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Projekt "Riese": Seltsame Bauten im Wald

Foto: Michael Stürzer

Codename "Riese" Das heikle Geschäft mit Hitlers Hinterlassenschaften

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges ließen die Nazis in den Bergen Schlesiens ein unfertiges Megabauprojekt mit kilometerlangen Stollen zurück - jedoch ohne Pläne. Bis heute geben die Anlagen Rätsel auf.

Die Homepage zeigt Einschusslöcher und eine KZ-Mütze über einer Fotoecke. Männer in SS-Uniformen treiben im Videoschauspiel Häftlinge an, Lastwagen zu entladen, Loren zu schieben. "Erlebnismuseum Wolfsberg" heißt die Seite. Sie führt direkt ins Reich des Bösen. Im einst von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen gegrabenen Stollensystem können Besucher heute: klettern, mit Booten fahren, mit Luftgewehren schießen. Auf Wunsch gibt's auch "Geschicklichkeitstraining an der Flugabwehrkanone".

Das "Dritte Reich" als Abenteuerspielplatz?

Das Angebot ist kein Spiel, der Ort real. Im äußersten Südwesten Polens ist die nationalsozialistische Vergangenheit ein großes Thema. Es hat zu tun mit einem Megaprojekt, das hier vor 75 Jahren unter strenger Geheimhaltung begann, als Niederschlesien noch zum Deutschen Reich gehörte.

Im September 1943 erging der Auftrag aus der Wehrmachtsadjutantur an die Organisation Todt (OT), die paramilitärische Bautruppe der Nazis. Im November rückten im Eulengebirge die ersten Arbeiter an. Sie schachteten Gräben, verlegten Schienen, befestigten Straßen; sie gossen Fundamente und trieben Dutzende Stollen ins Gestein. Auf gut 100 Quadratkilometern schufteten zeitweise rund 20.000 Menschen im waldreichen Mittelgebirge. Und doch waren sie zu wenige und waren zu langsam: Das Projekt "Riese", so der Codename, wurde nicht fertig.

Nach dem Krieg fiel das Gebiet an Polen. Was das Deutsche Reich ihm hinterließ: eine Riesenbaustelle. Sie beschäftigt die Menschen bis heute.

Baulärm dröhnt im Herbst 2018 vom Hang hinauf zum Schloss Fürstenstein nördlich von Walbrzych (früher Waldenburg) - letzte Vorarbeiten für die Öffnung von "Hitlers Tunnel". So nennen sie hier salopp den monströsen, verzweigten Hohlraum unter dem Schloss, jetzt die neue Attraktion des an NS-Bezügen reichen Niederschlesiens.

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Projekt "Riese": Seltsame Bauten im Wald

Foto: Michael Stürzer

Das Geschäft mit Hitler boomt. Es lebt von der Ungewissheit.

In den Dörfern am Wolfs-, Ramen- und Schindelberg sowie den Säuferhöhen kursierten schon während des Krieges Gerüchte. Wer dort wohnte, konnte die Bauleute mit dem Aufnäher "OST" für "Ostarbeiter" sehen; sah auch die Juden, wie sie in zerschlissener Häftlingskleidung im Straßenbau rackerten, bis sie zusammenbrachen. Nur wofür? Das konnte niemand sehen. "Kriegswichtige Produktion", munkelte man. Alles blieb geheim.

Als die meisten Deutschen Schlesien nach dem Krieg verließen, wucherten die Gerüchte: über chemische, biologische, gar nukleare Labore, über Experimente mit "Wunderwaffen". Tourguides im Eulengebirge erzählen bis heute von unaufgeklärten Geheimnissen, unentdeckten Stollen und Dokumenten, die angeblich noch immer unter Verschluss seien.

"Es gibt so viele Märchen hier"

"Mittlerweise sehen die Leute überall Stollen, selbst wenn es sich nur um Vorarbeiten für eine Wasserleitung handelt", sagt Peter Kruszynski, 64. Er sucht schon sein Leben lang nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Legende: "Es gibt so viele Märchen hier. Ich glaube nur, wofür es auch Beweise gibt."

Kruszynski wuchs in Walbrzych auf, als Junge erkundete er Luftschutzbunker und Stollen. In Nachkriegszeitungen war vermutet worden, die Deutschen hätten in den Stollen Hitlers "Wunderwaffe" V2 produziert und Uranerz abgebaut. Doch auch als er in den Siebzigerjahren fürs Bezirksmuseum die Stollen vermaß und akribisch dokumentierte, fand Kruszynski nichts, was darauf hindeutete. Die Neugier blieb, als er in den Achtzigerjahren in die Bundesrepublik übersiedelte - nun konnte er auch in deutschen Archiven forschen.

