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Historie des Königs aller Züge: Rollendes Grandhotel

Mythos Orientexpress Abgefahren!

Agentenbräute und Prinzen, Millionäre und Schmuggler: Alle tummelten sich einst im Orientexpress, Inbegriff von Schampus, Sex and Crime. Im Mai 1977 landete der Nachfahr des Luxuszugs auf dem Abstellgleis. Und ist doch unsterblich.

Josephine Baker will aber jetzt ein Käsebrötchen mit Bier. Jetzt, um zwei Uhr nachts. Rasch weckt die Tänzerin den Schlafwagenschaffner, Monsieur Dubois, erläutert ihm die Dringlichkeit ihres Anliegens. Und verspricht, als Gegenleistung für ihn zu tanzen, nur für ihn.

Was sich Dubois natürlich nicht entgehen lässt: Die beiden eilen in den Speisewagen, und Baker legt los, nur mit einem Négligé bekleidet. Soweit das Nähkästchen-Geplauder von Dubois, Orientexpress-Schaffner vor dem Zweiten Weltkrieg. Zu schön, um wahr zu sein!

Und vielleicht auch gar nicht wahr: Wie so manche der Legenden, die sich um den Luxuszug ranken, jene Mischung aus Nobelherberge und High-Society-Salon, Edelpuff und Krimi-Kulisse. Kein schnödes Verkehrsmittel, sondern ein Mythos, der Paris mit Istanbul, das Abendland mit dem Morgenland verband. Und dessen Nachfahr, der Direct-Orient, vor 40 Jahren aufs Abstellgleis geschubst wurde.

Dreckverkrustet, verspätet, defizitär

Zumindest wurde im Mai 1977 die direkte Schlafwagenverbindung Paris-Istanbul und Paris-Athen aufgehoben - ab sofort war in Bukarest Schluss. "Zu Himmelfahrt, 23.53 Uhr ab Paris-Gare de Lyon, fährt der Direct-Orient nun endgültig zum Teufel", kündigte der SPIEGEL an. Und am 22. Mai 1977 startete der Zug ein letztes Mal in der Gegenrichtung, vom Bosporus bis an die Seine.

Zu diesem Zeitpunkt war der Jetset längst aufs Flugzeug umgestiegen: An Bord verlustierte sich keine blaublütige Prominenz mehr, stattdessen drängten sich Gastarbeiter und Rucksack-Touristen in den Abteilen. Der Direct-Orient, ordinärer Sprössling des berühmtesten Zuges der Welt, war zum billigen Reisemittel verkommen, dreckverkrustet, notorisch verspätet, unfassbar langsam.

Für die gut 3000 Kilometer lange Strecke brauchte der Direct-Orient knapp 60 Stunden, regelmäßig verzögerten Passkontrollen und Zugdurchsuchungen entlang des Eisernen Vorhangs die Weiterfahrt. Weshalb immer weniger Menschen die Verbindung nutzen wollten.

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Historie des Königs aller Züge: Rollendes Grandhotel

"Wer reist schon zum Spaß in Länder, wo sich der amtliche Verfolgungswahn in stundenlangen Gepäckuntersuchungen manifestiert?", fragte das "Hamburger Abendblatt". Statt von "halbseidenen Balkanprinzen, schönen Frauen, Intrigen" erzählten sich die Zugreisenden, so die Zeitung, "nur noch vom gepflügten Minenstreifen des Eisernen Vorhangs, von Wachtürmen und Grenzkontrollen."

Auf der Internationalen Fahrplankonferenz vom Frühling 1977 war dem defizitären Direct-Orient endgültig der Todesstoß versetzt worden. Für die letzte Fahrt im Mai rauschten Kamerateams aus aller Welt nach Paris. Journalisten stimmten ergreifende Abgesänge an und beschworen die Vergangenheit des Orientexpresses, Oberbegriff für ein weit verzweigtes Streckennetz an Luxuszügen, deren Verlauf je nach geopolitischer Situation variierte. Zum allerersten Mal war der Orientexpress im Jahr 1883 quer durch Europa gerollt.

Zehn-Gänge-Menü nach der Abfahrt

Das Grandhotel auf Rädern war die Sensation des Fin de Siècle: Die offizielle Jungfernfahrt fand am 4. Oktober statt, eingeladen hatte der belgische Geschäftsmann und Orientexpress-Erfinder Georges Nagelmackers. Um 19.30 Uhr traten 40 illustre Gäste - unter ihnen nicht eine einzige Frau - am Pariser "Gare de Strasbourg" die Reise Richtung Orient an.

Der Luxus, der die Herren erwartete, stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten: Die Abteile waren mit erlesenen Hölzern getäfelt und mit kunstvollen Jugendstil-Intarsien verziert, die Sessel aus weichem, spanischen Leder, die Bettwäsche aus Seide. Der Orientexpress verfügte über Bibliothek, Duschkabinen und Zentralheizung ebenso wie über Eisschränke, Wandverkleidungen aus Gobelin, Toiletten aus italienischem Marmor.

Besonders hatte es dem pausbäckigen Journalisten Henri Opper de Blowitz der Speisewagen mit seinem vierarmigen Gaskronleuchter angetan, in dem nach der Abfahrt das Zehn-Gänge-Menü serviert wurde:

"Das Weiß der Tischtücher und der wunderbaren, kunstvoll gefalteten Servietten, das transparente Funkeln des Glases, der Rubin des Rotweins (...) und die silbernen Helme der Champagnerflaschen blenden die Menge draußen wie drinnen und strafen die trauernden Mienen und das unglaubwürdige Bedauern der Abreisenden Lügen."

