
Popperfoto/Getty Images
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"Wenn dir in meinem Alter morgens nichts wehtut, dann bist du tot", sagt Eddy Merckx. Und dann lacht er. Klar, das wäre ja auch noch schöner, wenn ausgerechnet einem wie ihm banale Schmerzen auch nur das Geringste ausmachen würden. Am 17. Juni wird Édouard Louis Joseph Baron Merckx 70 Jahre alt, aber ein Radprofi mit seiner Fähigkeit, Leiden zu ignorieren, mit seinem Siegeswillen und -hunger ist auch 37 Jahren nach seinem letzten Profirennen nicht in Sicht.
Eddy Merckx gewann seine Rennen zwischen 1965 und 1978 nicht mit nüchternem Kalkül, sondern brutaler Energie. Er fuhr immer am Anschlag. In einem großen Etappenrennen einen Vorsprung zu verwalten - man hätte ihm das nicht erklären können. Merckx sieht sich selbst aber nicht als Ausnahme. "Sehen Sie", sagt er, "ich bin auf diesem Planeten geboren, ich bin kein Außerirdischer. Also kann es sicher mal wieder einen geben, der so viel Ehrgeiz und Disziplin hat wie ich einst."
Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Schon gar nicht bei der Tour de France: Bei seiner ersten Grande Boucle 1969 übernahm er nach der sechsten Etappe am Ballon d'Alsace die Führung und gab sie nicht mehr her. In den Pyrenäen attackierte er im Gelben Trikot am Tourmalet und fuhr solo auf den noch 130 Kilometern bis ins Ziel knapp acht Minuten Vorsprung heraus. Taktisch völliger Unsinn, aber Merckx hatte mit Taktik nie viel am Hut. Am Ende gewann er bei seiner ersten Tour nicht nur die Gesamtwertung, sondern auch noch sieben Etappen, die Bergwertung und das Trikot für den besten Sprinter. In Paris hatte er knapp 18 Minuten Vorsprung vor dem Franzosen Roger Pingeon. Normal reicht das für drei Toursiege. Mindestens. Danach nannte man ihn den "Kannibalen".
Als sei es das Letzte
Die Bezeichnung war treffend: Merckx konnte mit seinem Programm Dauerattacke Gegner körperlich zerstören. Und hätte dabei beinahe sich selbst umgebracht. Den Giro d'Italia 1968 fuhr er mit einer lebensbedrohlichen Herzerkrankung zu Ende. Merckx bestritt auch danach jedes Rennen, als sei es sein letztes. Egal ob große Rundfahrt, Eintagesklassiker oder eine kurze Strecke irgendwo in der Provinz - Eddy Merckx wollte gewinnen. Und er tat es öfter als jeder andere. Bis heute hält er zwei Tour-de-France-Rekorde: 111 Tage im Gelben Trikot und 34 Etappensiege. Sein Stundenweltrekord mit einem normalen Bahnrad 1972 in Mexiko (49,431 Kilometer) hielt unter vergleichbaren Bedingungen 30 Jahre.
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Eddy Merckx allerdings war kein Heiliger, schon gar nicht in Sachen Doping. Drei positive Tests begleiten seine Karriere. Doping damals, das waren in aller Regel Stimulanzien oder Schmerzmittel, die großen Anschieber wie Epo oder synthetische Wachstumshormone, die Drogen der Armstrong-Ära, gab es schlicht noch nicht. Das macht es natürlich nicht besser, aber die sportliche Extraklasse des Belgiers war sicher kein reines Laborprodukt, die damaligen Mittel taugten im Vergleich zu denen heute kaum zur Steigerung der Leistung.
Auch wenn es wehtut
Es war eben eine andere Zeit, auch eine voller Widersprüche. Eddy Merckx, der Asket und Nichtraucher, machte Werbung für Zigaretten, die ihm angeblich schmeckten. Trotz dieser merkwürdigen Eskapaden wuchs er zum Mythos: In Brüssel gibt es eine U-Bahn-Station mit seinem Namen, der Mann ist auf einer Briefmarke verewigt und seit 1996 ein leibhaftiger Baron. Merckx wird noch immer verehrt, gibt bei großen Jedermann-Rennen den Mitorganisator und tritt bei Weltmeisterschaften als Botschafter oder Moderator auf. Überall wird der große Merckx eingeladen und der bescheidene Eddy begrüßt.
Mit einer Ausnahme. 2007 wurde er einmal ausgeladen. Stuttgarts Sportbürgermeisterin Susanne Eisenmann hatte den vom Radsport-Weltverband UCI zum besten Radrennfahrer des 20. Jahrhunderts gekürten Merckx wegen seiner Dopingvergangenheit bei der WM in Stuttgart zur unerwünschten Person erklärt. Das ärgert ihn heute noch.
