arabien als wichtigster Lieferant produzierte damals täglich 8,3 Millionen Barrel (ein Barrel umfasst 159 Liter). Man ging davon aus, dass der konservative Wüstenstaat seine Produktion bis 1980 auf 20 Millionen Barrel steigern würde, um den rasch steigenden Ölbedarf der Volkswirtschaften Westeuropas, Japans und der USA zu decken. Sein Land werde "die Welt geradezu mit Öl überschwemmen", hatte Ölminister Ahmed Zaki Jamani 1972 verkündet.
Im Kalten Krieg galt Saudi-Arabien als zuverlässiger Freund des Westens. Anders als arabische Linke und radikale Nationalisten hielt der damalige König Feisal nichts von der Idee, durch Exportstopp oder eine gedrosselte Förderung "Öl als Waffe gegen den Imperialismus und gegen Israel" einzusetzen. An dem fanatischen Antikommunisten waren alle Boykottbemühungen gescheitert.
Doch im Herbst 1973 wandelte sich Feisal vom "Tankwart Amerikas" zur Schlüsselfigur im arabischen Ölkrieg gegen den Westen, erbost von der Lieferung amerikanischer Kampfflugzeuge vom Typ Phantom an Israel und zugleich beeindruckt von der panarabischen Begeisterung zum Beginn des Jom-Kippur-Krieges. Der Feudalherr verbrüderte sich mit Sozialisten wie dem Algerier Boumedienne oder auch dem libyschen Obristen Gaddafi. Nun unterstützte Feisal einen Ölboykott gegen den Westen.
Kurzarbeit und Entlassungen
Die Araber drehten am Hahn nach der Logik: Je weniger Öl gefördert wird, desto weniger kann gekauft werden. Und je weniger Öl es zu kaufen gibt, desto teurer wird es. Der Zeitpunkt war exzellent: In Europa stand der Winter vor der Tür. Prompt verbuchte die arabische Einheitsfront aus Scheichtümern und Militärdiktaturen ihren ersten Sieg: Anfang November forderten die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft (EG) Israel auf, die seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzten Gebiete zu räumen.
Westeuropa reagierte so auf einen verheerenden Einsturz der Konjunktur als Folge der Ölkrise. Die Bundesrepublik bezog damals drei Viertel ihrer Rohöleinfuhren aus arabischen Ländern und war besonders stark betroffen. So stieg 1973 der Preis von leichtem Heizöl von 12 auf 70 Pfennig pro Liter. Für Erdölimporte musste das Land 1974 knapp 23 Milliarden ausgeben - über 150 Prozent mehr als 1973. Firmen waren gezwungen, ihre Produktion einzuschränken; sie sank in der Autoindustrie um 18 Prozent.
Kurzarbeit und Entlassungen waren die Folge. 1973 waren in der Bundesrepublik noch 230.000 Menschen arbeitslos, zwei Jahre später schon mehr als eine Million. Zügig erlaubte der Bundestag Sofortmaßnahmen per Energiesicherungs-Gesetz. Am 19. November 1973 ordnete die Regierung die spritsparenden Sonntagsfahrverbote und Tempolimits an.
Recht auf Raserei
Das wurde vier Monate wieder aufgehoben. Zu nachhaltigen Veränderungen führte indes die Suche nach alternativen Energiequellen wie Wind- und Solarenergie, vor allem aber Atomkraft. Noch im Dezember 1973 verabschiedete die Bundesregierung ein Sechs-Milliarden-Programm, um nicht weniger als 40 Kernkraftwerke zu planen und zu bauen.
Zugleich intensivierten Briten und Norweger den Bau von Bohrinseln zur Ölförderung aus dem Boden der Nordsee. Ebenso begann die Diskussion um die (erst 1980 verwirklichte) Uhren-Umstellung im Frühling und Herbst, um das Tageslicht optimal zu nutzen und Energie zu sparen.
Seitdem hat sich das Gesamtbild drastisch verändert. So wurden 2017 in Deutschland schon über 16 Prozent des Stromes aus Windenergie gewonnen; alle erneuerbaren Energiequellen zusammen erreichten einen Anteil von 38 Prozent am Strommix. Als Energiequelle ist Öl noch immer dominant, kommt aber inzwischen vor allem aus Russland (fast 40 Prozent), gefolgt von Norwegen und anderen EU-Ländern. Der einstige Hauptlieferant Saudi-Arabien liegt noch hinter neuen Partnern wie Kasachstan und Aserbaidschan.
Was immer wieder aufflackert seit den vier autofreien Sonntagen vor 45 Jahren: die Diskussion um Tempolimits und Fahrverbote. Doch vielen Deutschen gilt die unbegrenzte Raserei auf Autobahnen als das, was viele Amerikaner im Waffenbesitz sehen - ein unantastbares Bürgerrecht. Diese Ruhe auf den Straßen, wie Deutschland sie am 25. November 1973 genoss, sie wird sich kaum wiederholen.