Foto: SPIEGEL ONLINE (Mapbox / Kartendaten © OpenStreetMap-Mitwirkende (ODbL))

Die Volksrepublik Polen indes wusste wenig mit dem seltsamen NS-Erbe anzufangen, nachdem ihre Atombehörde die Stollen in den Siebzigerjahren als ungeeignet für Nuklearabfälle befunden hatte.

Interessant erschien das Projekt "Riese" erst wieder, als mit dem Ende des Kommunismus Tausende ihre Jobs in der Textilindustrie der Region verloren. Der Tourismus bot neue Chancen; Höhlen, Festungen und Militärobjekte hatten schon andernorts Anziehungskraft bewiesen.

Platz für 20.000 Menschen

Doch ganz so einfach war es nicht. "Wir ließen Prospekte mit schönen Fotos drucken", erinnert sich Zdzislaw Lazanowski, seit 1995 Direktor des Stollenmuseums Osowka , an die ersten Tourismusmessen. "Die Deutschen griffen zu, doch als sie 'Zweiter Weltkrieg' lasen, gaben sie die Flyer gleich zurück." Jetzt sei das ganz anders.

Neue Nahrung erhielten die Spekulationen um "Riese" mit dem Tod von Siegfried Schmelcher. Im Nachlass des früheren OT-Hauptbauleiters fanden sich Papiere mit den Bezeichnungen "Geheime Reichssache Nr. 91/44" und "Nr. 121/45". Die Auswertung veröffentlichten Franz W. Seidler und Dieter Zeigert 2000 im Buch "Die Führerhauptquartiere": Bei den Schmelcher-Papieren handelte es sich demnach um die "wichtigsten Daten" aller von der Organisation Todt verantworteten Unterkünfte für Hitler sowie Teile der Wehrmacht.

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Hitlers Hauptquartier: Platz für 20.000 Menschen

"Riese" reihte sich damit ein in eine Liste von mehr als 20 teils fertiggestellten, teils erst geplanten Bunkeranlagen in Deutschland, Belgien, Frankreich, Polen und der Sowjetunion. Das Projekt im Eulengebirge aber sprengte jede Dimension: Die Arbeits- und Wohnquartiere für den "Führer" und seine Entourage, das Oberkommando des Heeres und der Luftwaffe, den Reichsführer SS, den Reichsaußenminister sowie Hilfs- und Sicherungskräfte sollten Platz für 20.000 Personen bieten.

Die Nutzfläche, davon ein Fünftel in Stollen, war mit 194.232 Quadratmetern veranschlagt, was "1618 Reihenhäusern mit einer Wohnfläche von 120 Quadratmetern" entspreche, wie die Autoren ausrechneten. Behauptungen über unterirdische Fabriken in den Stollen seien dagegen wohl nur gestreut worden, um den wahren Zweck zu verschleiern.

Die Spekulationen blühen trotzdem weiter.

14 Meter hoch ragt der Nachbau einer V2 an der Straße zwischen Rzeczka (früher Dorfbach) und Walim (Wüstewaltersdorf) und markiert den Parkplatz vor einer weiteren "Riese"-Anlage . Gesichtet oder gar produziert wurde die Großrakete hier nie, das weiß Museumsleiter Marcin Pasek. Das Modell erinnere "an die Vermutungen, die es hier seit den Fünfzigerjahren gibt". Und macht natürlich Eindruck. Auch wenn es hier historisch gar nicht hingehört?

Einträgliche Legenden

"Das ist wie die Geschichte mit dem Goldzug", sagt Pasek verschmitzt lächelnd, "die Legende hilft." Tatsächlich erlebten die Stollenmuseen einen Besucherboom, seit 2015 TV-Teams aus aller Welt im "Riese"-Gebiet der spektakulären Freilegung eines verborgenen Panzerzuges beiwohnen wollten, der aber nicht gefunden wurde.

"Einigen Leuten in der Region mag die Sache peinlich gewesen sein", sagt Peter Kruszynski, der die Story vom versteckten Zug seit Jahrzehnten in allen Varianten kennt, "die Mehrheit aber sieht das pragmatisch: Es ist gut für Walbrzych." Denn so kommen Hobbyarchäologen und stecken ihr Geld in Ausgrabungen, die sich die Kommunen nie leisten könnten. Schon dafür lohnt sich die Aufrechterhaltung der Mythen.

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NS-Mythen: Legenden von Wunderwaffen

Foto: Solveig Grothe

Schatzsucher seien willkommen, "sofern sie alle notwendigen Genehmigungen der polnischen Behörden haben", sagt Museumsdirektor Lazanowski. Das sei wichtig, eine illegale Grabung kostete fast einen Pilzsammler das Leben. Seit 2017 sind im Naturschutzgebiet außerdem Metallsuchgeräte verboten.