Im Sattel sitzt er noch immer - etwa 7000 Kilometer im Jahr. Er ist sich für keine Quälerei zu schade, auch wenn ihm nach einem Sturz 2014 immer noch das Knie schmerzt. 1997 fuhr Merckx mit seinem Freund und Geschäftspartner Wolfgang Renner als 52-Jähriger mit dem Rad durch Tibet. Renner schwärmt noch heute: "Ich wurde auf 4500 Meter Höhe jeden Tag ein bisschen schwächer, Eddy immer stärker."
Feiern will der bescheidene Belgier am 17. Juni nicht groß. Eine Runde Rad mit seinen alten Freunden, eine Flasche Wein, das würde ihm reichen. "Ich brauche keinen Rummel", sagt er, "aber ich denke, es wird nicht ganz ohne gehen." Danach wird er sich wieder seiner Familie widmen, seiner Frau Claudine, mit der er seit 48 Jahren verheiratet ist, den Kindern Axel (selbst Profi von 1993 bis 2007) und Sabrina und seinen fünf Enkeln. Und er wird weiter Rad fahren, auch wenn ihm morgens ab und zu etwas wehtut. Oder gerade deshalb.
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Starkes Debüt: Merckx wird 1964 Amateurweltmeister - sein erster ganz großer Erfolg.
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Eingebaut: Auch das gab es - Eddy Merckx nicht an der Spitze, sondern im Feld bei den UCI-Straßen-Weltmeisterschaften 1970. (Dritte Reihe Mitte).
Familientreue: Eddy Merckx 1970 mit seiner Frau Claudine und Tochter Sabrina. Die Familie hielt immer zusammen, Merckx ist seit 48 Jahren verheiratet und hat fünf Enkel.
Erste große Rundfahrerfolge: Eddy Merckx gewann beim Giro d'Italia 1968 drei Etappen.
Klassiker: Eddy Merckx (vorne) siegt im April 1965 beim Frühjahrsklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich, der damals noch auf der Radrennbahn des Rocourt-Stadions endete. Insgesamt gewann Merckx das Rennen fünf Mal - bis heute ist das Rekord.
Doping: Beim Giro d'Italia 1969 wird Merckx vor der 17. Etappe wegen Dopings suspendiert und bricht ob der Nachricht in Tränen aus. Bis heute beteuert er in diesem Fall seine Unschuld. Man habe ihm etwas anhängen wollen, weil er souverän in Führung lag, behauptet er. Die Sperre war kurz, ein paar Wochen später gewann er seine erste Tour de France.
Popularität: Eddy Merckx, der Weltstar. Sogar in den nicht gerade als Radsportnation bekannten Vereinigten Arabischen Emiraten ziert er eine Briefmarke.
Knie und Kreuz: Kurz vor dem Start der Tour de France 1970 lässt sich Merckx von seinem Pariser Leibarzt Dr. Queguinier erklären, warum es manchmal wehtut.
Andere Zeiten: Nichtraucher Merckx macht Werbung für die Marke R6 - und nennt das Rauchen allgemein und die Kippe an sich eine "vernünftige Wahl".
Weltmeister: Im September 1971 sichert sich Eddy Merckx im schweizerischen Mendrisio den zweiten von insgesamt drei WM-Titeln auf der Straße.
Kannibale: Merckx - hier beim Zeitfahren bei der Tour de France 1974 - ist mit 530 Siegen der erfolgreichste Mann in dieser Sportart.
Corbis
Siege, Siege, Siege: Eddy Merckx (M.) auf dem Podium der Tour de France 1974. Der Kannibale gewann acht der 21 Etappen und siegte am Ende vor dem Franzosen Raymond Poulidor (l.) und Vicente Lopez-Carril aus Spanien.
Reifer Superstar: Giro d'Italia 1976, 20. Etappe: Vigio di Fassa-Terme di Comano. In diesem Jahr gewann Merckx in Mailand-Sanremo sein letztes großes Profirennen.
Härte zeigen: Zimperlich war Eddy Merckx nie. Hier verarztet er sich selbst bei einem Sechstagerennen.
Rennfahrerblut: Eddy Merckx' Sohn Axel (l.) war ebenfalls ein guter Profi, wenn auch nicht annähernd so erfolgreich wie sein Vater. 1994 fuhr Merckx Junior für das deutsche Team Telekom, die Fahrräder für das Team lieferte ebenfalls der Papa.
Auszeichnung: 2011 wird Merckx von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy (l.) für seine Karriere und vor allem für seine fünf Siege bei der Tour de France zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt. Ein am Hals doch ziemlich enger Orden und damit ungeeignet zum Radfahren.
Mitorganisator: Der aktuelle Merckx. Hier erklärt er den Profis bei der Tour of Oman im Februar 2015, dass die fünfte Etappe wegen eines Sandsturms abgesagt wird. Als Profi wäre er wohl eher gefahren.
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