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Piktogramme: Der Sportler-Strich von München

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Piktogramme Der Sportler-Strich von München

Männchen mit Kugel am Bein = Fußballer. Figur mit Dreieckbauch = Damenklo. Für die Olympischen Spiele 1972 in München erfand der Grafiker Otl Aicher Piktogramme, die unsere Kommunikation revolutionierten. Heute dienen sie als Esperanto der Globalisierung.
Von Sebastian Heilig

Wenn Entwickler von Verkehrsleitsystemen heutzutage von ihrer Arbeit erzählen, klingen sie wie Stalker beim Psychotherapeuten: Sie verfolgen andere Menschen von der Autobahnabfahrt über das Parkhaus bis zu Ihrem Ziel, dem Sitzplatz im Fußballstadion oder dem Check-In am Flughafen. Sie notieren sich die Wege und Umwege der Leute: Wo haben die Personen gezögert, gebremst oder gar nach dem Weg gefragt? Wo haben sie sich eine Curry Wurst gekauft und welche Schaufenster fanden sie interessant?

Die ausgewerteten Daten entscheiden später über Schriftauswahl, Schriftgröße und Buchstabenabstände auf Hinweisschildern, Farben von Pfeilen oder ganzen Gebäuden, aber auch über die Platzierung von Wurstbuden und Toiletten. Das Ziel ist es, den Menschen das Leben zu erleichtern, Wege zu optimieren und in Zukunft noch viel mehr Würste zu verkaufen.

Nummern statt Entenbrust beim Chinesen

Je größer das Areal oder die Veranstaltung ist, desto sensibler müssen im Vorfeld die Beschilderungen geplant werden. Im Vergleich zum internationalen Getümmel während der Olympischen Spiele gleicht der Turmbau zu Babel einer Döner-Bestellung. Unsere Sprache hat sich längst den Hürden angepasst: In chinesischen Restaurants bestellt man statt Entenbrüsten nur noch Nummern, und selbst die Kassiererin im Kaufhaus muss nicht aufs Klo, sondern geht "auf die 17".

Schneller und selbstverständlicher funktionieren Bilder, stilisierte Symbole: Das Männchen mit dem runden Kopf und der Hose neben seinem berockten Zwilling weist uns diskret und ohne unangenehme Fragen den direkten Weg zur Toilette. Die nüchterne Darstellung suggeriert hier obendrein ein gewisses Maß an beruhigender Sterilität, ganz egal, wie oft wir in dieser Hinsicht schon enttäuscht worden sind.

Seit den Olympischen Spielen in München 1972 ist klar: Bilder funktionieren besser als Wörter. In diesem Fall spricht man von Piktogrammen. Das Wesen dieser Bilder ist die Auslassung. Verantwortlich für diese – damals von Kritikern als "Minimalschrift für Analphabeten des hektischen Zeitalters" verspotteten – Symbole ist der Ulmer Grafiker und Leitsystempionier Otl Aichers. Er bediente sich an dem bestehenden visuellen Code der Olympischen Spiele in Tokyo 1964 und der Weltausstellung in Montreal 1967, ursprünglich entwickelt von dem Japaner Masaru Katsumie.

Otl Aicher arbeitete nach denselben Grundsätzen, die er auch in der eigens gegründeten Ulmer Hochschule für Gestaltung propagierte: einheitliche Strichstärken und Größen und eine maximale Reduktion der Elemente. Diese Prinzipien wurden 1953 warenschutzrechtlich gesichert. Der Spielwarenhersteller Lego zog ein Jahr später mit sehr ähnlichen Patentrechten nach.

Vereinfachung als Kunst

Sowohl die Legosteine als auch Aichers Piktogramme sind heute Klassiker der Designgeschichte. Die Piktogramme für die Sportarten gestaltete Aichers Mitarbeiter Gerhard Joksch, Grafiker und Karikaturist. Wir kennen sie alle: Der Sprinter im 45-Grad-Winkel steht dem rasenden Zeichentrickhelden "Road Runner" an Dynamik in nichts nach. Die kreisrunden Köpfe der Sportler sind bei jeder Disziplin minimal versetzt. Das ist wichtig, um die komplizierte Statik auszubalancieren. So ist der Fußballspieler stark nach rechts geneigt, trägt den Kopf aber auf der linken Schulter, beim Schützen verschmilzt der Kreis mit dem Gewehr und dem Arm, damit er sicher visiert. Wer Symbole vereinfacht, muss vor allem genau beobachten können.

Aicher beobachtete noch viel mehr. Auf der Suche nach einer möglichst klar strukturierten, leicht lesbaren und zeitlosen Schrift entschied er sich für die von Adrian Frutiger gestaltete "Univers". Nomen est Omen. Um Wege zu vereinfachen, entwickelte er Farbsysteme, das heißt verschiedenen Farben wurden ordnende Funktionen zugeordnet: Blau signalisierte Sport, Grün Presse, Orange Technik, und Silber stand Pate für das Protokoll. Das war mehr als international, sah gut aus und versprühte beinahe hippieeske Harmonie.

Die Farben Rot und Schwarz durften an den Olympischen Spielen in München nicht teilnehmen, sicher nicht nur aus ästhetische Motiven: Otl Aicher war mit Ingrid Scholl liiert, der großen Schwester von Hans und Sophie, zudem hatte er die Hitlerjugend und die Wehrmacht verweigert.

Pete Doherty auf der Ampel?

Aicher prägte auch nach den Olympischen Spielen unsere Sehgewohnheiten. Der Grafiker war beteiligt an den Erscheinungsbildern großer Unternehmen wie Lufthansa, Braun und Erco, außerdem gestaltete er das benutzerfreundliche Leitsystem des Amsterdamer Flughafens Schiphol.

Natürlich ging es Aicher nicht um den Absatz von Currywürsten. Er war in erster Linie Ästhet und Idealist. Es fällt auf, wie oft die Philosophie aus Ulm leidenschaftslos und fahrlässig kopiert wird: In Zügen hängen an den Fenstern Aufkleber mit großen Flaschen, die nicht aus dem Fenster zu passen scheinen und daher verboten sind. Auf Bohrmaschinen gilt eingeschränktes Halteverbot für Kleinkinder. In manchen Teilen Deutschlands können sich die Ampelmännchen bis heute nicht von Ihren Hüten trennen – oder darf hier nur Pete Doherty die Straße überqueren?

Gegen die Sprache der Bilder kann Esperanto nicht anstinken. Zeit ist Geld. Piktogramme sind die Buchstaben der Globalisierung. In Survival-Shops finden sich Bücher, die nur noch aus Piktogrammen bestehen und zur besseren Kommunikation im weltweiten Dschungel dienen sollen. Das American Institute of Graphic Arts bietet derzeit 50 Zeichen zum kostenlosen Download und zur freien Nutzung an. 

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