
Weltkriegs-Fotofund: Was für ein Theater
Weltkriegs-Fotofund Sport und Kunst im Nazi-Lager
Die polnischen Häftlinge haben sich verkleidet. Sie tragen phantasievolle Uniformen mit prunkvoll-filigranen Orden, Schnauzbart und Kneifer. Andere haben sich in wallende Frauenkleider gezwängt, die Wimpern getuscht, die Haare stecken unter einer blonden Perücke. Sie lachen und tanzen auf einer Bühne. Vor ihnen im Orchestergraben sitzen Mitgefangene, Männer mit Violinen, Flöten und Trompeten, konzentriert und gut gelaunt in ihr Spiel vertieft.
Es sind Szenen aus dem Lageralltag im nationalsozialistischen Deutschland. Sie zeigen eine Haftanstalt in Murnau, Oberbayern, während des Zweiten Weltkrieges.
Die Bilder wollen nicht recht passen in die Vorstellung von Lagern der Nazis, die unweigerlich an Zwangsarbeit und Vernichtung denken lassen. Und tatsächlich klangen die Berichte von Theater spielenden Gefangenen, von Bibliotheken, Ausstellungen, Sportveranstaltungen und akademischen Vorlesungen hinter Stacheldraht und Gefängnismauern unglaubwürdig. Selbst dann noch, als der Krieg längst aus war, die Gefangenen in ihre Heimat zurückgekehrt waren und die Erzählungen über das angeblich so reiche Kulturleben im Lager aus ihrem eigenen Mund kamen.
In Deutschland weiß man noch immer wenig über die Lebensumstände kriegsgefangener Polen in den sogenannten Oflags, den deutschen Gefangenenlagern für Offiziere. Die Sprachbarriere ist ein Grund dafür. Memoiren ehemaliger polnischer Häftlinge erschienen in den vergangenen Jahren meist nur auf Polnisch. Mit Fotografien ist das anders. Und dennoch hat es mehr als zehn Jahre gedauert, bevor eine größere Öffentlichkeit im oberbayerischen Murnau von dem Fund eines ungewöhnlichen Bilderkonvoluts im Süden Frankreichs erfuhr. Erstaunlich umfänglich dokumentiert es jene Vorgänge, die sich während und kurz nach Ende der Nazi-Herrschaft im Oflag VII-A, wie das Offizierslager unweit des Staffelsees am Fuße der Alpen offiziell hieß, ereignet haben.
Eine Holzkiste im Müll
In einer Winternacht des Jahres 1999 war der damals 19-jährige Olivier Rempfer aus der südostfranzösischen Kleinstadt Cagnes-sur-Mer gerade auf dem Heimweg von einem Abend mit Freunden, als sein Blick auf eine Holzkiste fiel. Die Box lag auf einem Müllcontainer in einer Straße des Nachbarortes Saint-Laurent-du-Var. Er öffnete sie neugierig und entdeckte darin eine Menge in Papier eingerollter zylinderförmiger Gegenstände.

Weltkriegs-Fotofund: Was für ein Theater
Erst zu Hause wickelte er sie aus und stellte fest, dass es sich um Rollfilme handelte, schwarzweiß, 35-mm-Kleinbild. Er hielt die Filmstreifen gegen das Licht - und sah Uniformen, Baracken, Wachtürme und verkleidete Männer auf einer Bühne. Zunächst glaubte er, die Fotos seien während der Dreharbeiten zu einem Kriegsfilm entstanden, die Menschen darauf Schauspieler. Olivier legte die Schachtel beiseite und vergaß sie, bis sie Jahre später seinem Vater, einem Fotografen, in die Hände fiel.
Alain Rempfer wusste nicht, was auf den Negativen zu sehen war - bis er sich im Jahr 2003 einen Filmscanner kaufte und schließlich Zeit fand, sich genauer mit den rund 300 Aufnahmen zu beschäftigen. "Ich erkannte schnell", erzählt der heute 64-Jährige, "dass es sich um echte historische Fotos handelte, aufgenommen während des Krieges in einem Gefangenenlager. Auf dem Rand der Filme stand die Marke 'Voigtländer', ich kannte den Namen zwar nicht von Filmen, wusste aber, dass Voigtländer ein deutscher Kamerahersteller war."
"Die jungen Männer schauten uns an"
Rempfer suchte nach einem Anhaltspunkt dafür, wo die Bilder entstanden sein könnten. An der Heckklappe eines Lkw, auf dessen Ladefläche mehrere Männer saßen, waren in weißer Schrift "PW CAMP MURNAU" und die Buchstaben PL zu lesen. Rempfer fand heraus, dass es im deutschen Murnau von 1939 bis 1945 ein Kriegsgefangenenlager gab, in dem polnische Offiziere festgehalten wurden.
Vater und Sohn sahen sich die Bilder genauer an - und waren fasziniert: "All diese jungen Männer schauten uns durch die Kamera direkt an, während sie in diesem Lager lebten", so Alain Rempfer, "und wir wissen nicht, wie sie heißen, wie ihr Alltag im Camp war, wissen nichts über ihre Hoffnungen, ihre Gefühle." Seltsam sei das gewesen, als fehle der Ton, als hätte man einen Stummfilm vor sich.
