
RAF-Aussteiger: Unterschlupf in der DDR
RAF in der DDR "Die wichtigsten Jahre in meinem Leben"
Fünf Polizisten der untergehenden DDR sorgten für die größte Überraschung in der gesamten Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF). Am 6. Juni 1990 observierten Ermittler einen Plattenbau in der Rosenbecker Straße 3 im Ostberliner Stadtteil Marzahn. Nachdem eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und Pagenschnitt in dem Haus verschwunden war, klingelten sie an der Wohnung 0201, bei "Becker".
"Um einen Sachverhalt zu klären", wie es die Kriminalisten ausdrückten, sollte Frau Becker bitte mitkommen. "Ich möchte gleich zu Beginn meiner Befragung erklären", gab diese kurz darauf zu Protokoll, "dass meine eigentliche Identität nicht die der Becker, geborene Jäger, Ingrid ist." Ihr wahrer Name, sagte sie im Zentralen Kriminalamt in Berlin-Hohenschönhausen, sei Susanne Albrecht.
Obwohl sie umgehend festgenommen wurde, fiel von Albrecht eine schwere Last: Knapp zehn Jahre lang hatte sie in der DDR gelebt - als Mensch ohne Vergangenheit. Über ihr Vorleben hatte niemand etwas wissen dürfen, nichts darüber, dass sie Hamburgerin und bei der RAF war - nicht einmal ihr Mann. Sie hatte Angst, verrückt zu werden.
Seit sie im Juli 1977 Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt, die RAF-Mörder von ihrem "Onkel Jürgen" Ponto, dem Vorstand der Dresdner Bank, in dessen Haus geführt hatte, hatten die Fahnder des Bundeskriminalamts (BKA) fieberhaft nach ihr gesucht. Mal hieß es, sie lebe in Beirut, mal sollte sie in Nicaragua untergetaucht sein. Nichts davon stimmte. Albrecht hatte im Arbeiter- und Bauernstaat Asyl gefunden. Und nicht nur sie.
Asyl beim kleinen Bruder
Sechs Tage nach ihr wurde die einstige RAF-Frau Inge Viett in Magdeburg festgenommen; zwei Tage drauf in Frankfurt (Oder) Monika Helbing und Ekkehard von Seckendorff-Gudent sowie in Senftenberg Christine Dümlein und Werner Lotze; einen Tag später Sigrid Sternebeck und Ralf Friedrich in Schwedt an der Oder. Schließlich holten DDR-Polizisten am 18. Juni 1990 Silke Maier-Witt und Henning Beer in Neubrandenburg ab. Da waren es dann zehn RAF-Aussteiger. Sie alle hatten beim "kleinen Bruder", wie die DDR bei der RAF intern hieß, Asyl bekommen.
Unerwartet. Denn der Plan hatte eigentlich anders ausgesehen.
"Fehler" müssen weg
Nachdem Bundeskanzler Helmut Schmidt der RAF im Herbst 1977 die entscheidende Niederlage beigebracht hatte, wollten zwei Jahre später acht Illegale die RAF verlassen. "Ich hatte zu viel Angst, irgendetwas zu machen", sagte einer von ihnen später. Susanne Albrecht selbst war nur dabeigeblieben, weil sie nicht wusste, wie sie sich allein in der Illegalität hätte halten können. Sie war dafür kritisiert worden, dass sie keinerlei Initiativen entwickelte. Die Überzeugten nannten die Zaudernden "Fehler". Sie in die RAF aufzunehmen, sei ein Fehler gewesen.

RAF-Aussteiger in der DDR: Neue Heimat für Terroristen
Das RAF-Führungspaar Mohnhaupt und Klar suchte nach einer Möglichkeit, die "Fehler" sicher in einem sozialistischen Land in der Dritten Welt unterzubringen. Doch dazu kam es nicht.
Inge Viett hatte im Frühjahr 1978 auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld den Stasi-Major Harry Dahl kennengelernt; dieser leitete damals die für Terrorabwehr zuständige Hauptabteilung XXII. Ende Mai 1980 trafen sich die beiden in Ost-Berlin wieder. Sie sprachen über die Möglichkeiten, sich ins Ausland abzusetzen. Doch der Stasi-Mann hielt Afrika für zu unsicher. Stattdessen schilderte er dem Stasi-Chef Erich Mielke das Problem, und der Genosse Minister sagte nur: "Dann bleiben sie doch einfach hier."
So kam es. Wenige Wochen nach der Asyl-Offerte begaben sich die acht Aussteiger in drei Gruppen von der Bretagne auf Umwegen nach Prag, wo ihnen Inge Viett eröffnete, dass sie künftig in der DDR leben würden. Eine "freudige Überraschung" war das für Sigrid Sternebeck. "Die Sprache würde vieles erleichtern."
