
Pyramiden auf Spitzbergen Wo Lenin noch immer regiert


Von Weitem, lange bevor das Schiff die Anlegestelle erreicht, erwartet Alexander Romanowski bereits seine Gäste. Einsam, in einem alten sowjetischen Uniformmantel, mit Fellmütze, Stiefeln und geschultertem Gewehr. Romanowski, von allen nur Sascha genannt, ist erst Mitte 20, durch seinen langen Bart wirkt er aber älter.
Nachdem das Schiff angelegt hat, begrüßt Sascha die Touristengruppe. Nicht ohne Stolz verkündet der Fremdenführer, dass sich die Besucher nun in der nördlichsten Geisterstadt der Welt aufhalten - Pyramiden, eine aufgegebene sowjetisch-russische Bergbausiedlung auf der arktischen Insel Spitzbergen.
Reichhaltige Kohlevorkommen hatten die Sowjets in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an diesen Ort geführt, wie Sascha routiniert erklärt. Der Spitzbergen-Vertrag von 1920 gewährte Norwegen zwar die volle Souveränität über den Archipel Spitzbergen, allerdings erhielten die unterzeichnenden Nationen wie die Sowjetunion das Recht zur Ausbeutung von Bodenschätzen.
Einsam wacht Genosse Lenin
Nach dem Zweiten Weltkrieg baute die Sowjetunion die Siedlung Pyramiden, die nach dem benachbarten Berg mit seiner pyramidenähnlichen Form benannt wurde, massiv aus. Über tausend Menschen lebten und arbeiteten seit den Fünfzigerjahren dort. Mitten im Kalten Krieg war Pyramiden als nichtmilitärischer Außenposten auf Nato-Territorium von geostrategischer Bedeutung. Erst 1997 beschloss Russland, die Kohleförderung an diesem Ort aufzugeben, der Abbau war zu kostspielig geworden. Die Bewohner kehrten heim in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Ort verfiel zur Geisterstadt - bewohnt von Eisbären, Möwen und den zurückgelassenen Katzen.
Auch heute noch wacht der Genosse Lenin an Pyramidens zentralem Platz über die Gebäude. Im Gegensatz zu vielen Orten im ehemaligen Ostblock wurde die Büste des Gründers der Sowjetunion in Pyramiden nicht entfernt. Das Haus der Kultur im Rücken, blickt Lenin auf das Schwimmbad, das Krankenhaus, die Minenverwaltung, einen Kindergarten und die Schule.
In einem Klassenzimmer platzt die Farbe von der Wand, am Pfosten eines Tores auf dem Fußballfeld liegt ein einsamer Fußball - fast so, als wäre hier vor Kurzem noch gekickt worden. Jahrelang nagten Kälte und Stürme an dem Geisterstädtchen, seit 2006 ist Pyramiden wieder bewohnt - ein wenig zumindest. Rund acht Mitarbeiter des staatlichen russischen Bergbauunternehmens Arctigucol leben hier, darunter der Fremdenführer Sascha. Touristen sollen heute gewissermaßen die Kohle bringen.
Durchschnittlich hundert Besucher kommen mittlerweile in den eisfreien Sommermonaten nach Pyramiden - täglich. Die Anreise von Longyearbyen, dem Hauptort Spitzbergens, dauert per Schiff etwa drei Stunden. Die meisten Gäste reisen noch am selben Tag wieder ab. Wer länger bleibt, quartiert sich im Hotel Tulip ein. Das wurde inzwischen renoviert und ist das einzige Gebäude, welches heute tatsächlich genutzt wird.
Reise in die Sowjetzeit
Das Hotel versetzt den Besucher in die Zeit des Kommunismus. Der Holzboden knarzt, und die Speisekarte leistet mit der eingeschränkten Auswahl eine kulinarische Erinnerung an die vergangene sowjetische Mangelwirtschaft. Der Besucher kann, neben modern ausgestatteten Zimmern auch in Räumen im "Soviet Style" übernachten, um von den tagsüber gewonnenen Eindrücken zu träumen.
Wie dem Haus der Kultur. Sein Saal fungierte auch als Kino - im Vorführraum lassen sich noch etliche Filmrollen sowie ein großer Haufen abgerollter Filme finden. Auch die Bibliothek, eine Turnhalle mit Fitnessraum, ein Musizierzimmer und ein Ballettraum vermitteln den Eindruck, als würden die ehemaligen Nutzer gleich wieder zurückkehren.
Die Gebäude in Pyramiden sind per Steg miteinander verbunden. Darunter versorgten früher Versorgungsleitungen die Häuser mit Wärme. Der Grund: Der Boden auf der Insel ist ganzjährig gefroren. Im Winter bot dies den Vorteil, dass die Heizungsrohre die Stege schnee- und eisfrei hielten.
Auf einem solchen Steg lässt sich auch das große Verwaltungsgebäude erreichen. Darin befindet sich noch immer die Steuerungsanlage für die Kohleförderung, Unmengen an Akten und Papieren haben die Menschen bei der Aufgabe der Stadt zurückgelassen. Sowie zahllose Grünpflanzen, die, sich selbst überlassen, schnell durch die Kälte umkamen. Ihre Überreste tragen zu dem gespenstischen Eindruck des Hauses bei.
Besuch vom Eisbären
Ähnlich ist das Gebäude, in dem früher die Minenarbeiter untergebracht waren. Jeder von ihnen hatte nur wenige Quadratmeter zur Verfügung, alle Räume waren wie im Bienenstock nahezu identisch geschnitten. Mit selbst gebasteltem Mobiliar und an die Wand geklebten Bildern aus Zeitschriften versuchten die Männer, ihren Unterkünften etwas Individualität und Wohnlichkeit zu verleihen.
