Früh übt sich: Kleine und große Hausfrau in den Vierzigern

Früh übt sich: Kleine und große Hausfrau in den Vierzigern

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Geschichte des Plätzchenbackens O du klebrige!

Überall Mehl, zerbröselte Kipferl, gieriger Teignasch-Nachwuchs: Der Advent ist nicht für alle ein Zuckerschlecken. Wer hat uns Müttern bloß diese Backtortur eingebrockt? Ein Anruf bei der Alltagskulturforscherin Christiane Cantauw.
Ein Interview von Katja Iken

SPIEGEL: Guten Morgen, Frau Cantauw! Von meinen Vanillekipferln sind drei Viertel zerbrochen, als ich sie im Puderzucker gewälzt habe. Die Mandelbrote sind zu unansehnlichen Fladen zerflossen, die Katzenpfoten so hart, dass beim Reinbeißen die Plomben herauszubrechen drohen. Wer ist schuld daran, dass wir Plätzchen backen?

Cantauw: Einen einzigen Schuldigen können wir in der Geschichte nicht dingfest machen, die Tradition hat verschiedene Wurzeln. Die Grundidee dahinter ist eine christliche und lautet: Wie kann ich einen Festtag, wie kann ich Nikolaus, Weihnachten und Neujahr besonders ausgestalten?

SPIEGEL: Aber der Advent, also die Zeit, in der wir heute Plätzchen backen, ist im christlichen Glauben doch streng genommen eine Fastenzeit, zu der man sich nicht mit Süßigkeiten vollstopfen sollte.

Cantauw: Das tat man jahrhundertelang auch gar nicht. Bis Heiligabend wurde traditionell gefastet, einzige Ausnahme war der Nikolaustag, an dem geschlachtet und auch genascht werden durfte. Die Menschen verzehrten Plätzchen ausschließlich an den christlichen Feiertagen sowie zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. So wie in Nürnberg und München fanden seit der frühen Neuzeit  an den Weihnachtstagen in vielen Städten rund um die Kirche Märkte statt. Hier verkauften etwa die Lebzelter oder Honigkuchenbäcker, also auf Lebkuchen spezialisierte Bäcker, ihre Waren.

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Auf die Plätzchen, fertig, los – Historie des familiären Keksbackens

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SPIEGEL: Kamen denn die Lebkuchenbäcker immer aus Nürnberg? Wie groß waren die regionalen Unterschiede?

Cantauw: Nein, Honigkuchen wurden auch andernorts hergestellt, beispielsweise in Aachen, Coburg oder seit 1830 sogar im westfälischen Borgholzhausen. Vor dem 19. Jahrhundert waren diese Gebäcke gar nicht so eng an die Weihnachtszeit gebunden und wurden auf den Jahrmärkten auch zu anderen Jahreszeiten angeboten.

SPIEGEL: Die Backarbeit wurde generell von gelernten Fachkräften ausgeführt, also von Lebzeltern, später dann Zuckerbäckern und Konditoren?

»Länder wie die Niederlande – nicht zufällig Heimat des Spekulatius – waren klar im Vorteil.«

Alltagskulturforscherin Christiane Cantauw

Cantauw: Genau. Zu Weihnachten war traditionell besonders viel Geld im Umlauf. Hausangestellte, Knechte und Mägde erhielten außer Naturalien auch kleinere Geldgeschenke von ihrer Herrschaft; viele Handwerker gingen um Weihnachten los und kassierten – daher kommt übrigens der Spruch »Herein, wenn’s kein Schneider ist«. Die Honigkuchenhändler um die Kirchen herum machten sich diesen Umstand zunutze und hofften, den ein oder anderen Groschen verdienen zu können. Gebäck kauften aber auch die Zunftmeister, die für die Zunftbrüder am Jahresende Feiern ausrichteten. Die Plätzchen wurde dann an Bäumchen gehängt, die die Kinder der Zunftmeister am Ende der Zusammenkunft plündern durften.

DER SPIEGEL: Warum heißt das Plätzchen eigentlich »Plätzchen«? Weil man schier platzt nach übermäßigem Verzehr?

Cantauw: Das ist die Verkleinerungsform von »Platz«, der gängigen Bezeichnung für »Kuchen«. Die Bezeichnung geht zurück auf das lateinische Wort »placenta«.

SPIEGEL: Wer buk noch Plätzchen außer dem Bäcker?

Klare Rollenverteilung: Sie schafft – er schmökt (Farbholzstich um 1890).

Klare Rollenverteilung: Sie schafft – er schmökt (Farbholzstich um 1890).

Foto: AKG / ullstein bild

Cantauw: In Herrschaftshäusern und in den reicheren Klöstern wurde um die Adventszeit auch süßes Gebäck für die Bedürftigen gebacken, das muss man sich aber eher als eine Art verfeinertes Brot vorstellen. Bedenken Sie: Vor der Entdeckung des Rübenzuckers zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Zucker in Form von Rohrzucker nur aus Übersee, häufig aus den Kolonien  zu beziehen und äußerst kostspielig, ebenso wie Mandeln oder exotische Gewürze. Auch Honig, die hiesige Möglichkeit zum Süßen, sowie Rosinen oder Weißmehl gehörten für einen Großteil der Bevölkerung nicht zur alltäglichen Ernährung.

