
Menschenausstellungen: Unterhaltung und Sensationsgier
Sammlung Stefan Nagel
Phänomen "Freakshows" Willkommen im Menschenzoo
Der Zirkusdirektor blickt verheißungsvoll in die Runde. "Wir haben Sie nicht belogen: Wir zeigen lebendige, atmende Missgeburten", verkündet er. "Kommen Sie mit mir und schauen sich das erstaunlichste Ungeheuer aller Zeiten an." Die Menschenmenge folgt dem Mann, der auf einen großen Kasten zugeht. Ungeduldig beugen sich die ersten Schaulustigen darüber. Was sie dort erblicken, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Eine Zuschauerin schreit hysterisch auf, andere halten sich schockiert die Hände vor den Mund.
In dem Kasten kauert eine bizarre Kreatur: halb Frau, halb Federvieh, dem herabhängendem Mund entweichen gequälte Krählaute.
Diese Szene stammt aus dem amerikanischen Horrorfilm "Freaks". Regisseur Tod Browning hatte 1931 den Auftrag erhalten, einen Film zu drehen, der noch gruseliger sein sollte als sein Erfolgswerk "Dracula" mit Bela Lugosi. So entschloss er sich, ein verstörendes Phänomen zu thematisieren, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein existierte: die Zurschaustellung von Menschen mit körperlichen Fehlbildungen, damals "Freaks of nature", "Launen der Natur", genannt.
Auf Jahrmärkten und in Zirkuszelten, in Museen, Kneipen, Panoptiken und Kuriositätenkabinetten wurden von der Norm abweichende menschliche Körper wie exotische Tiere präsentiert. Das Publikum weidete sich an der physischen Andersartigkeit dieser "lebenden Kuriositäten" im gleichen Maß, in dem es Schlangenbeschwörern und Schwertschluckern zujubelte. Ob extrem groß oder klein, beleibt oder dürr, behaart oder gefleckt - den Zuschauern war alles recht, was in irgendeiner Weise andersartig war.
Aus Lust am Exotischen
Im 19. Jahrhundert avancierten die sogenannten Abnormitätenschauen zum Massenvergnügen: Kolonialismus und Imperialismus steigerten die Lust am Fremden, Exotischen. Das Publikum ergötzte sich am Anblick von Menschen mit körperlichen Fehlbildungen ebenso wie an "Völkerschauen", bei denen Lappländer, Indianer und andere Völker aus fernen Ländern ausgestellt wurden wie Tiere in einem Käfig.
Um die Nachfrage nach Sensationen zu befriedigen, schickten die Schausteller der Jahrmärkte ihre Agenten rund um die Welt. Hatten sie irgendwo ein Kind mit Fehlbildungen aufgespürt, kauften sie es den Eltern ab, brachten ihm kleine Kunststücke bei - und schlugen Kapital aus dessen körperlicher Andersartigkeit. Der Mann, der wohl am meisten Geld mit der Zurschaustellung menschlicher Fehlbildungen verdiente und die "Abnormitätenschauen" rund um den Globus prägte, war Phineas Taylor Barnum.

Menschenausstellungen: Unterhaltung und Sensationsgier
Sammlung Stefan Nagel
1834 zog der amerikanische Entertainer und Geschäftsmann nach New York und eröffnete das American Museum. Hier präsentierte er neben ausgestopften Vögeln, Ritterrüstungen und einem Flohzirkus Kleinwüchsige, Menschen mit Albinismus und andere "Freaks". In Scharen strömten die Zuschauer in die Ausstellung, bald geriet es zum beliebtesten Unterhaltungsplatz der ganzen Stadt und zog, wie sich Barnum stolz rühmte, mehr Menschen an als das weltberühmte British Museum in London.
"Lionel der Löwenmensch"
Als sein Kuriositätenkabinett unter mysteriösen Umständen abbrannte, verlegte sich der selbsternannte "König Humbug" mehr und mehr auf das Zirkusgewerbe. Seine menschlichen Ausstellungsstücke nahm er mit - und präsentierte sie in "Freakshows" oder "Sideshows", einer kleinen Nebenattraktion des Zirkusprogramms. Hier, in Barnums Manegen, wurden nahezu alle Berühmtheiten mit körperlichen Auffälligkeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Schau gestellt.
