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Kunst bei Olympia: Zeichnen statt Laufen

Olympische Kunstwettbewerbe An die Pinsel, fertig, los!

Sie waren die unsportlichsten Wettkämpfer der Olympia-Geschichte: 1912 rangen erstmals auch Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter um olympisches Gold. Die Idee dafür kam vom Olympia-Organisator Pierre de Coubertin - der sich prompt selbst eine Goldmedaille ertrickste.

Der Gang zum Siegertreppchen war für den Mann mit dem buschigen Schnäuzer eine Enttäuschung: Walter Winans, der zwölffache englische Meister im Pistolenschießen, musste sich an diesem Julitag 1912 mit der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Stockholm zufriedengeben - und das in seiner Parade-Disziplin: dem Schießwettbewerb "Laufender Hirsch". Vier Jahre zuvor, 1908 in London, hatte Winans noch souverän im Einzel Gold geholt. Doch nun hatte der Amerikaner die US-Mannschaft angeführt und musste sich im Wettschießen den Schweden geschlagen geben. Trotzdem sollte Winans die Spiele nicht ohne Goldmedaille verlassen. Denn der Olympionike triumphierte in einer anderen Disziplin: der Bildhauerei.

Winans hatte vor den Spielen bei der Jury eine Plastik mit dem Namen "Ein amerikanischer Traber" eingereicht. Damit war er einer von 35 Künstlern, die bei Olympia angetreten waren - eine kleine Revolution: Außer für sportliche Leistungen wurden 1912 erstmals auch Urheber von Kunstwerken mit Medaillen ausgezeichnet. Dem mittlerweile in Vergessenheit geratenen Pistolenschützen und Bildhauer Winans gelang 1912 sogar ein erstaunlicher Rekord: Als erster und bis heute einziger Teilnehmer gewann er olympisches Gold sowohl für eine sportliche als auch für eine künstlerische Leistung.

Was aus heutiger Sicht wie ein Witz klingt, war völlig ernstgemeint: Kunst war olympisch. Auf den Siegertreppchen in den Stadien erhielten Dichter und Komponisten, Maler, Architekten und Bildhauer zwischen 1912 und 1948 Medaillen. Gold, Silber und Bronze gab es etwa für Gedichte, Stadionentwürfe, Gemälde und Marschmusiken. Bei sieben Olympischen Spielen wurden auf 18 Gebieten insgesamt 66 Kunstwettbewerbe ausgetragen, darunter waren so ausgefallene Kategorien wie Reliefkunst, Gebrauchsgrafik und Medaillenkunst. Diesem Kapitel der Olympia-Geschichte hat die Filmemacherin Alexa Oona Schulz nun die Dokumentation "Feuer und Flamme für die Kunst - Die Geschichte der Olympischen Kunstwettbewerbe von 1912 bis 1948"" gewidmet.

Die Kunstwettbewerbe waren demnach durchaus nicht als skurriles Beiwerk gedacht, sondern sollten fester Bestandteil des Sport-Spektakels sein. So hatte es sich jedenfalls der Erfinder des modernen Olympia gedacht: der adlige Reformpädagoge Pierre de Coubertin, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Als der Franzose 1896 die ersten Olympischen Spiele seit der Antike veranstaltete, strebte er die gleichberechtigte Beteiligung von Sportlern und Künstlern an. Sein Ideal: die Einheit von Körper und Geist. Daher wurden die Kunstwettbewerbe auf Coubertins Betreiben hin 1906 beschlossen, 1912 eingeführt - und drohten sofort zu floppen.

"Das gibt Krieg"

Denn das Komitee um Coubertin, der das IOC wie ein Alleinherrscher regierte, bestand vorwiegend aus gebildeten Adeligen und schöngeistigen Generälen - so dass keiner der Organisatoren in Betracht zog, dass Kunstwettbewerbe möglicherweise kaum jemanden interessieren würden. Für das Kollegium zählte allein, dass schon beim antiken Vorbild der Sportwettkämpfe auch Sänger, Schauspieler, Tänzer und Maler beteiligt waren. Bei den Wettbewerben galt daher auch nur eine Regel für eingereichte Werke: Sie mussten vom Sport inspiriert sein. An Teilnehmern würde es unter diesen Umständen nicht mangeln, da waren sich Coubertin und seine Mitstreiter sicher.

Nur eines hatten sie nicht bedacht: dass die Künstler selbst die Wettkämpfe boykottieren könnten.

Längst stand Stockholm als Ausrichter der Wettkämpfe des Jahres 1912 fest, da regte sich heftiger Widerstand gegen die Kunstwettbewerbe. In der Dokumentation "Feuer und Flamme für die Kunst" wird dieser Konflikt rekonstruiert: Die schwedischen Künstler fanden es "ganz und gar unmöglich, sich der Bewertung einer Jury zu unterziehen", schrieb das ausrichtende Olympische Komitee an Coubertin, sie lehnten die Wettbewerbe daher kategorisch ab. Coubertin tobte: "Das gibt Krieg", antwortete er brüsk - und erreichte so tatsächlich sein Ziel. "Wir akzeptieren", telegrafierte das schwedische Komitee wiederum ans IOC, nachdem Coubertin wochenlang Druck gemacht hatte. Er hatte zwar erreicht, was er wollte, doch das Interesse an den ersten fünf ausgeschriebenen Kunstwettbewerben war mickrig. So mickrig, dass der Franzose die Teilnehmerzahl auf seine Art erhöhte.

