
Der Tod von Ruben Salazar und die Wut der "Chicanos"
David Fenton / Getty Images
Rassismus und Polizeigewalt 1970 "Du solltest besser aufhören, die Mexikaner aufzuwiegeln"
Die Tränengasgranate durchschlug den dicken Vorhang an der offenen Eingangstür der "Silver Dollar Bar" im Osten von Los Angeles und füllte den kleinen Raum sofort mit einer dichten Wolke. Die wenigen Gäste und die Barfrau flüchteten hustend zum Hinterausgang.
Auf dem Tresen stand noch ein frisch gezapftes Bier. Bestellt hatte es an diesem sonnigen Samstagnachmittag am 29. August 1970 Ruben Salazar, 42. Als Einziger blieb der wohl bekannteste US-mexikanische Journalist in der Bar zurück - tot. Das Tränengasprojektil traf ihn am Kopf. Ein Polizist hatte es blind und ohne Vorwarnung in die Bar gefeuert, wie Zeugen später vor Gericht berichteten.
Viele sind bis heute davon überzeugt, dass die Tragödie in Wahrheit ein Mord war. Begonnen hatte sie mit Ausschreitungen im drei Kilometer entfernten Laguna Park im Osten von Los Angeles, ausgelöst durch eine Polizeiaktion gegen eine friedliche Anti-Kriegs-Demonstration.
Tradition rassistischer Gewaltexzesse
Viele Teilnehmer empfanden das harte Vorgehen der Polizei als rassistisch motiviert. Die Gewalt erinnerte sie an frühere Exzesse, etwa im Zuge der Rassenunruhen des "Red Summer" in Chicago (1919), in Tulsa (1921), in Harlem (1943) und während der Bürgerrechtsbewegung in Birmingham (1963) oder Detroit (1967).
Als Reporter hatte Salazar die Proteste im Park dokumentiert, zog sich mit seinem Kamerateam aber zurück, als sie eskalierten. Die Demonstration stand unter dem Eindruck des Vietnamkriegs und der Präsidentschaft Richard Nixons - eine Art Trump seiner Zeit; Nixons Lügen in der Watergate-Affäre kosteten ihn später das Amt.
Damals wie heute richtete sich Rassismus in den USA auch gegen Mexikaner und ihre in den USA geborenen Nachkommen - die Chicanos. Salazar war einer von ihnen, geboren in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez und mit seiner Familie früh ins nahe US-amerikanische El Paso gezogen. In einer Zeitungskolumne schrieb Salazar 1970: "Was ist ein Chicano? Ein Chicano ist ein US-Mexikaner mit einem nicht angelsächsischen Bild von sich selbst."
Vom Kriegs- zum Gesellschaftsreporter
Als Latino und Journalist nahm Salazar sich Themen dieser ausgegrenzten Minderheit an, ein Exot in den Medien. Mit seinen Berichten über die täglichen Anfeindungen der Chicano-Gemeinschaft erklärte er deren Zerrissenheit einer weißen Mehrheitsgesellschaft. "Ich wollte mit den Leuten kommunizieren, über die ich so lange geschrieben hatte", sagte er in einem Interview kurz vor seinem Tod, "ich wollte versuchen, direkt und in ihrer Sprache mit der US-mexikanischen Gemeinschaft zu kommunizieren."
Salazar blickte bereits auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Er schrieb für die renommierte neoliberale "Los Angeles Times", hatte von der US-Invasion 1965 in der Dominikanischen Republik und aus dem Vietnamkrieg berichtet. Schließlich schrieb er als Auslandsbürochef in Mexiko-Stadt über das Tlatelolco-Massaker und Olympia 1968.

Der Tod von Ruben Salazar und die Wut der "Chicanos"
David Fenton / Getty Images
Ein Jahr später holte ihn die "Los Angeles Times" zurück, damit er über die sich formierende Chicano-Bewegung schrieb. Salazar galt nicht als Radikaler und teilte auch nicht den gleichen sozialen Hintergrund vieler anderer: Als Kind einer wohlhabenden Migrantenfamilie und sozialer Aufsteiger hatte er sich erfolgreich in die US-Gesellschaft integriert. Er wohnte im vorwiegend von der weißen Mittelklasse geprägten Orange County - weit weg von den Problemvierteln, über die er berichten sollte.
Vom Polizeipräsidenten einbestellt
1970 wagte er einen Neuanfang und wechselte zum spanischsprachigen Regionalfernsehsender KMEX. Er war weiter Kolumnist der "Los Angeles Times", begann aber als KMEX-Nachrichtenchef, die Belange der Chicanos und das Thema der Polizeigewalt noch schärfer herauszuarbeiten. So machte er sich zum Anwalt der Menschen in East L.A. - und verärgerte die Polizeibehörde der Stadt. Dreimal kurz vor seinem Tod forderte sie Salazar auf, seine Ausdrucksweise zu mäßigen.
Nach dem Tod zweier mexikanischer Wanderarbeiter durch Polizisten, die sich bei einer Hausdurchsuchung in der Adresse geirrt hatten, beschrieb Salazar in einer Kolumne, wie Zivilbeamte ihn besuchten: Die beiden Männer hätten ihn vor negativen Folgen einer Berichterstattung über den Fall gewarnt und betont, wie "gefährlich" solche Informationen "in den Köpfen" der Bewohner von East L.A. seien. Bald darauf bestellte ihn der Polizeipräsident persönlich ein und mahnte: "Du solltest besser aufhören, die Mexikaner aufzuwiegeln."
