
Österreichs Nazi-Stollen: Ungeliebtes Erbe
Österreichs unterirdisches Nazi-Erbe Codename "Bergkristall"
Es ist ein schöner Frühlingstag Anfang Mai 2002. Die Villacher Psychotherapeutin Vera Fritz will im Garten die Sonne genießen. Doch ihre Rottweilerhündin Yucca bellt und bellt. Fritz ist genervt - sie geht ins Haus. Kurze Zeit später schaut sie noch einmal aus dem Fenster in den Garten. Und glaubt kaum, was sie sieht: Wo sie eben noch gestanden hatte, klafft nun ein großes Loch, ein Krater von drei Metern Durchmesser, zweieinhalb Meter tief. Die österreichische "Kleine Zeitung" wird daraufhin den lebensrettenden Instinkt der Hündin Yucca bejubeln. Das Loch allein ist längst keine Sensation mehr.
Wirklich überrascht sein konnte von diesem Vorfall in Österreich niemand. Immer wieder waren in der Vergangenheit Büsche und Bäume im Untergrund verschwunden, klafften in Straßen plötzlich große Löcher. Einmal, das war schon in den Fünfzigerjahren, versank ein Pferd mit den Hinterläufen in einem Feld. Wenn es zu solchen Ereignissen kam, informierten die Grundstückseigentümer die Polizei. Viel mehr passierte nicht. Sie füllten das Loch einfach wieder zu.
Mit bemerkenswerter Gelassenheit nahmen die Österreicher die verblüffende Doppelbödigkeit ihrer idyllischen Landschaft über Jahrzehnte hinweg in Kauf. "Verdrängt und totgeschwiegen", so beschreibt der Historiker Johannes Sachslehner den Umgang seiner Landsleute mit diesem prekären unterirdischen Erbe. Der brüchige Boden vielerorts ist eine Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus - und sie wird die Alpenrepublik noch auf unbestimmte Zeit beschäftigen. Endlos erscheinende Gänge, verborgene Räume, ganze Hallen - Dutzende Kilometer Stollen und Tunnel durchziehen das Land seit dieser Zeit. Wo genau, das ist zum Teil bis heute unbekannt. Spät erst begann man, sich überhaupt dafür zu interessieren.

Österreichs Nazi-Stollen: Ungeliebtes Erbe
Geheimprojekte untertage
Sachslehner nennt es eine "Architektur der Angst", die "vielfach nur wenigen Eingeweihten bekannt" gewesen sei. Wie war das möglich? Die unterirdische Bautätigkeit des NS-Regimes unter Leitung der SS hatte kurz vor ihrem Ende wahnwitzige Ausmaße angenommen. Etwa unter dem von Hitler zur "Führerstadt" erkorenen Linz, wo in Zeiten von Luftangriffen Zehntausende Menschen unter der Erde verschwinden sollten. Wegen seiner kriegswichtigen Industriebetriebe war Linz ein vorrangiges Angriffsziel alliierter Bomberverbände.
Doch die Arbeiten im Untergrund dienten nicht allein der Sicherheit der Zivilbevölkerung. Die Nationalsozialisten wollten ganze Rüstungsbetriebe untertage verlagern, etwa die Wiener Neustädter Flugzeugwerke oder die Salzburger Eugen-Grill-Werke. Neuer Standort für die Raketenversuchsanstalt Peenemünde sollte eine Stollenanlage bei Ebensee im Salzkammergut werden. Als sich die Raketenentwicklung verzögerte, meldeten die Steyr-Daimler-Puch-Werke Bedarf an. Treibstoff, Panzergetriebe, Motoren - all das sollte im Verborgenen produziert werden. Das größte NS-Bauwerk auf österreichischem Territorium aber war das Stollenlabyrinth in St. Georgen an der Gusen, unter der Hügellandschaft des unteren Mühlviertels. Unter dem Codenamen "Bergkristall" entstand, gut 100 Kilometer nordöstlich von Salzburg, eine geheime Fabrik für den Messerschmitt-Düsenjäger Me 262.
Für die KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, die an den Mammutbauten mitwirken mussten, war es die Hölle; viele überlebten nicht. Von den circa 60.000 bis 70.000 Arbeitern, die nach Schätzungen Sachslehners dafür auf dem Gebiet des heutigen Österreichs eingesetzt waren, kamen rund 10.000 bei dem Projekt in Sankt Georgen ums Leben, weitere 5000 beim Bau der Stollenanlage "Quarz" bei Melk, unter anderem Standort eines Kugellagerwerks.
In taghell erleuchteten unterirdischen Hallen war die Produktion gegen Kriegsende angelaufen. Als die Reichshauptstadt am 2. Mai 1945 kapitulierte, schufteten die Arbeitskommandos in den Stollen noch immer für den "Endsieg" - bis sich am Morgen des 5. Mai rund zehntausend Männer im KZ Ebensee dem Befehl der SS widersetzten und sich weigerten, in den Stollen zu gehen. Einen Tag später befreiten amerikanische Truppen das Lager.
