Fotostrecke

Trümmerdorf Oradour-sur-Glane: Spuren eines SS-Massakers

Foto: Martin Graf

Massaker im Zweiten Weltkrieg Der Tag, an dem die Zeit stehen blieb

Für Frankreich war es ein Trauma, in Deutschland hörte kaum jemand davon: Am 10. Juni 1944 löschten deutsche Soldaten das Dorf Oradour-sur-Glane aus. 642 Menschen starben. Bis heute blieb der Ort, wie ihn die SS verlassen hatte.
Zur Autorin

Andrea Erkenbrecher, Jahrgang 1978, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Alten Geschichte, Sozialpsychologie in München und Bordeaux. Freie Historikerin u.a. beim Max Mannheimer Studienzentrum Dachau und Sachverständige bei der Staatsanwaltschaft Dortmund. Dissertationsprojekt: "Oradour et les Allemands. Der deutsche Umgang mit dem village martyr Frankreichs."

Zum Fotografen

Martin Graf, Jahrgang 1957, ist freiberuflicher Fotodesigner und Journalist und lebt am Bodensee. Seit etwa 25 Jahren ist das Thema Oradour ein fester und immer wiederkehrender Bestandteil seiner Arbeit. Die Bilder dieser Serie entstanden im April 2014.

Oradour

Oradour hat keine Frauen mehr
Oradour hat keinen einzigen Mann mehr
Oradour hat keine Blätter mehr
Oradour hat keine Steine mehr
Oradour hat keine Kirche mehr
Oradour hat keine Kinder mehr

keinen Rauch mehr kein Lachen
kein Dach keine Speicher
keine Heuschober keine Liebe
keinen Wein keine Lieder mehr.

Oradour, ich habe Angst zu hören
Oradour, ich wage nicht
mich deinen Wunden zu nähern
deinem Blut deinen Trümmerstätten
ich kann nicht ich kann
deinen Namen weder hören noch sehen.

Noch am Abend des 10. Juni 1944, als die Nachricht von den Ereignissen im Dorf Oradour-sur-Glane Paris erreichte, verfasste der französische Dichter und Dramatiker Jean Tardieu mit "Oradour" das wohl bekannteste Gedicht über das Geschehen. Mit Tardieus Lyrik verhält es sich ähnlich wie mit dem Verbrechen selbst: Beides ist in Deutschland kaum bekannt; in Frankreich dagegen, so sagt man, kenne jedes Schulkind den Namen "Oradour".

In diesem Dorf mitten in Frankreich, etwa 20 Kilometer von Limoges entfernt, verübte eine Einheit der SS-Division "Das Reich" am 10. Juni 1944 das zahlenmäßig größte Massaker der Deutschen in Westeuropa während des Zweiten Weltkrieges. 642 Zivilisten wurden in wenigen Stunden ermordet, das Dorf geplündert und niedergebrannt. Die Terror- und Einschüchterungspolitik der deutschen Besatzer, die in ihrem Kampf gegen den Widerstand auch auf die Zivilbevölkerung abzielte, fand an jenem Tag ihren grausamen Höhepunkt.

Schon bald danach hatte der französische Staat beschlossen, die Ruinen des Dorfes zu erhalten und zum historischen Monument zu ernennen. So stehen sie bis heute und werden jährlich von etwa 300.000 Menschen besucht. Heute, am 70. Jahrestag, wird Premierminister Manuel Valls mit Überlebenden und Hinterbliebenen durch die Ruinen von Oradour gehen und der Opfer gedenken. Die Gedenkveranstaltung wird wie immer an dem Denkmal der Opferfamilien auf dem lokalen Friedhof enden.

Fotostrecke

Trümmerdorf Oradour-sur-Glane: Spuren eines SS-Massakers

Foto: Martin Graf

Mit unmittelbarer emotionaler Wucht trifft dort die Grausamkeit des Verbrechens die Besucher: Gedenktafeln zeigen die Gesichter der Opfer, ihre Namen, ihr Alter und damit, dass Säuglinge, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Greise, ganze Familien hingeschlachtet wurden. Kleine Särge mit Glasdeckeln geben den Blick auf Knochen frei, die davon zeugen, dass die Täter der SS sich nicht mit dem Morden begnügten, sondern die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten und verstümmelten, sie damit ihrer Identität im Tod beraubten und somit, so der Philosoph Jean-Jacques Fouché, ein zweites Mal töteten. Nur 52 Opfer konnten identifiziert werden.

Bei lebendigem Leib verbrannt

Um 14 Uhr hatten an diesem 10. Juni 1944 SS-Soldaten den Ort eingekreist und seine Bewohner auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Die Männer wurden von den Frauen und Kindern getrennt, letztere in die Kirche gebracht. Nachdem die Männer in verschiedene Scheunen und Garagen getrieben worden waren, eröffneten die Soldaten das Feuer auf sie und brannten die Exekutionsstätten nieder. Von den fünf Männern, die diese Exekutionen überlebten, erfuhr man später, dass einige Männer wohl bei lebendigem Leib verbrannten.