Im Laguna Park rebellierten Chicanos im August 1970 gegen Rassismus und strukturelle Ungleichbehandlung als Folge des Vietnamkriegs. Schätzungen gehen von mehr als 25.000 Teilnehmern aus - und damit von der bis dahin größten Anti-Kriegs-Demo. Die Chicano-Bewegung protestierte besonders gegen die Einberufung von Latinos zum Militärdienst. Obwohl sie damals in weiten Teilen des Südwestens nur etwa zwölf Prozent der US-Bevölkerung stellten, wurden Latinos deutlich häufiger eingezogen - und bezahlten laut einer Studie der Universität von Kalifornien mit fast 20 Prozent der Verluste einen doppelt so hohen Blutzoll wie ihre weißen Mitbürger.
Das hing direkt mit der höheren Schulabbrecherquote unter jugendlichen Chicanos zusammen. Die Armutsrekrutierung (poverty draft) entfiel vor allem auf Schwarze und Latinos sowie generell auf die Arbeiterklasse. Diese Menschen konnten sich nicht - anders als die überwiegend weiße Mittel- und Oberschicht - eine College-Ausbildung leisten und so den Militärdienst aufschieben. Genau solch einen Aufschub forderten die Chicanos in East L.A., damit Bildung nicht über das Überleben entscheiden sollte.
"Kanonenfutter" im Vietnamkrieg
Die Chicanos hatten sich schon in den Sechzigerjahren der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen und durch Schulstreiks auf die Ungleichheit im Schulsystem aufmerksam gemacht. Es waren die ersten Massenproteste von US-Mexikanern gegen Rassismus. Für ihren damaligen Studentenführer Rosalio Muñoz waren die Jugendlichen nur imperialistisches "Kanonenfutter" im Vietnamkrieg.
Im Laguna Park lief die Abschlusskundgebung eines vier Kilometer langen Protestmarsches. Die Teilnehmer skandierten "Viva la Raza" ("Es lebe die Rasse"). Videos zeigen eine bunte Menschenmenge mit vielen Frauen und Kindern, teils in mexikanischer Tracht, ein Volksfest mit politischem Unterbau, bei dem auch Alkohol floss. Laut Polizei begannen die Tumulte vor einem Getränkeshop, nachdem einige Kunden Bier geklaut hätten.
Polizisten mit Schlagstöcken stürmten den Park, es kam zu Rangeleien. Tränengasgranaten sollen direkt in die Menge geschossen worden sein. Wütende Menschen flohen in die angrenzenden Straßen. Blockaden wurden errichtet, Geschäfte geplündert, Brände gelegt. Drei Menschen starben, 60 wurden verletzt, mehr als 200 festgenommen.
Salazar und sein Team verließen den Park über die Hauptgeschäftsstraße des Viertels und wollten zurück in die KMEX-Redaktion. Der Reporter fühlte sich verfolgt und bedroht, berichtete sein Kollege Guillermo Restrepo später. Daher hätten sie mehrfach die Straßenseite gewechselt und seien in die Bar gegangen, auch um mögliche Verfolger abzuhängen. Die Jukebox dudelte, Männer spielten Billard. Salazar setzte sich auf einen der roten, ledernen Barhocker und bestellte ein Bier. Dann flog das tödliche Geschoss.
Der Polizist, der den 25 Zentimeter langen Tränengaszylinder in die Bar feuerte, wurde nicht verurteilt. Das Gericht erkannte keine Tötungsabsicht. Salazars Tod blieb damit offiziell ein "Unfall", auch wenn seine Familie später außergerichtlich entschädigt wurde.
Angst und Abscheu
Die Gemeinschaft der Chicanos war schockiert und sah Salazar als Märtyrer. Der Laguna Park wurde nach ihm umbenannt; auch einige Schulen, eine Briefmarke und ein Stipendium-Programm wurden ihm gewidmet. Salazars Beerdigung war ein eindrucksvoller politischer Protestzug, wie im Mai 2020 nach der Tötung des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten.
"Objektivität ist unmöglich", hatte Salazar in seinem letzten Interview programmatisch gesagt. "Du kannst über Nixon nicht objektiv sein", schrieb auch sein Zeitgenosse Hunter S. Thompson, bekannt durch seine virtuose Guerilla-Berichterstattung, den sogenannten Gonzo-Journalismus. Thompson verarbeitete den Tod Salazars in seiner Reportage "Strange Rumblings in Aztlan". Seine wichtigste Quelle war Chicano-Anwalt Óscar Acosta, dem er als "Doktor Gonzo" ein literarisches Denkmal setzte.
Um in Ruhe über den Fall sprechen zu können, fuhren Thompson und Acosta von Los Angeles nach Las Vegas. Aus diesem Trip sollte 1971 Thompsons berühmtes Buch entstehen, "Fear and Loathing in Las Vegas". Angst und Abscheu bilden die Fundamente dieses 1998 mit Johnny Depp und Benicio Del Toro verfilmten Werks, das den amerikanischen Traum kunstvoll auseinandernimmt.
Dieser Traum lockt immer noch viele Migranten in die USA. Doch Angst und Abscheu sind auch Attribute des rassistischen Diskurses von Donald Trump geworden. In seinem Weltbild kommen Mexikaner hauptsächlich als Vergewaltiger und Drogenhändler vor. Auch wegen solcher Zuschreibungen leiden die Chicanos in den USA immer noch unter strukturellem Rassismus und Polizeigewalt.
50 Jahre nach dem Tod von Ruben Salazar hat sich wenig geändert - nur der Slogan der Chicanos hat sich erweitert. Er heißt nun: "Raza si, Trump no".