
Menschen gegen Panzer: Für eine bessere Gesellschaft
Prager Frühling Eine Fackel für die Freiheit
Im Mai diesen Jahres saß ich mit einigen sehr sympathischen, sehr engagierten jungen Tschechen auf dem Marktplatz in Liberec (Reichenberg) bei einem Kaffee zusammen. Meine Gesprächspartner waren alle nach 1970 geboren und sagten, dass sie es für wichtig hielten, den Menschen die Ereignisse um 1968 ins Gedächtnis zu rufen.
Gegen 7.45 Uhr am 21. August 1968 eröffnete ein sowjetisches Spezialkommando von einem Schützenpanzerwagen aus das Feuer auf Demonstranten, die sich vor dem Rathaus von Liberec versammelt hatten. Sechs Menschen starben, mehr als 40 wurden verwundet. Gegen Mittag fuhr ein Panzer in ein Haus gegenüber dem Rathaus und brachte Teile davon zum Einsturz. Dabei kamen drei Menschen ums Leben. An der Vorderfront des herrlichen Rathauses erinnert eine Gedenktafel mit neun Gliedern einer Panzerkette an die Opfer von 1968. Jedes Glied dieser Panzerkette trägt einen Namen.
Trotz der schockierenden Brutalität gab es damals etliche Demonstranten, die mit viel Einfallsreichtum ihren Protest fortsetzen. Sie nutzten Lücken in der Marschkolonne der Sowjetarmee, um an Kreuzungen ohne sowjetische Regulierungsposten den Armee-Tross erfolgreich in falsche Richtungen umzuleiten, so dass die sowjetischen Schützenpanzerwagen in alle Richtungen, nur nicht nach Prag fuhren.
Jede Straße hieß "Dubcekstraße"
Am 23. August waren sämtliche Straßenschilder der Innenstadt ausgetauscht. Jede Straße hieß nun "Dubcekova ulice", Dubcekstrasse. Damit wollten die Aktivisten nicht nur den Okkupanten die Orientierung erschweren, sondern auch ihre Verbundenheit mit dem Chef der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei Alexander Dubcek bekunden, dessen Bemühungen um einen liberalen und demokratischen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in der Folge zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts geführt hatten.

Menschen gegen Panzer: Für eine bessere Gesellschaft
Die jungen Tschechen wollten unbedingt an dieses Ereignis von 1968 erinnern. Aber sie hatten ein Problem: Sie konnten kaum Zeitzeugen finden. "Die Ereignisse des Prager Frühlings sind bei uns nicht sehr populär", sagten sie und dass es gar nicht so einfach sei, in jener Zeit Helden und Demonstranten von Mitläufern und Angepassten zu unterscheiden. Oftmals würden die Lebensläufe beides hergeben - wenn man neben den Ereignissen des Jahres 1968 auch das biographische Vorher und Nachher berücksichtige.
Was wäre zum Beispiel, wurde gefragt, wenn unter den neun Toten ein Geheimdienstmitarbeiter gewesen wäre, der eigentlich den Auftrag hatte, die anderen Demonstranten zu bespitzeln und nur zufällig von seinen eigenen Auftraggebern erschossen wurde? Wie wäre er einzuordnen? Als Held oder als Denunziant? Ich zitierte den polnischen Schriftsteller Stanislaw Jerzy Lec: "Geradlinige, passt in den Kurven auf!"
Wahrheitssuche in Gefahr
In unseren eigenen Biografien ist doch auch von allem etwas anzutreffen. Heldentum gibt es nicht auf Vorrat. Außerdem sind Helden nie besonders beliebt. Es sei denn, sie treten im Film auf. Im realen Leben führen sie den anderen doch nur ihr Versagen vor und machen ihnen ein schlechtes Gewissen. Wer will das schon aushalten? Aber es gibt zugespitzte geschichtliche Situationen, in denen wir, von unseren eigenen Überzeugungen geleitet, instinktiv das Richtige tun. Was sich hinterher durchaus als sehr dumm herausstellen kann, weil es unser Leben und unsere Karriere verändert, möglicherweise zerstört hat. Nur setzt das alles voraus, dass man eine Überzeugung hat. Eine Überzeugung, die auf Werten basiert.
Vielleicht kann man sich den geschichtlichen Ereignissen von 1968 am ehesten nähern, indem man fragt: Für welche Werte gingen die Demonstranten 1968 auf die Straße? Für welche Werte riskierten sie ihr Leben oder ihre Lebensentwürfe? Und kann man ohne solche Werte in einer Gesellschaft überhaupt leben, in der das Miteinander an Bedeutung verliert, in der sich Menschen erst unterwerfen müssen, um sich danach zu verkaufen? Man hat nie die richtigen Antworten auf alle Fragen parat. Man muss sie sich selbst erarbeiten. Manchmal kann man die Richtigen fragen. Nur muss man sie dazu ausfindig machen! Selbst auf die Suche gehen!
Oft wird davon gesprochen, dass man ein Licht anzünden müsse in der Gesellschaft, damit es heller und wärmer wird. Am 16. Januar 1969 wurde die erste Fackel entzündet. Zehn Studenten der philosophischen Fakultät in Prag hatten sich zusammen getan, weil sie nicht mehr über jene philosophischen Themen reden durften, die noch vor dem 21. August erlaubt waren. Ihre Wahrheitssuche war in Gefahr.
Selbstverbrennung aus Protest
Es waren gesunde, kluge, junge Leute, die niemanden in ihren Kreis aufnahmen, der psychische Probleme hatte. Nicht etwa aus Überheblichkeit, sondern aus der Furcht heraus, die kommunistische Propaganda könnte sie als Psychopathen in der Öffentlichkeit darstellen. Sie wollten ein Zeichen setzen. Es wurde gelost.
Die Fackel hieß Jan Palach. Er war 20 Jahre alt. Am 16. Januar 1969 gegen 15 Uhr übergoss er sich am Prager Wenzelsplatz mit Benzin und zündete sich an. am 19. Januar starb er. Wenige Monate zuvor hatte sich am 8. September 1968 der Pole Ryszard Siwiec in Warschau als Protest gegen den Einmarsch verbrannt.
Die kommunistische Verschwiegenheitstaktik funktionierte so gut, dass heute kaum noch jemand von Jan Palach und Ryszard Siwiec weiß. An sie muss erinnert werden, weil sonst jene gewonnen hätten, die die Menschenrechte mit Panzerketten zermalmen und die Menschen zu gefügigen Zwergen erniedrigen wollten.