
Pogrom von Kielce 1946: Der Exzess und der Exodus
Larry Allen / AP
Pogrom in Polen 1946 Das alarmierende Signal von Kielce
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Die Lust auf prall-rote Kirschen: die süße Begierde, noch gesteigert durch attraktive Früchte aus Nachbars Garten. Sie steht am Anfang eines abstrusen Spektakels, das einen schrecklichen Verlauf nimmt – der schlimmste Pogrom an Juden in Nachkriegspolen.
Am 1. Juli 1946 meldet der Schuhmacher Walenty Blaszczyk seinen neunjährigen Sohn Henryk als vermisst, dokumentiert auf einer Miliz-Station in der Bezirksstadt Kielce. Was der Vater nicht weiß: Der Knabe war heimlich ausgebüxt und per Pferdewagen in ein entferntes Dorf mitgenommen worden, wo er zuvor mit seinen Eltern gewohnt hatte und seine Großmutter lebte. Zum Abenteuer gelockt hatte ihn jedoch ein Kirschbaum in der Nachbarschaft. Reichlich beladen mit diesen Früchten kehrte er nach zwei Tagen zu den Eltern zurück.
Mit deutlichen Worten oder auch einer Tracht Prügel hätte der Ausflug des Sprösslings sein Bewenden haben können. Aber was sollten sie jetzt den Behörden sagen? Eine glaubhaft klingende Geschichte musste her. Ob sie der Knabe selbst erfand oder Erwachsene sie ihm eintrichterten: Als Vater und Sohn am 4. Juli 1946 bei der Miliz erscheinen, erzählt Henryk, er sei ins Gebäude des Jüdischen Komitees in Kielce entführt und dort in den Keller gesperrt worden. Da hätten sich auch andere Kinder befunden. Er aber habe sich befreien und türmen können.
So schildert der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross den Beginn der Ereignisse in seinem Buch »Angst – Antisemitismus nach Auschwitz in Polen«. Was dann in Kielce geschah: Die Fabel von der Verschleppung eines Christenkindes lässt in der Kleinstadt die Gerüchteküche brodeln. Bald strömt eine wachsende Menschenmenge vor dem Sitz des Komitees in der Ulica Planty 7 zusammen. Im dreistöckigen Eckhaus befinden sich die Büros von jüdischen Organisationen und Wohnungen. 200 Juden waren bei Kriegsende nach Kielce zurückgekehrt, von vormals 25.000 bei einer Einwohnerzahl von 70.000.
Aussage eines Milizangehörigen
Als Angehörige der Miliz, der polnischen Polizei, erscheinen, schützen sie keineswegs Gebäude und Bewohner. Vielmehr heizen sie das hysterisch aufgeladene Klima weiter an, indem sie skandieren: »Schlagt die Juden!« Dann trifft auch ein Trupp Soldaten ein und verhält sich zunächst passiv, setzt jedoch plötzlich zum Sturm auf das Haus an.
»Die Soldaten schossen erst durch die Tür, dann drangen sie ein, schossen auf die Menschen und warfen die Opfer in die Menge, die ihnen den Todesstoß versetzte«, zitiert Historiker Gross die Aussage eines Betroffenen. Eine andere lautete: »Es flogen Steine, ich bekam Kolbenhiebe. Ich fiel hin, verlor das Bewusstsein. Als ich es wiedergewann, verstärkten sie die Hiebe mit Steinen und Kolben. Einer wollte auf mich schießen, als ich am Boden lag; aber da hörte ich einen anderen sagen: ›Schieß nicht, der krepiert sowieso.‹« Und ein Polizist notierte: »Die Leute schlugen sie mit allem, was zur Verfügung stand, mit Knüppeln, Eisen, Steinen.«

Antisemitismus: Was der uralte Hass mit modernen Verschwörungsmythen zu tun hat
Dass der Antisemitismus gerade auch in Deutschland so verbreitet ist, lässt sich auch mit der Geschichte erklären. Es reicht nicht, nur bis zum Nationalsozialismus zurückzuschauen – die Wurzeln reichen viel tiefer.
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Die Raserei gegen die Juden dauerte über sechs Stunden. Sie erfasste die Stadt und auch die Umgebung. So wurden Juden aus Eisenbahnzügen geholt und öffentlich malträtiert, wenn nicht gar massakriert, andere wurden gesteinigt. Kleine Gruppen suchten überall nach jüdischen Opfern. An der Hetzjagd nahmen Angehörige quer durch die polnische Gesellschaft teil – Männer, Frauen, Jugendliche, Pfadfinder, Soldaten, Milizionäre, Beamte, Arbeiter, Handwerker, vereint zum erbarmungslosen Pöbel.
Das Ergebnis dieses Furors vor 75 Jahren: 42 Tote und 80 Verletzte.
Für den Historiker Jan Tomasz Gross, der den Antisemitismus in Nachkriegspolen gründlich erforscht hat, sind die Ereignisse in Kielce »weder Racheakte noch Morde im Affekt«. Er konstatiert, dass es »damals in Polen einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag gab, der es erlaubte, das Gebot ›Du sollst nicht töten‹ in Bezug auf Juden zu vernachlässigen«. Verschiedene Milieus in Polen hätten »die Ermordung der Juden als etwas Normales empfunden«, schreibt der Wissenschaftler, der seit 2003 an der Universität Princeton lehrt und um den es in Polen zahlreiche Kontroversen gab, vor allem wegen seiner Bücher »Nachbarn« und »Goldene Ernte«.
Neuer Schub für Antisemitismus
Tatsächlich erfuhr der polnische Antisemitismus, über lange Epochen in diesem Land notorisch, auch nach 1945 einen beängstigenden neuen Auftrieb. Dafür gab es verschiedene Motive. Da ist zunächst der historische Judenhass, den die katholische Kirche predigte, in Verbindung mit dem Vorwurf von »Gottesmördern«, auch mit der virulenten Verdächtigung, bei Ritualmorden christliche Kinder zu töten, um aus deren Blut Matze, ein ungesäuertes Brot, herzustellen. Das klang ebenfalls bei der Lügenstory in Kielce an.
Zudem herrschten reichlich Neid, Gier, Trieb – und Angst. Viele Polen hatten sich am Besitz und Vermögen der Juden bereichert, als diese in den Kriegsjahren von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt, in Konzentrationslager verschleppt und ermordet worden waren. Aber auch am Besitz derjenigen, die in die Sowjetunion geflüchtet waren. Es waren viele: Von den 3,5 Millionen Juden, bei Kriegsbeginn etwa ein Zehntel der polnischen Bevölkerung, überlebten den Holocaust nur 300.000.

Pogrom von Kielce 1946: Der Exzess und der Exodus
Larry Allen / AP
In der polnischen Mehrheitsgesellschaft wurden sie nach 1945 schnell zu Hassobjekten. Möglicherweise hat die Demütigung und Verfolgung der Juden durch die brutale deutsche Besatzungsmacht – vor den Augen vieler Polen, bisweilen auch mit ihrer Billigung – die heimische Bevölkerung bei späteren Drangsalierungen abgestumpft.
Mörderische Hatz gab es auch nach dem Holocaust immer wieder. Dafür sprechen die gewalttätigen Ausschreitungen in zahlreichen Orten wie Rzeszów, Krakau, Rabka, Tschenstochau, Radom, Ostrowice. Doch zweifellos bedeutete Kielce, das in der Mitte zwischen Warschau und Krakau liegt, einen einsamen Rekord in der traurigen Serie.
»Panikflucht« gen Westen
Von diesem Pogrom ging ein unübersehbares Signal aus: Unmittelbar danach setzte ein Massenexodus der polnischen Juden aus ihrer Heimat ein, oft als »Panikflucht« bezeichnet. Bis Ende 1947 schlugen 150.000, die Hälfte der Überlebenden, diesen Weg ein. Die Fluchtbewegung griff über auf andere osteuropäische Staaten wie Ungarn, die Tschechoslowakei, Rumänien und die baltischen Staaten. Am Ende summierte sich die Zahl der Migranten auf 250.000 bis 300.000 Menschen, die in ihrem alten Zuhause keine Lebensperspektive mehr erblickten.
Das Ziel dieser Flüchtlingstrecks war – ausgerechnet – Deutschland. Das klingt verblüffend, aber die Juden flohen nicht in das Land der Täter, sondern unter den Schutz der westlichen Besatzungsmächte, vor allem der Amerikaner. So hofften sie ihre wahre Absicht schneller verwirklichen zu können, nämlich die Auswanderung vor allem nach Palästina, ebenso in die USA, nach Lateinamerika, Australien – nur weit weg vom verfluchten Kontinent Europa.
Zunächst saßen sie allerdings in Lagern für Displaced Persons (DPs) fest, bis sie nach 1948 ihre ursprünglichen Pläne umsetzen konnten, einmal durch die Gründung des Staates Israel, dann durch vielfache Erleichterungen von Immigrationsgesetzen: ein neues jüdisches Leben ohne Bedrohung und Furcht zu führen.
Doch die Dialektik der Geschichte hält zuweilen Überraschungen bereit. Das gilt, trotz des düsteren Hintergrundes, für die bedrückenden Vorkommnisse vor 75 Jahren in Polen und anderen osteuropäischen Ländern.
»Neudefinition der Juden als Kollektiv«
In den Ereignissen von Kielce sieht der deutsch-israelische Historiker Dan Diner den Anlass für die Ausbildung eines neuen gemeinschaftlichen Bewusstseins: nämlich für die »Neudefinition der Juden als Kollektiv, als Nation«. Tatsächlich war für die osteuropäischen Juden durch die Radikalität des Antisemitismus nach 1945 ihre Staatsbürgerschaft wertlos geworden – eine bittere Erkenntnis nach dem Holocaust. Denn die Regierungen konnten oder wollten sie nicht vor Diskriminierung und Terror schützen.
Diner sagt deshalb, Kielce habe »so etwas wie eine Hebelwirkung für die spätere jüdische Staatsgründung« erzielt. Auch wenn der Historiker zuspitzt: Von den DP-Lagern in Westdeutschland ging ein enormer politischer Druck aus. Nicht von ungefähr reiste David Ben-Gurion 1946/47 mehrmals durch DP-Camps und forderte die Flüchtlinge zum Durchhalten auf. Die feierten den Sprecher des Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung Israels, wie einen Messias. Beide brauchten einander für den Aufbau des Staates Israel.
Ein anderer Aspekt der historischen Widersprüche betrifft Deutschland. Dort blieben etwa 12.000 bis 15.000 der osteuropäischen DPs, aus persönlichen oder politischen Gründen. Sie ließen sich vor allem nieder in München, Stuttgart, Frankfurt, Köln, Düsseldorf oder Hamburg. Die hiesigen Mitglieder der kleinen und überalterten jüdischen »Gemeinden in Abwicklung«, wie es damals allenthalben hieß, akzeptierten die Neuen zuweilen erst nach langen Diskussionen.
Dunkles Kapitel der polnischen Geschichte
Den winzigen Sprengeln wurde nach dem Holocaust keine lange Lebensdauer mehr eingeräumt. Mit der zahlenmäßig beträchtlichen Erweiterung aus dem Osten konnten die Gemeinden wachsen und aufblühen; so entwickelte sich »neues jüdisches Leben«, wie heute eine griffbereite Chiffre heißt. An den wichtigen Anteil der osteuropäischen Juden an dieser Wiederbelebung zu erinnern, ist recht und billig in einem Moment, da sich Deutschland gerade mannigfach feiert für 1700 Jahre Judentum hierzulande.
Kielce setzte nach den Exzessen eilig ein Gerichtsverfahren gegen zahlreiche Täter in Gang. Der Prozess offenbarte das völlige Versagen der Behörden und Ordnungskräfte am 4. Juli 1946, mehr noch: Sie waren Bestandteil des Pogroms, weil aktive Teilnehmer an scheußlichen Verbrechen. Bereits acht Tage später, am 12. Juli 1946, kam es zur Verurteilung von neun Tätern, die hingerichtet wurden.
Danach klappten die Aktendeckel schnell zu. Über das niederschmetternde Geschehen legte sich über Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft eisernes Schweigen. Erst in den Neunzigerjahren, nach der Wende in Osteuropa, wurde das Tabu gebrochen. Doch inzwischen möchte die national-konservative Staatsführung in Warschau an dieses dunkle Kapitel der polnischen Geschichte ungern erinnert werden.