Von denen, die in die Kirche gebracht worden waren, überlebte nur eine einzige Frau, Marguerite Rouffanche. Zusammen mit ihren beiden Töchtern, ihrem Enkel und mehr als 400 anderen Frauen und Kindern hatte sie in dem Gotteshaus ausharren müssen und beobachtet, wie Soldaten eine Kiste, aus der Schnüre hingen, vor dem Altar platzierten und diese Schnüre dann anzündeten. Beißender, schwarzer Rauch stieg danach aus der Kiste auf, Chaos brach aus, als alle versuchten, dem tödlichen Gas zu entkommen. Madame Rouffanche flüchtete zusammen mit ihren Töchtern in die Sakristei, wo sie den Tod der beiden mit ansehen musste. Ein Sprung aus einem der Kirchenfenster rettete ihr selbst schließlich das Leben.

Etwa 40 weitere Menschen überlebten das Morden in Oradour auf die unterschiedlichste Art und Weise. Heute leben noch etwa zehn von ihnen. Betroffen waren und sind jedoch weit mehr Menschen. Zur Gemeinde gehörten 1944 neben dem Dorf 53 kleine Weiler. Zahlreiche Kinder aus diesen Orten waren an jenem Tag in der Schule in Oradour gewesen und in der Kirche umgekommen. Als "Dörfer ohne Kinder" wurden diese Weiler später deshalb auch bezeichnet. Insgesamt gab es so mehr als tausend betroffene Hinterbliebene, die dort an jenem Tag Familienangehörige oder Freunde verloren.

1953 ein zweites Trauma

Die Dichterin Mascha Kaléko hat den klugen Satz geschrieben: "Den eigenen Tod, den stirbt man nur; doch mit dem Tod der anderen muss man leben." Im Falle Oradours ist beides in seiner Grausamkeit hochpotenziert: Die Unwissenheit über den qualvollen Tod der Opfer hat sich für manche Angehörige in eine jahrzehntelange Qual übersetzt. Wie, wann und wo die Geliebten starben, sind Fragen, die nie gänzlich aufhören zu zerren und zu zehren. Bilder des unsäglichen Horrors, die sich auf immer bei jenen eingebrannt haben, die die Ruinen in den Tagen danach besuchten, sind auch im Alter nicht zu vertreiben. Wer sagt, "es müsse auch mal Schluss sein, nach so langer Zeit", muss wissen: Fragen und Bilder wie diese verjähren nicht.

Über das Verbrechen hinaus hatte auch der Umgang damit schwerwiegende Folgen für die Überlebenden und Hinterbliebenen. Am schwersten wiegt dabei wohl die in ihren Augen ausgebliebene Gerechtigkeit bei der strafrechtlichen Verfolgung. Die tiefste Zäsur hierbei ist das Jahr 1953: In diesem Jahr wurde das neue Oradour unweit der Ruinen fertiggestellt. Es sollte "neben dem Bild des tiefverletzten Frankreichs das des wieder auflebenden Frankreichs" werden. Tatsächlich wurde es zu einer "toten" Stadt, die kaum Lebensfreude ausstrahlte. Dies hatte seinen Grund in dem Gerichtsverfahren, das Anfang 1953 in Bordeaux stattfand und das Oradour als zweites Trauma erlebte. Die Mehrheit der Angeklagten nämlich waren zwangsrekrutierte Elsässer, deren Verurteilung in ihrer Heimat zu solchen Protesten führte, dass die französische Regierung sie schließlich amnestierte. Die Entrüstung darüber war in Oradour so groß, dass der Ort seine Beziehungen zum französischen Staat hinsichtlich der Erinnerung an das Verbrechen abbrach. Oradour wurde über Jahre zu einem Ort, der sich auf sich und seine Trauer zurückzog: strikte Reglementierungen, was Feiern und Feste anbelangte, kein Blumenschmuck im Dorf.

Anzeige

Florence Hervé (Hg.), Martin Graf (Fotos):
Oradour: Geschichte eines Massakers / Histoire d'un massacre

Sprache: Deutsch, Französisch.

Papyrossa; 150 Seiten; 18 Euro.

Bei Amazon: Oradour: Geschichte eines Massakers Buch bei Thalia "Oradour: Geschichte eines Massakers" 

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier. 

Die ausbleibende Gerechtigkeit setzte sich für Oradour auch auf bundesdeutscher Seite fort. Vor allem die Tatsache, dass der Kommandeur der SS-Division "Das Reich", Heinz Lammerding, in der Bundesrepublik niemals für das Massaker belangt wurde, sondern in Düsseldorf eine gutgehende Baufirma führte, wurde für Oradour das Sinnbild für die ausgebliebene strafrechtliche Ahndung des Verbrechens in der Bundesrepublik.

Jean Tardieu schrieb in seinem Gedicht auch die Zeilen: "Oradour ewige Schande, Hass und Schande für immer". Heute, 70 Jahre später, muss man vor dem Hintergrund des Geschehens fast erstaunt und auch glücklich sein, dass an diesem Gedenktag Hass keine Rolle mehr spielen wird. Was lange unmöglich schien, ist seit einigen Jahren Realität: Am 10. Juni trauern in Oradour Franzosen und Deutsche gemeinsam um die Opfer des Massakers.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten