
"Presidio Modelo": Stein gewordener Albtraum
Kubas Höllenknast "Aus Menschen wurden Monster"
John Ryle brauchte starke Nerven, als er die steile Treppe hinunterstieg, die zu einem langen unterirdischen Gang führte. Anfang der Neunzigerjahre erkundete der US-amerikanische Anthropologe auf eigene Faust das stillgelegte "Presidio Modelo", früher das größte Gefängnis Kubas. Auf der südwestlich gelegenen Pinieninsel (heute: Isla de la Juventud) hatte Diktator Gerardo Machado in den Zwanzigerjahren nahe der Stadt Nueva Gerona fünf runde Gebäude errichten lassen - sie stehen heute wie notgelandete Ufos mitten in einer einsamen Tropenlandschaft.
In jedem dieser Bauten befanden sich 465 Zellen, die auf fünf Stockwerken im Kreis angeordnet waren. Im Dachgeschoss des zentral gelegenen Rundbaus lag ein großer Speisesaal, in dem bis zu 3000 Menschen Platz hatten. Alle Insassen eines Gefängnisgebäudes konnten von einem in der Mitte des Innenhofes gelegenen Turm jederzeit beobachtet werden. Die Bewacher blieben für sie jedoch unsichtbar - ebenso wie die Mitgefangenen.
Selbst wenn es Häftlingen gelungen wäre, aus ihren Zellen auszubrechen, hätten sie den befestigten Wachtturm nicht stürmen können: Er war nur über einen 30 Meter langen unterirdischen Korridor zu erreichen, dessen Eingang außerhalb des Gebäudes lag.
An einem dieser Zugänge brach Ryle kurzerhand ein Schloss auf - und wagte sich hinein. "Es war stockdunkel, und wir standen bis zur Taille in kaltem, öligem Wasser. Die Decke war niedrig", schrieb der Mitbegründer des Rift Valley Institute in einem Artikel, der 1996 im "Guardian" erschien.
"Nachdem wir etwa 30 Meter durch die Dunkelheit gewatet waren, stießen wir auf eine steile, enge Wendeltreppe, die nach oben führte. Noch immer war kein Lichtschein zu sehen. Erst nach 20 oder 30 Windungen kamen wir durch eine Falltür endlich ins Helle."
Erdrosselt, vergiftet, ertränkt
Kurz darauf stand Ryle oben in dem Wachtturm vor den Sehschlitzen, durch die unsichtbare Bewacher einst die Häftlinge observiert hatten. "Hinter jeder Zelle sah man durch vergitterte Fenster weitere Fenster und Zellen. Drei identische Kreise lagen hintereinander, vierzig bis fünfzig unüberbrückbare Meter entfernt. Und dahinter kam das Meer."
Jahrzehntelang diente der 1931 fertiggestellte Gefängniskomplex kubanischen Diktatoren als eine Art Gulag. Tausende ihrer Gegner verschwanden hinter den Mauern des "Modellgefängnisses". Anders als es der Name vermuten ließe, war der Alltag ein grauenhafter Albtraum. "Aus Menschen wurden Monster, nur wenige waren Helden", erinnerte sich der Autor und Freiheitskämpfer Pablo de la Torriente Brau, der Anfang der Dreißigerjahre dort hinter Gitter kam.

"Presidio Modelo": Stein gewordener Albtraum
Wie in einem Schredder seien Existenzen zerstört worden, jeder Gefangene habe Erniedrigung, Hunger, Qualen verspürt. Seine Leidenszeit beschrieb Brau in Zeitungsartikeln mit Titeln wie "Lebendig begraben" oder "Die Insel der 500 Morde", die später auch als Buch erschienen. Den Wärtern warf er schwerste Übergriffe auf die Häftlinge vor. Kubanische Historiker fanden später Belege dafür, dass Hunderte Gefangene auf gewaltsame Weise zu Tode kamen: Sie wurden erdrosselt, erschlagen, vergiftet oder in Toiletten ertränkt.
Vorbild Panopticon
Das "Presidio Modelo" ähnelt dem 1925 eröffneten "F-House" im Stateville Correctional Center im US-Bundesstaat Illinois - dort, wo Regisseur Oliver Stone Anfang der Neunzigerjahre Szenen des Kinofilms "Natural Born Killers" drehte. Bis zu seiner Schließung 2016 war das "F-House" der einzige noch funktionstüchtige Gefängnisrundbau in den USA.
Vorbild war das Panopticon des britischen Philosophen Jeremy Bentham, der Ende des 18. Jahrhunderts über eine Reform des Strafvollzugs nachdachte. Mit der permanenten Kontrolle der Insassen in einem solchen Rundbau wollte er körperliche Züchtigung überflüssig machen.
In mehreren Ländern wurden daraufhin Haftanstalten gebaut, die sich an Benthams Modell anlehnten, etwa das Pentonville Prison und das Holloway Prison in London, der Carcere di San Vittore in Mailand oder das inzwischen abgerissene Zellengefängnis Moabit in Berlin. Der französische Philosoph Michel Foucault sah im Panopticon das Sinnbild für den modernen Überwachungsstaat - jene totalitäre Struktur, die bei George Orwell vom unsichtbaren "Großen Bruder" verkörpert wird.
Fidel Castro, unter dessen Herrschaft Orwells Roman "1984" in Kuba verboten war, kam 1953 selbst als Häftling in das "Modellgefängnis". Mit 135 Mitstreitern hatte der junge Rechtsanwalt die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gestürmt, um Waffen für den Kampf gegen Diktator Fulgencio Batista zu erbeuten.
Spaghetti und Zigarren für Fidel Castro
Da die Soldaten den Angreifern um ein Vielfaches überlegen waren, wurden Castro, sein Bruder Raúl und andere "Moncadistas" zu Gefängnisstrafen verurteilt und auf die Pinieninsel gebracht. Allerdings waren sie nicht in einem der berüchtigten Rundbauten, sondern komfortabler in der Krankenstation untergebracht.
Laut den Briefen, die Fidel Castro während seiner knapp zweijährigen Haft verfasste, hatte er dort ein angenehmes Leben. Ihm blieb viel Zeit, um Bücher zu lesen und für seine Mitgefangenen Seminare über politische Ökonomie abzuhalten. Auch auf Radio und Fernsehen musste er nicht verzichten. In den ersten Monaten schrieb Castro die berühmt gewordene Verteidigungsrede "Die Geschichte wird mich freisprechen", die er im Oktober 1953 als Plädoyer vor Gericht hielt.
Für sein leibliches Wohl war ebenfalls gesorgt. "Ich habe Hunger und mache mir Spaghetti mit gefüllten Calamares", beschrieb der spätere Maximo Lider die Privilegien, die er als politischer Gefangener genoss. Zum Nachtisch gab es italienische Süßigkeiten, danach frisch zubereiteten Kaffee und schließlich eine dicke Zigarre.
"Wenn ich mich morgens in Shorts sonne und die Meeresluft rieche, fühle ich mich wie am Strand. Ich soll wohl glauben, ich sei hier im Urlaub. Was würde wohl Karl Marx von solchen Revolutionären halten?" witzelte er. Statt der vorgesehenen 15 Jahre blieb Castro nur bis 1955 hinter Gittern, weil er im Zuge einer Generalamnestie vorzeitig freikam.
Angedrohte Sprengung vor Schweinebucht-Invasion
Wesentlich schlechter erging es denen, die nach der Flucht Batistas und Castros Machtergreifung 1959 bei dem neuen Regime in Ungnade fielen. Politische Gegner - sogenannte Konterrevolutionäre - wurden ebenso wie Homosexuelle oder Zeugen Jehovas im "Presidio Modelo" weggesperrt.
Bald war das größte Gefängnis des Landes, das für maximal 2500 Personen gebaut war, mit 6000 bis 8000 Häftlingen hoffnungslos überbelegt. Die vorhandenen Toiletten und Duschen reichten Zeitzeugenberichten zufolge bei Weitem nicht aus. 1961 gab es mehrere Aufstände, viele Gefangene traten in den Hungerstreik.
Ricardo Vazquez wurde als 17-Jähriger wenige Monate vor der Invasion in der Schweinebucht im Frühjahr 1961 wegen Konspiration gegen das Castro-Regime inhaftiert. Entsetzt beobachteten er und seine Mitgefangenen, wie Wärter damals Löcher in den Boden bohrten und mit Dynamit füllten.
Wie Vasquez 2014 der Zeitung "El Nuevo Herald" erzählte, drohten die Männer damit, das Gefängnis in die Luft zu sprengen. So habe man verhindern wollen, dass die Häftlinge revoltierten - um im Falle eines feindlichen Angriffs auf Kuba zu Castros Widersachern überzulaufen.
Am 17. April 1961 landeten tatsächlich rund 1300 Exilkubaner mit Unterstützung der USA an der Playa Girón. Sie scheiterten jedoch mit ihrem Versuch, die Führung in Havanna zu stürzen und eine neue Regierung einzusetzen. Das Dynamit sei nach der Kuba-Krise im Oktober 1962 entfernt worden, die Löcher seien aber geblieben, so Vazquez, der später ins Exil nach Florida ging.
Nach der Schließung des Gefängnisses 1967 verfielen die Rundbauten - seither rosten Eisenträger in der feuchten Hitze vor sich hin. In der ehemaligen Krankenstation, wo Castro und die "Moncadistas" einsaßen, hat der kubanische Staat inzwischen ein Museum eingerichtet.