Rechnung an das "Dritte Reich"
Montagestrecken, die bereits installiert waren, wurden nach dem Krieg von den alliierten Siegermächten demontiert. Die Stollenanlagen zählten zum Finanzvermögen des "Dritten Reichs", das die jeweilige Besatzungsmacht für sich beanspruchen konnte. Die wiedererstandene Republik Österreich sah sich in den ersten Jahren nach Kriegsende als Verwalter der Stollenräume. Sie gab bei Interesse Mietverträge aus, die es Bürgern erlaubten, diese für die Lagerung von Gütern oder das Züchten von Champignons zu nutzen. Und sie kümmerte sich um Sicherungsmaßnahmen, wenn es zu Stolleneinbrüchen kam. Mit der Zeit jedoch waren die Kosten dafür beträchtlich.
1948 änderte sie daher ihre Position: Die Bundesverwaltung fühlte sich für Schäden nicht verantwortlich, es bestehe keine Rechtsnachfolge, so die spitzfindige Begründung. Bei den Bauten habe es sich um "hoheitliche Eingriffe" des "Dritten Reichs" gehandelt. Für zivile Luftschutzbauten, wie es sie fast unter jedem Ort gab, sah sich der Bund ohnehin nicht zuständig und verwies auf die jeweiligen Gemeinden. Doch auch die Kommunen wiesen die Zuständigkeit von sich: Sie hätten zwar die Bauausführung geleitet, dies aber im Auftrag des Bauherrn, des "Dritten Reichs". Die Rechnungen, so fand Historiker Sachslehner heraus, gingen an den NS-Staat; beglichen hat dieser sie aber nicht immer. In mindestens einem Fall war eine Baufirma mit dem Versprechen abgespeist worden: "Bezahlung erfolgt nach dem Endsieg!"
Die Haltung bezüglich der NS-Hinterlassenschaften änderte sich auch nicht, als Österreich 1955 völkerrechtlich ein freies Land wurde. Mit dem österreichischen Staatsvertrag verzichteten die Alliierten auf das sogenannte Deutsche Eigentum und übertrugen die Vermögensrechte auf die Alpenrepublik. In den folgenden vier Jahrzehnten aber nahm niemand den Staat in die Pflicht.
Vielleicht war die geänderte Zuständigkeit in der Bevölkerung kaum bekannt. Womöglich aber, so vermutet Sachslehner, wollte auch niemand an den alten Zeiten rühren - gerade mit Blick auf die Verquickung der Interessen noch bestehender österreichischer Unternehmen mit dem damaligen Regime. "Es ist wohl kein Zufall", schrieb Sachslehner 2013 in seinem Buch über die geheimen, unterirdischen NS-Projekte, "dass die österreichische Gesellschaft lange Zeit die Begegnung mit diesen Orten scheute und selbst die Republik absolut nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Es hätte sich nicht vertragen mit der Lüge, auf der man den neuen Staat erbaute." Der Blick auf die Stollen erinnere daran, "dass Österreich keinesfalls hilfloses 'Opfer' des NS-Regimes war, sondern dessen Anhänger die Herrschaft des 'Führers' herbeisehnten und herbeibombten, die Aufnahme ins 'Tausendjährige Reich' begeistert feierten und im Gefolge der neuen Herren zu skrupellosen Mördern und Henkern wurden."
150 Stollen ermittelt
Erst als 1997 ein privater Grundstückseigentümer den Stollen unter seinem Land als sein Eigentum einklagen wollte, damit scheiterte und daraufhin dessen Beseitigung forderte, deutete sich die landesweite Dimension des Problems an. Um die Jahrtausendwende häuften sich Meldungen von Einstürzen im Raum Innsbruck. Die Nationalsozialisten hatten beabsichtigt, die Stadt in den letzten beiden Kriegsjahren noch mit mehr als 11.000 Metern Luftschutzbauten zu unterhöhlen - knapp 9000 Meter waren bis Kriegsende geschafft. Wegen Zement- und Eisenmangels wurde zuletzt nur provisorisch mit Holz verbaut, mit den Jahren wurde es morsch und brüchig. Daher drohten nun, um 2000, weitere Einbrüche; die Stadt machte Druck.
Unterirdisches Österreich: Vergessene Stollen - Geheime Projekte
2001, nach einer entsprechenden Gesetzesänderung, wurde das ungeliebte Erbe schließlich an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) übertragen. Die allerdings musste erst einmal herausfinden, wofür genau sie überhaupt zuständig war: Es gab keine zentrale Stelle, an der die Baupläne je erfasst worden waren. Fanden sich überhaupt Pläne, stimmte die Projektierung nicht unbedingt mit der Realität überein und auch die Angaben von Zeitzeugen waren nach sechs Jahrzehnten nicht immer exakt. Rund 150 Stollen hatte die BIG zeitweise in ihrem Bestand. Sachslehner zitiert einen Mitarbeiter, der seine Arbeit mit der nach einem Flugzeugabsturz verglich: Überall Verletzte, aber noch war nichts über den Grad der Verletzungen bekannt - und völlig unklar, worum man sich als Erstes kümmern musste. Bis heute räumt die BIG an der Unglücksstelle auf.