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Kunst bei Olympia: Zeichnen statt Laufen

Kurz vor den Spielen in Stockholm tauchte das Gedicht "Ode an den Sport" des deutschen Autorenduos Georges Hohrod und Martin Eschbach bei den Organisatoren auf. Zwar existierte offiziell eine Jury, de facto entschied jedoch Coubertin selbst über die Platzierungen - und in diesem Fall drängte er darauf, den Text der bis dato unbekannten Deutschen als Sieger zu bestimmen. Die hörige Jury stimmte brav zu. Erst später sollte sich Coubertins Intervention als dreister Coup erweisen: Er hatte das Gedicht unter dem Doppel-Pseudonym eingereicht - und sich so selbst olympisches Gold verliehen.

"Nun gilt nicht mehr, dass Kunst abgehoben ist"

Auch manch anderer Wettbewerb nahm bald groteske Züge an: In der Kategorie "Musik" erhielt ein völlig unbekannter Franzose die Goldmedaille für eine Hymne, die kein einziges Mal gespielt wurde. Bei den nachfolgenden Olympischen Spielen sah es ähnlich aus, außerdem stieg das Interesse an den Kunstkonkurrenzen bis 1924 kaum an: In vielen Wettbewerben konnten mangels Bewerbern noch nicht einmal Silber- und Bronzemedaillen vergeben werden.

Erst 1928, bei den Spielen in Amsterdam, erreichten die Wettbewerbe wie auf Absprache ein ungeahnt hohes Niveau: So viele Stilrichtungen wie nie zuvor waren vertreten, vor allem Europas Künstleravantgarde schien plötzlich Olympia für sich entdeckt zu haben. Vier Jahre später erreichte das Interesse schließlich seinen Höhepunkt: 1100 Werke aus 31 Ländern waren 1932 nach Los Angeles geschickt worden, wo die Gemälde, Plastiken und Grafiken in einer riesigen Halle neben dem Olympiastadion ausgestellt wurden. 15.000 Menschen strömten in die Kunstsammlung - täglich. Alle großen Zeitungen berichteten über die Werke, die "Los Angeles Times" etwa jubelte: "Nun gilt nicht mehr, dass Kunst abgehoben ist und keinen Eingang in die breite Masse findet."

Coubertin hatte sein Ziel erreicht. Doch dann kam Olympia 1936 in Berlin.

Schon die Eröffnung der Olympischen Kunstausstellung am 15. Juli 1936 stand unter schlechten Vorzeichen: Einziger Redner war Joseph Goebbels, der auch in der Folge die Kunstwettbewerbe dominierte - denn sein Propagandaministerium war für die Organisation zuständig. Entsprechend besetzte er den Kunstausschuss: Dort saßen neben internationalen Vertretern auch der spätere Kulturkammer-Chef Adolf Ziegler und NS-Werbezeichner Hans Herbert Schweitzer. Die beiden sollten bald darauf beginnen, deutsche Museen in großem Stil von "entarteter Kunst" zu säubern. Doch dem einschlägig besetzten Gremium gefielen viele der eingereichten Arbeiten deutscher Bewerber nicht. Wie sollten die dort sitzenden Nazis unter diesen Umständen dafür sorgen, dass sich die Überlegenheit der "Herrenrasse" im Medaillenspiegel niederschlug? Goebbels half nach.

Medaillen-Rekord für Nazi-Kunst

Kurzerhand mussten die regimetreuen Kunstexperten Arno Breker und Werner March ihre Sitze in Bewertungsausschüssen räumen und selbst bei den Wettbewerben antreten. Das Konzept ging auf: Architekt March gewann für seinen Entwurf des Reichssportfeldes inklusive Stadion Gold, Hitlers Hofbildhauer Arno Breker erhielt für seinen Bronze-Hünen "Der Zehnkämpfer" eine Silbermedaille. Und auch in den anderen Wettbewerben machten die Nazis ihren großen Einfluss in der international besetzten Jury geltend: Fünf von insgesamt neun Goldmedaillen gingen an deutsche Künstler, insgesamt sammelten sie in den Kunstwettbewerben 13 Medaillen: einsamer Rekord.

Trotzdem war Goebbels nicht zufrieden. Nur 70.000 Besucher sahen seine Kunstausstellung, der erhoffte Propaganda-Effekt verpuffte. So hatten zwar Zehntausende im Olympiastadion dem populären US-Leichtathleten Jesse Owens zugejubelt, die anschließende Siegerehrung der Literaten fand hingegen vor einer Geisterkulisse statt. Kaum hatten die Kunstwettbewerbe an Popularität gewonnen, waren sie somit schon wieder zur Randerscheinung verkommen. Olympia-Erfinder Pierre de Coubertin sollte das nahende Ende seiner Idee nicht mehr erleben: Er starb ein Jahr nach den Spielen von Berlin.

Als 1948 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Olympischen Spiele stattfanden, interessierten die Kunstwettbewerbe längst niemanden mehr. Noch einmal reichten Künstler ihre Entwürfe ein, noch einmal debattierten die Juroren, noch einmal gab es Medaillen vor leeren Rängen. Ein Jahr später ersetzte das IOC die unrentablen Kunstwettbewerbe durch "begleitende Ausstellungen". Die offizielle Begründung: Künstler seien als Berufsprofis ohnehin nicht teilnahmeberechtigt bei Olympia. Coubertins Ideal der Einheit von Körper und Geist hatte ihn nur um zwölf Jahre überlebt.

Zum Weitersehen:

Alexa Oona Schulz: "Feuer und Flamme für die Kunst - Die Geschichte der Olympischen Kunstwettbewerbe von 1912 bis 1948". Absolut Medien (Alive), 2012.

Die DVD erhalten Sie bei Amazon .

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