Nach und nach erobert die Natur trotz aller Reparaturbemühungen Teile Pyramidens zurück - vor allem die Einrichtungen zur Kohleförderung. Ihre Instandhaltung wäre zu teuer. Besonders eindrücklich ist dies beim sogenannten Bird Castle, dem ehemaligen Wasserwerk, zu sehen: Es dient heute Tausenden Möwen als Nistplatz.
Auch größere und weitaus gefährliche Tiere streifen bisweilen durch Pyramiden: Eisbären. Deshalb ist die Waffe, die Sascha stets mit sich führt, keine Folklore. Ganz Spitzbergen ist Eisbärengebiet, überall und ständig sollte man mit den gefährlichen Tieren rechnen. Sascha erzählt, dass vor ein paar Jahren ein Exemplar in das Hotel Tulip eingebrochen ist und in Bar und Restaurant herumgestrolcht ist.
Sascha lebt übrigens nicht dauerhaft in Pyramiden. Im arktischen Winter mit klirrender Kälte und monatelanger Dunkelheit bleiben von den Bewohnern nur zwei bis drei in der Geisterstadt, um die Siedlung vor Schäden durch Schnee und Frost zu schützen. Sascha zieht es dann in wärmere Regionen.
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Fernblick: Einsam steht diese Büste des sowjetischen Revolutionärs Lenin in der Geisterstadt Pyramiden auf Spitzbergen in der Arktis. Ende der Zwanzigerjahre erlaubte der Spitzbergenvertrag der UdSSR den Abbau von Kohle auf der norwegischen Insel, Ende der Neunzigerjahre gab Russland die unrentabel gewordene Kohleförderung auf. Fotograf Jörg Rüger hat die verlassene Bergarbeitersiedlung besucht.
Wachsam: Mittlerweile ist die Geisterstadt ein Touristenziel. Bis zu hundert Neugierige kommen in den Sommermonaten täglich in die Siedlung. Begrüßt werden sie von dem Touristenführer Alexander Romanowski, kurz Sascha genannt. Sein Gewehr trägt er aus gutem Grund. Jederzeit kann man in Pyramiden unverhofft auf einen Eisbären treffen.
Verfall: Lediglich Teile Pyramidens sollen für die ausländischen Touristen erhalten werden. Insbesondere die Anlagen zur Kohleförderung sind dem Verfall preisgegeben. Ihre Bewahrung wäre zu kostspielig.
Arbeitsweg: Dieser Schacht führte die Arbeiter zu den Kohleflözen des Berges, gleichzeitig wurde die gehauene Kohle hier herunter befördert.
Herberge: Das Hotel Tulip ist das einzige renovierte Gebäude, das heute noch genutzt wird. Besucher können in sowjetisch anmutenden Zimmern übernachten, es gibt aber auch moderne Zimmer.
Kalte Küche: In diesem mit einem Mosaik geschmückten Gebäude befand sich die Kantine.
Kunstbedarf: Der wohl nördlichste Konzertflügel der Welt steht immer noch in Pyramiden. Seit 1998 hat es in der Geisterstadt keine Konzerte mehr gegeben.
Lehranstalt: In der Schule erlernten die Kinder Pyramidens das Lesen und Schreiben. Von der Unordnung abgesehen, sieht der Unterrichtsraum aus, als würden die Schüler jeden Augenblick zurückkehren.
Gelege: Hunderte Möwen haben dieses Gebäude oberhalb der Siedlung als Nistplatz ausgewählt. Die Natur erobert das Terrain zurück.
Ertüchtigung: Sport spielte offenbar eine große Rolle in Pyramiden. Ein Schwimmbad, eine Turnhalle, eine Schießbahn und dieser Fußballplatz zeugen davon.
Wassersport: Das Schwimmband bot ein großes und ein kleines Becken.
Bedrohlich: Im Hotel Tulip gibt es einen kleinen Museumsraum. Das beeindruckendste Exponat ist dieser Eisbär.
Karg: Die Zimmer der Arbeiter waren bescheiden eingerichtet. Wandkalender oder Poster sollten den Räumen eine persönliche Note geben.
Ruhestätte: Auch einen Friedhof besitzt die Siedlung. Die Toten im Permafrostboden der Arktis zu bestatten, war eine besondere Herausforderung.
Gigant: Ein pyramidenhafter Berg gab der Siedlung einst den Namen, hier der Blick von dort oben herunter.
Entertainment: Auch ein Kino gehörte zum Freizeitangebot in der Bergarbeitersiedlung. Wenn es keine Konzerte oder andere kulturelle Angebote im Kulturhaus gab, wurden dort Filme gezeigt.
Law and Order: Arrestzellen dienten der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.
Kraftsport: Zum Kulturhaus gehörte eine weiträumige Sportanlage mit Turnhalle und Fitnessraum.
Reih und Glied: Eine beklemmende Atmosphäre in dem Raum, in dem die Betten, kleinen Stühle und Töpfchen in militärischer Präzision aufgereiht waren.
Verbindungslinien: Die Versorgungsleitungen waren wegen des Permafrostbodens oberhalb der Erde verlegt. Darüber wurden Stege gebaut, die dann wegen der Abwärme auch im Winter frostfrei waren.
Unterhaltung: In diesem Zimmer fanden sich zahlreiche Instrumente, die zum Zeitvertreib genutzt wurden.
Sicherheit: Um die Arbeiter vor Unfällen zu bewahren, fanden in diesem Raum Schulungen statt. Auf dem Tisch stehen Atemschutzgeräte.
Tristesse: Derart eintönig waren viele der Räume in Pyramiden gestaltet.
Der Nächste, bitte: In den Sommermonaten führt Touristguide Sascha zahlreiche Besucher durch Pyramiden.
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