"Oliver und ich überlegten, ob wir die Bilder einem Museum oder einer Bibliothek geben sollten. Aber wir waren nicht sicher, ob sie dann nicht wieder für Jahre vergessen würden." Eine Website, so fanden sie, sei der beste Weg, um sie Menschen in aller Welt zu zeigen. Jenen, die daran interessiert sein könnten, und vor allem den Angehörigen ehemaliger Häftlinge, die Informationen suchten oder jemanden auf den Bildern erkannten.
"Ein übersehenes Kapitel der Zeitgeschichte"
Und tatsächlich meldeten sich viele Familien ehemaliger polnischer Kriegsgefangener, die heute in den USA, Australien, Kanada oder England leben. "Einige von ihnen haben auf den Bildern ihren Vater, Großvater oder Onkel erkannt", sagt Alain Rempfer. Die ehemaligen Häftlinge seien nach ihrer Befreiung sehr diskret bezüglich ihrer Jahre in Gefangenschaft gewesen, hätten die Erinnerungen für sich behalten. Erst jetzt würden ihre Familien entdecken, wie das Leben während dieser schwierigen Zeit gewesen sei.
Den Fotografen zu finden, sagt Rempfer, hätten sie allerdings nie versucht. "Diese Aufgabe erschien uns zu schwierig. Wir dachten, am ehesten würde die Website dabei helfen - aber bis heute war das noch nicht der Fall."
Auch in Murnau sammelt man seit Jahren Informationen über das Lager. Doch überregionale Publikationen gibt es kaum. Unter dem Titel "Gefangene Polen in deutschen Offizierslagern - ein übersehenes Kapitel der Zeitgeschichte" erschien 1980 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Aufsatz des deutschen Historikers Alfred Schickel. Der Publizist wurde unter anderem vom SPIEGEL aufgrund späterer Veröffentlichungen ab Mitte der achtziger Jahre dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet. In dem Artikel beklagte er das mangelnde Interesse der "Historiker hierzulande oder anderswo im Westen" bezüglich des Schicksals der rund 18.000 polnischen Insassen.
"Vorzeigelager"
Von den insgesamt zwölf Offizierslagern war Murnau jenes mit den ranghöchsten Insassen. Dazu gehörten unter anderen der Chef der polnischen Flotte, Admiral Józef Unrug, sowie General Juliusz Rómmel, unter dessen Führung 1939 Warschau verteidigt worden war.
"Die Behandlung der Inhaftierten war gut - jedenfalls so weit man das unter diesen Umständen sagen kann", so die Einschätzung von Marion Hruschka, die sich als Vorsitzende des Historischen Vereins Murnau seit mehreren Jahren mit dem Oflag befasst und dazu bereits eine Ausstellung organisierte. Das Gefängnis sei als eine Art "Vorzeigelager" geführt worden und "wurde regelmäßig vom Internationalen Roten Kreuz visitiert". Die Deutschen wollten damit den Eindruck vermitteln, dass sie sich an das Völkerrecht und die Genfer Konventionen hielten.
Bekannt sei allerdings auch, sagt Marion Hruschka, dass es in mehreren Fällen zu Erschießungen kam. Die korrekte Behandlung endete zudem dort, wo die geheuchelte Menschlichkeit mit der Rassenideologie der Nazis kollidierte: Jüdisch-polnische Offiziere wurden getrennt von ihren Mitgefangenen in einem Lager-Ghetto festgehalten. Mehr als 5000 Insassen zählte das Lager insgesamt.
Doch wie sind die Bilder aus dem Lager nach Frankreich gelangt? In den letzten Tagen des Krieges seien noch mehrere hundert Alliierte nach Murnau gebracht worden, sagt Marion Hruschka, darunter auch Franzosen. Lag hier die Verbindung? Es wäre eine Möglichkeit. Allerdings nicht die einzige. Denkbar sei auch, dass es einen polnischen Offizier nach dem Krieg nach Frankreich verschlagen habe.
Wer durfte fotografieren?
So wenig, wie bislang klar ist, wer die Filme aus dem Lager gebracht hat, so wenig lässt sich sagen, ob die Aufnahmen, die neben dem Haftalltag auch die Befreiung des Lagers durch die amerikanischen Truppen und das zerbombte München zeigen, von einem oder mehreren Fotografen stammen.
Der Wert des Bilderfunds aber ist unumstritten: "So viele Fotografien zu sehen, das hat mich verblüfft", sagt die Lokal-Historikerin Hruschka über die Entdeckung in Frankreich, über die kürzlich der "Münchner Merkur" berichtete. "Ich bin bislang immer davon ausgegangen, dass nur Deutsche im Lager fotografieren durften." Diese Aussage würde sie nun revidieren.
Es sei bekannt, dass es im Lager einen deutschen Fotografen gab. Seine - zensierten - Bilder waren als Postkarten gedruckt und von den Gefangenen verschickt worden. Meist waren es Aufnahmen von Theatervorführungen oder Sportveranstaltungen, einige davon sind in Murnau archiviert. Doch dass es sich bei den in Frankreich gefundenen Bildern um Filme des deutschen Fotografen handelt, glaubt Hruschka nicht. Bei der Befreiung des Lagers, ist sie überzeugt, habe ganz sicher kein Deutscher mit einer Kamera daneben gestanden.