So trat bei ihm etwa "Lionel der Löwenmensch" auf, dessen Körper fast vollständig von bis zu 20 Zentimeter langem, dichtem, blondem Haar bewachsen war. Vom deutschen Schauunternehmer Sedlmayer entdeckt, wurde "Lionel" mit elf Jahren erstmals in den USA auf Jahrmärkten gezeigt. Wegen seines tierähnlichen Aussehens wurde er vielfach als "missing link", als Bindeglied zwischen Mensch und Tier, angepriesen. Zudem wurden den Schaulustigen die Legende aufgetischt, der "Löwenmensch" sei deshalb so behaart, weil seine Mutter während der Schwangerschaft mit anschauen musste, wie ihr Ehemann von einem Zirkuslöwen zerfleischt wurde.
Doch auch der 1889 auf Sizilien geborene Francesco A. Lentini, wegen seiner drei Beine als "dreibeiniger Fußballstar" angepriesen, tingelte lange Zeit mit dem US-Zirkus über die Lande. Während Menschen wie Lentini sich als Erwachsene eigenständig vermarkteten, heirateten und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führten, wurden andere Jahrmarktdarsteller, vor allem Kinder und Menschen mit geistigen Behinderungen, von ihren Managern meist schamlos ausgebeutet.
Ausgestopfte "Affenfrau"
Besonders grausam erging es Julia Pastrana: Der Schausteller Theodor Lent soll die nur 1,38 Meter große Kreolin mit dem struppigen Barthaar an Kinn, Oberlippe und Stirn einst in einer Höhle in Mexiko entdeckt haben. Er kaufte das 1834 geborene Kind seiner Mutter ab, nahm es mit sich und stellte es in Europa und Amerika zur Schau, wo es spanische Tänze vorführen und Lieder vorsingen musste.
Um das Interesse des Publikums wachzuhalten, schirmte Impresario Lent seine als "Affenfrau" vermarktete Julia hermetisch von der Öffentlichkeit ab, später soll er sie geheiratet haben, um sie lebenslang an sich zu binden. Doch selbst nach ihrem Tod beutete Lent seine Jahrmarktsattraktion noch aus. 1860 gebar Julia Pastrana ihm ein ebenfalls unter Überbehaarung leidendes Kind, das nur wenige Stunden überlebte.
Als die "Affenfrau" fünf Tage nach der Geburt starb, ließ Lent die Leichname von Mutter und Kind einbalsamieren und so lange in seinem Petersburger Museum ausstellen, bis die Körper begannen zu faulen. Später wurden in seinem Auftrag beide ausgestopft - und an ein anatomisches Museum in Wien verkauft.
Traumfabrik contra Schaubudenzauber
Darüber, wie die zur Schau gestellten ihr eigenes Schicksal erlebten, gibt es nur wenige Zeugnisse. Nicolas Kobelkoff, der Sohn des 1851 arm- und beinlos geborenen Zirkusartisten Nikolai Kobelkoff, schrieb in einem Bericht: "Viele der Missgebildeten leiden darunter, während andere das Gefühl der Scham nicht mehr besitzen; sie haben sich davon freigemacht, indem sie ihren Charakter noch weiter abpanzerten."
Andererseits war es für viele Jahrmarktsdarsteller sicher angenehmer, unter ihresgleichen im Zirkusmilieu zu leben, als ein tristes Schattendasein in einer Behinderteneinrichtung zu fristen. Zumal etwa Kobelkoff junior unter den ausgestellten Menschen mit Fehlbildungen eine beispiellose Hilfsbereitschaft und Solidarität konstatierte - die erst dann zu enden schien, wenn man sich gegenseitig Konkurrenz machte: "Wir sind etwa 60 Zwerge in unserem Lande, und über 40 sind arbeitslos. Wir werden von einer Zuwanderung fremder Zwerge bedroht, die billiger arbeiten werden", beklagte ein US-Zirkusartist im Jahr 1933 die Emigration europäischer Kleinwüchsiger in die Vereinigten Staaten.