Heirat mit der Stasi
Ab Mitte August 1980 reisten die RAF-Aussteiger mit von der Stasi gefälschten Pässen der Bundesrepublik in kleinen Gruppen in die DDR, wurden eingebürgert und sammelten sich schließlich im "Konspirativen Objekt 74" ihrer Stasi-Betreuer, einem Forsthaus unweit von Briesen bei Frankfurt (Oder). Hier mussten sie sich detaillierte Legenden ausdenken. Sie waren nun in Madrid, London oder Amsterdam geboren und aus politischer Überzeugung in die DDR übergesiedelt. Zur Übergabe der Staatsbürgerschaftsurkunden organisierten die MfS-Betreuer eine kleine Feier.
Susanne Albrecht hieß nun "Ingrid Jäger", war in Madrid geboren und wegen ihrer Ablehnung des Kapitalismus in die DDR übergesiedelt. Sie begann ein Fernstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität, um Englischlehrerin zu werden. Silke Maier-Witte schrieb sich in Erfurt für den "Facharbeiter Krankenpflege" ein. Werner Lotze und Christine Dümlein waren "Manfred und Katharina Janssen", sie Sekretärin der Betriebsberufsschule des VEB Synthesewerk Schwarzheide, er "Ofenfahrer" im Dreischichtsystem. Lotze wurde später Schichtleiter - und, als begeisterter Ruderer, Trainer bei der Sportgemeinschaft Dynamo Senftenberg.
Langsam erholten die Aussteiger sich von den Strapazen der Illegalität und lebten das kleine Glück der DDR. Sie waren allerdings der Staatssicherheit ausgeliefert, die sie umfassend überwachte. Als Seckendorff und Helbing heirateten, fungierten zwei Stasi-Offiziere als Trauzeugen. Die MfS-Männer führten alle Aussteiger als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und gaben ihnen Tarnnamen, die alle den Familiennamen "Berger" hatten.
Wie die Stasi die RAF-Aussteiger überwachte
Das Risiko war hoch: Ein Übersiedler glaubte, Silke Maier-Witt in Gestalt einer Kommilitonin namens Angelika Gerlach in Erfurt getroffen zu haben, und berichtete dies der westdeutschen Polizei. Ein Referatsleiter aus dem Bundesjustizministerium fragte daraufhin diskret bei einem ihm bekannten Kollegen aus dem DDR-Justizministerium nach. Er bekam die Antwort: "Die Überprüfung der von Ihnen benannten Person hat bestätigt, dass sie sich nicht in der DDR aufhält." Auf ein förmliches Rechtshilfeersuchen verzichtete die Bundesregierung, um ihre Entspannungspolitik nicht zu gefährden.
Ingrid Jäger, vormals Susanne Albrecht, lernte in Cottbus einen Physiker kennen und lieben. Sie heiratete Claus Becker und bekam einen Sohn. Doch als sie ihren Mann in das Geheimnis ihrer Vergangenheit einweihen wollte, untersagte das ihr Stasi-Betreuer. Nur bei gelegentlichen Besuchen von RAF-Genossen konnte sie sie selbst sein und offen sprechen. Allerdings hatte die Stasi ihre Wohnung verwanzt und hörte mit.
Im September 1986 lag ein anonymes Schreiben im Briefkasten ihrer Wohnung in Köthen: "Wie kann man nur mit so einer Vergangenheit leben?" Die Stasi fand schnell heraus, dass Kolleginnen im West-Fernsehen eine Dokumentation über die RAF gesehen und eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Susanne Albrecht und ihrer Kollegin Ingrid Becker festgestellt hatten.
Die Betreuer brachten Albrecht und ihren Sohn daraufhin in einem Einfamilienhaus in Wandlitz unter; dann besorgten sie ihr eine Wohnung in Marzahn und ihrem Mann eine Arbeit in Dresden. Da das den Stasi-Männern noch immer zu riskant war, sorgten sie dafür, dass Claus Becker im Februar 1988 nach Dubna delegiert wurde, rund hundert Kilometer nördlich von Moskau. Ingrid Becker und ihr Sohn Felix zogen mit um in die Sowjetunion. Das Ehepaar arbeitete nun am Vereinigten Institut für Kernforschung und kam nur noch in den Ferien in die DDR.
"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion
Nach ihrer Verhaftung im Juni 1990 schrieb Inge Viett einen Brief an ihr "Liebes Kollektiv", eine Hymne auf die DDR: "Ein Land, das sich die Werte, für die ich lebte, auf seine Fahnen, seine Verfassung und Gesetze geschrieben hat: Antifaschismus, Solidarität, Völkerfreundschaft und Kollektivität. Für diese gesellschaftlichen Ziele hab ich all die Jahre in der DDR mit großer Kraft gelebt und gearbeitet. Es sind die wichtigsten Jahre in meinem Leben."
Während es westdeutschen Bundesanwälten bis 1990 nicht gelungen war, die Mordserie der RAF im Jahr 1977 genauer aufzuklären, änderten sich die Bedingungen dafür mit den Festnahmen der Aussteiger in der DDR grundlegend. Den Ex-Terroristen war Strafminderung angeboten worden, wenn sie als Kronzeugen aussagten.
Um einer lebenslangen Haftstrafe zu entkommen, packten alle aus.