Beim Geschäft mit dem NS-Erbe locken Legenden eben mehr als nüchterne Fakten. "Aber es gibt Grenzen", sagt Lazanowski. Das von ihm geführte Museum gehört der Stadt Gluszyca (Wüstegiersdorf). "Wir wollten keinen Erlebnispark, auch wenn man damit mehr verdienen könnte. Hier haben Menschen gearbeitet und gelitten."

Schlossbewohnerin seit 83 Jahren

Neben Freiwilligen und Zwangsarbeitern waren dies rund 13.000 KZ-Häftlinge, Juden aus ganz Europa, vor allem aus Ungarn, Polen und Griechenland. Etwa 5000 überlebten die "Riese"-Arbeitslager nicht, "die Zahlen könnten noch steigen", erklärt Dorota Sula vom Museum des früheren KZ Groß-Rosen . Derzeit würden zuvor unbekannte Transportlisten aus einem Prager Archiv ausgewertet.

Anders als Verschwörungstheoretiker und manche Touristenführer behaupten, kann die Historikerin nicht bestätigen, dass "Riese"-Akten unter Verschluss gehalten würden. Es sei vielmehr so, dass die Forschung etwa bei der Auswertung von Häftlings- und Zeitzeugenberichten noch weitgehend am Anfang stehe. Das Museum war erst 1983 gegründet worden, "weil man im Kalten Krieg nicht sicher war, ob das Gebiet bei Polen bleiben würde." Auch die Finanzierung von Museen wie in Groß-Rosen sei schwierig. Ein früheres KZ ist nun einmal nicht das, was Touristen nach Schlesien zieht.

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Anders als Schloss Fürstenstein (siehe Video). Jährlich kommen fast eine halbe Million Besucher - nicht nur, aber auch wegen der NS-Vergangenheit. Das Interieur hatte schwer gelitten, nachdem 1944 aus dem Adelssitz ein NS-stilechtes Gästehaus des Außenministeriums werden sollte. Der Kriegsverlauf verhinderte den völligen Umbau. Noch heute klafft im Inneren wie eine schlecht verheilte Narbe der Fahrstuhlschacht, der von Hitlers Gemächern in den bombensicheren Untergrund führen sollte - jene Luftschutzstollen, die neuerdings zugänglich sind.

Eine weißhaarige Dame auf Schloss Fürstenstein beobachtet den Hype um "Hitlers Tunnel" gelassen: Doris Stempowska lebt hier schon seit 83 Jahren. Vor dem Krieg arbeitete ihr Vater als Touristenführer. Als die Schlossführungen eingestellt wurden, sollte die Familie Fürstenstein verlassen, fand aber keine andere Wohnung. So wurde die damals Neunjährige Zeugin der plötzlichen Aktivitäten rund ums Schloss - und war doch zu jung, um zu verstehen, was passierte.

"Die spielen Krieg!"

In Erinnerung geblieben ist ihr "ein großes Durcheinander": der Schlosshof abgesperrt, Baumaterial überall im Park, Männer in OT-Uniformen, Zivilisten - und Häftlinge, die zum Betteln kamen. Von früh bis spät hörte die kleine Doris "Schüsse": unterirdische Sprengungen, wie sie später erfuhr. Über Nacht verschwanden die OT-Männer, der Krieg war aus. Die Mutter ging nachschauen. Im Schlosshof war ein riesengroßes Loch - ein Schacht zu den Stollen.

Die Familie blieb. Zur Flucht vor der Roten Armee sei es zu spät, befand der Vater, der Arbeit bei einer Kohlegrube hatte. Nach seinem Tod wäre die Tochter beinah umgesiedelt, bekam aber einen Job in der Erdbebenwarte am Schloss. Also blieb Doris Stempowska. Es habe sie nie in den Untergrund gezogen, sagt sie. Ob sie die jetzt geöffneten Tunnel besuchen wird? "Naja. Ehrlich gesagt, für mich ist das nicht so interessant."

Unfreiwillig wurde Stempowska selbst Teil der Legende, als die Spekulationen um "Hitlers Tunnel" vor einigen Jahren einen absurden Höhepunkt erreichten: In der Lokalpresse verdächtigte ein Autor sie, die Deutsche, die schon so viele Jahrzehnte auf dem Schloss lebe, dort Nazi-Geheimnisse zu hüten. Ihr Arbeitgeber riet ihr, sich juristisch zu wehren. Stempowska ließ es, weil sie befürchtete, dass sich selbst dafür falsche Zeugen fänden.

Vom Geschäft mit Hitlers Hinterlassenschaften zeugen auch fragwürdige Versuche des Nachspielens historischer Ereignisse. Historikerin Dorota Sula erinnert sich, wie sie mit einem früheren KZ-Häftling ein Stollenmuseum besuchte, in dem man das Eintreffen der Roten Armee nachstellte. "Die spielen Krieg!", rief der Mann entsetzt und wandte sich erschrocken ab.

Doch Zeitzeugen, die das "Riese"-Gebiet besuchen, werden immer weniger.

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