In Europa war die große Ära der "Abnormitätenschauen" zu diesem Zeitpunkt längst vorbei: Die Menschen zog es mehr und mehr in die Kinos als in die Schaubuden und Kuriositätenkabinette. Zudem waren aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges so viele grausam verstümmelte Soldaten zurückgekehrt, dass die Lust an körperlich andersartigen Menschen schlagartig nachließ. Statt auf den Jahrmärkten reüssierten Menschen mit Fehlbildungen - so etwa der armlos geborene Zirkusartist Carl Herrmann Unthan - als Experten in den Lazaretten. Sie brachten den im Krieg Verletzten bei, mit ihren Behinderungen zu leben.
Casting auf dem Jahrmarkt
Die Nationalsozialisten schließlich unterdrückten systematisch die öffentliche Präsentation körperlich andersartiger Menschen, wie Hans Scheugl in seiner Kulturgeschichte "Show Freaks und Monster" schreibt. Brutal unterband der Staat die "Schaustellungen von ekelerregenden menschlichen Abnormitäten und erbkranken Krüppeln", so ein Hetzartikel vom Berliner "8 Uhr Blatt" von 1938. Menschen mit Fehlbildungen wurden diskriminiert, weggesperrt oder - wie dies etwa für Menschen mit Mikrozephalie, also sehr kleinen Köpfen, erwiesen ist - in den Gaskammern ermordet. Allein klein- und großwüchsige Menschen durften weiter auftreten. Als "Riesen" und "Zwerge" tituliert, repräsentierten sie auf den Jahrmärkten die deutsche Mythen- und Märchentradition.
In den USA hielten sich die "Abnormitätenschauen" deutlich länger: Seine "Freaks" setzte Regisseur Tod Browning nicht etwa mit geschminkten Schauspielern und Filmtricks in Szene, sondern ließ sie von echten Jahrmarktgrößen spielen. Unter ihnen waren die siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton, der kleinwüchsige Harry Earles und der von den Rippen abwärts im Wachstum verkümmerte, nur 46 Zentimeter große "Half Boy" Johnny Eck.
Gecastet hatte Browning seine Darsteller vor allem in den New Yorker Vergnügungsparks auf Coney Island, aber auch in den Schaubuden entlang der Ostküste. Während das US-Publikum noch immer diese Zurschaustellungen körperlicher Andersartigkeit besuchte, wollte sich dies auf der Kinoleinwand niemand mehr antun.
Fehlgeburt nach "Freaks"
Dass sich Traumfabrik und echter Schaubudenschauder nicht gut miteinander vertrugen, musste Regisseur Tod Browning schon während der Dreharbeiten zu "Freaks" bemerken: Als Schriftsteller und Drehbuchautor F. Scott Fitzgerald die bei dem Film mitwirkenden siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton eines Tages in der Kantine von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) traf und hörte, wie eine die andere fragte, was sie heute essen wolle, rannte er auf die Toilette und übergab sich.
Ähnlich schockiert zeigten sich auch die Zuschauer des fertigen Films: Bei der Vorpremiere im Januar 1932 verließen die meisten empört das Kino, später wollte eine Frau gar gegen MGM klagen, weil sie aufgrund des Films angeblich eine Fehlgeburt erlitten hatte. Die Sprecherin einer Frauenorganisation geißelte den Film als Paradebeispiel für moralische Verkommenheit in Hollywood.
Die Karriere des "Dracula"-Regisseurs war dahin: Sein Film wurde nicht nur um ein Drittel gekürzt, sondern auch vielerorts für Jahrzehnte verboten. Dabei war Brownings Werk bei Weitem humaner als die Kuriositätenschauen auf den Jahrmärkten. Denn er zeigte die Gemeinschaft der Schausteller hinter den Kulissen und zeigte so den Menschen hinter dem Ausstellungsstück. Vielleicht war es genau das, was die empörten Kinobesucher nicht sehen wollten.