SPIEGEL: Viele weitere Plätzchenzutaten gab es bis zur Zeit der Entdeckungen  überhaupt nicht in Europa, etwa Zimt, Anis, Kardamom, Safran und Vanille.

Cantauw: Daher waren auch Länder wie die Niederlande – nicht zufällig Heimat des Spekulatius – klar im Vorteil. Die Niederländer waren zeitweise eine der führenden Kolonialmächte, die dortigen Kaufleute lebten unter anderem vom Handel mit exotischen Gewürzen.

»Im kleinen Plätzchen spiegelt sich die ganze große Welt.«

Alltagskulturforscherin Christiane Cantauw

SPIEGEL: Weihnachtsgebäck und Fortschritt haben also unmittelbar miteinander zu tun?

Cantauw: Genau – im kleinen Plätzchen spiegelt sich die ganze große Welt. Nehmen Sie etwa die Aachener Printen: Weil Napoleon  1806 die Kontinentalsperre verhängte, gab es keinen Rohrzucker mehr, die Aachener Bäckerzunft musste sich eine Alternative überlegen, was in Form von Rübensirup und Rübenzucker auch gelang.

SPIEGEL: Wann hat Politik sich noch auf dem Plätzchenteller getummelt?

Cantauw: Im Nationalsozialismus etwa gab es Bestrebungen, die Gebäckformen zu beeinflussen. Die deutsche Frau sollte nicht mehr Herzchen und Sternchen ausstechen, sondern Runen und aus der germanischen Mythologie entlehnte Formen, zum Beispiel Lebensräder.

SPIEGEL: Zurück zu unserer zentralen Frage: Wann etablierte sich der Brauch, zur Adventszeit in den Familien zu backen?

Cantauw: Das begann erst in der Biedermeierzeit, also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit bildeten sich in Deutschland stark ausdifferenzierte Geschlechterrollen heraus: Das Ideal der bürgerlichen Hausfrau entstand, die um Kinder, Küche und Kirche kreiste, ihrem Mann den Rücken freihielt und auch selbst buk – unter anderem Weihnachtsplätzchen. Hausgebackenes stand als Nachweis ihrer Tüchtigkeit hoch im Kurs.

SPIEGEL: Plätzchen als Ausdruck weiblicher Unterordnung?

Cantauw: Sie repräsentierten zumindest die Geschäftigkeit und Selbstlosigkeit der Hausfrau, die stets um das Wohl von Mann und Kindern bedacht zu sein hatte. Koch- und Wirtschaftsbücher wie das »Praktische Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche« von Henriette Davidis , erschienen erstmals 1845, sollten Hilfestellung leisten. Das Kochbuch ist immer wieder neu aufgelegt und sogar ins Englische und Niederländische übersetzt worden.

SPIEGEL: Also ist Davidis maßgeblich verantwortlich für den Backwahn seither?

Wer nicht hilft, darf auch nicht naschen: Familiäres Plätzchenbacken um die Jahrhundertwende

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Cantauw: Sie hat der bürgerlichen Hausfrau, die dieses oder ein ähnliches Kochbuch vielfach zur Hochzeit geschenkt bekam, zumindest die theoretischen Anleitungen an die Hand gegeben. Ein Übriges taten die Koch- und Backschulen und die Pensionate, in die man die höheren Töchter schickte. Einen richtigen Boom erfuhr das Selberbacken dann am Ende des 19. Jahrhunderts mit Dr. August Oetker. Er entwickelte nicht nur 1893 das Backpulver, sondern verkaufte auch in großem Stil industriell gefertigte und damit günstige Backzutaten, aber auch Backrezepte, Koch- und Backbücher.

SPIEGEL: Ist das alljährliche Plätzchenbacken eigentlich eine deutsche Tradition?

Cantauw: Weihnachtsgebäck wird auch in anderen Ländern hergestellt – aber nicht unbedingt als Ausweis kleinfamiliärer Innerlichkeit und hausfraulicher Selbstaufopferung. Das scheint mir doch sehr deutsch zu sein.

SPIEGEL: Backen wurde auch dank technischer Innovationen wie etwa mechanischer, später elektrischer Rührgeräte im 20. Jahrhundert immer einfacher.

Cantauw: Womit der Druck auf die Hausfrauen noch größer wurde – nun gab es gar keine Entschuldigung mehr, nicht selbst zu backen. Im Grunde ist die ganze häusliche Backgeschichte ein Spiegel der Geschlechterrollen .

SPIEGEL: Die auch im 21. Jahrhundert noch an uns kleben wie zäher Zimtsternteig. Vielen Dank, Frau Cantauw!

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