Drei Stunden lang dauerte das Diner am ersten Abend, es gab Hummer und Austern, Wild und Kapaun. Grundsätzlich galt: Je nach Land, durch das der Luxuszug ratterte, kredenzten die Kellner lokale Spezialitäten: Stör aus der Donau, Kaviar aus Rumänien, türkisches Pilaw.

Nur Götter sollen auf diese Art reisen dürfen!

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten Ärzte das neue Verkehrsmittel Eisenbahn verteufelt und Zugreisende vor drohenden Gehirnkrankheiten gewarnt. Nun überschlugen sich die Literaten förmlich über den Orientexpress. Besonders hymnisch beschrieb der britische Autor Beverly Nichols seine Fahrt im Zug der Züge:

"Es ist drei Uhr morgens, du bist irgendwo in Rumänien und fegst mit 60 Meilen die Stunde durch die Winternacht. Dennoch hast du nur einen dünnen, seidenen Morgenrock an, und der Rauch deiner Zigarette steigt geradlinig zur Decke empor. Nur Götter sollten auf diese Art reisen dürfen! Nur Göttern sollte es vorbehalten sein, so über die Elemente zu herrschen!"

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Filmkulisse Orientexpress: Spione auf Schienen

Foto: ddp images

Der Orientexpress beflügelte weltweit die Fantasie der Menschen, auch weil sich in dessen Samtpolstern das komplette "Who is Who" der Belle Epoque räkelte: Könige und Kurtisanen, Spione und Schmuggler, Multimillionäre und Maharadschas. Lawrence von Arabien rollte mit dem Luxuszug ebenso durch Europa wie der Aga Khan, Mata Hari und Leo Trotzki.

Der berüchtigte Waffenhändler Basil Zaharoff rettete im Orientexpress Maria Pilar, die Herzogin von Villafranca des los Caballeros, vor ihrem mordlüsternen Ehemann. Lebefrau Cosima Wagner empfing im Speisewagen wie in einem Salon. Und Fürst Ferdinand von Bulgarien enterte mehrfach die Lokomotive, um das Gefährt selbst zu steuern - worauf sich die reisekranken Passagiere zuhauf beschwerten.

Fünf Tage lang eingeschneit

Die schönsten Orientexpress-Abenteuer jedoch spielten sich in den Köpfen der Schriftsteller und Filmemacher ab, oft griffen sie auf wahre Begebenheiten zurück. So auch Agatha Christie, die den mythenumwobenen Zug mit ihrem 1934 erschienenen Krimi "Mord im Orientexpress" zur Unsterblichkeit verhalf. In ihrem Roman verarbeitete sie die Beinahe-Katastrophe von 1929, als der Simplon-Orientexpress in der Türkei fünf Tage im Schnee-Chaos stecken geblieben war.

Kaum ein Autor beschrieb das Leben an Bord des Luxuszugs treffender - auch weil Christie selbst mehrfach mitfuhr: Die Britin nahm die Nobelbahn, um ihren Ehemann Max Mallowan zu besuchen, der Ende der Zwanzigerjahre archäologische Ausgrabungen in Syrien und im Irak leitete.

"Der Orientexpress", so Christie in ihren Reisebeschreibungen, "ist mir ohne Zweifel der liebste von allen." Gleich zu Beginn ihres berühmten Krimis fasst Detektiv Hercule Poirot die Faszination der Zugreise in Worte:

"Rund um uns sind Leute aller Klassen, aller Nationalitäten, aller Altersstufen. Drei Tage lang werden diese Menschen, die einander fremd sind, zusammengebracht. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie können nicht voneinander fort. Am Ende dieser drei Tage trennen sie sich, gehen ihre eigenen Wege und sehen einander vielleicht nie wieder."

Welcher Schauplatz wäre besser geeignet für einen Mord? An Bord des Orientexpresses und seiner noblen Geschwisterzüge raffte es in Film und Buch ganze Heerscharen dahin - in Wahrheit fiel wohl nur ein einziger Zugreisender einem tödlichen Komplott zum Opfer. Es handelt sich um Eugene Karpe, Marine-Attaché an der US-Botschaft in Bukarest.

Weil der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg auch als Geheimagent im Ostblock unterwegs war, geriet er ins Visier der Kommunisten: Die Ungarn setzten eine hübsche Blondine auf ihn an, die Karpe während seiner häufigen Fahrten mit dem Luxuszug aushorchen sollte. Wie die CIA herausfand, handelte es sich um die Geliebte eines ranghohen KP-Politikers. Beunruhigt ordnete das State Department die sofortige Versetzung Karpes an.

Statt mit dem Auto Richtung Westen zu reisen, bestieg der Amerikaner am Abend des 23. Februar 1950 den Arlberg-Orientexpress Richtung Paris. Am Tag danach barg die Polizei den zerfetzten Körper Karpes im Luegtunnel südlich von Salzburg.

Trotz jahrelanger Ermittlungen konnten die US-Behörden den Fall nie restlos aufklären. Es übernahm James-Bond-Erfinder Ian Fleming - und setzte Karpe 1957 mit "Liebesgrüße aus Moskau" ein Denkmal.

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