
Flucht über die "Rattenlinie": Eine neue Heimat für Kriegsverbrecher
Nazis auf der Flucht Exodus der Massenmörder
Nur noch ein paar Schritte. Im Morgennebel ist der einstige Wehrmachtsoffizier und Spionage-Experte Reinhard Kopps losmarschiert. Er passiert ein tiefes Tal, drückt sich durchs Unterholz an der Hütte der österreichischen Grenzpolizei vorbei. Der Schornstein raucht, aber niemand rührt sich. Schnell hoch über einen Bergkamm, dann ist er endlich in Südtirol. Gerettet!
"Wer vor Behörden versteckt werden muss, ist nirgends sicherer als in Italien", schrieb Kopps später über seine heimliche Alpenüberquerung im Herbst 1947. Besonders begeistert ist er von den Südtirolern: "Niemand stellt überflüssige Fragen, ein jeder gibt sachliche Auskunft." Etwa, wo man sich vor der Polizei hüten muss. Oder wie man die besten Fluchthelfer für Nazis trifft.
Im idyllischen Kurort Meran - eine Hochburg für NS-Flüchtlinge - findet Kopps ein Versteck bei einer Gastwirtin, die sich nur als "Tante Anna" vorstellt und mit ihrer Erfahrung mit solchen Fällen wirbt. Hier trifft der Deutsche auch den "tüchtigen Arzt" Emil Gelny, hauptverantwortlich für die Euthanasie-Morde in Österreich und ebenfalls auf der Flucht. Ein paar Wochen bleibt Kopps in Meran, besorgt sich falsche Papiere, knüpft lebenswichtige Freundschaften. Dann reist er nach Rom, betätigt sich dort als Fluchthelfer, bis er 1948 als "Juan Maler" in Argentinien ein zweites Leben beginnt.
Als im Mai 1945 in Europa die Waffen schwiegen, verkrochen sich jene Männer, die einst die Menschheit beherrschen wollten, in die entlegensten Winkel der Welt. Vom Massenmörder bis zum Mitläufer entkamen Tausende Nationalsozialisten in Länder wie Argentinien, Bolivien oder Syrien. Den verfolgten Nazis kam aber nicht nur das Chaos nach dem Weltkriegsende mit seinen Millionen Vertriebenen und Entwurzelten zugute. Sie konnten auch auf ein professionelles Netzwerk an Fluchthelfern in Österreich und Italien zurückgreifen. "Rattenlinie" taufte die CIA die beliebteste Fluchtroute: über die österreichischen Alpen nach Südtirol, dann in die Hafenstadt Genua - und von dort nach Südamerika.
Unter den Flüchtigen waren so prominente Kriegsverbrecher wie der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann, der KZ-Arzt Josef Mengele sowie der Kommandant der Vernichtungslager Treblinka und Sobibor, Franz Stangl . Mitunter kreuzten sich in Südtiroler Herbergen die Wege der Täter und Opfer, denn auch etliche Juden versuchten, illegal ins britische Mandatsgebiet Palästina einzuwandern.
Besonders eifrig halfen beim Exodus der Mörder hohe Würdenträger der katholischen Kirche. Gesuchte Kriegsverbrecher reisten mit Pässen des Roten Kreuzes aus, die zuvor von Priestern beglaubigt worden waren. Verkleidet als Mönche entkamen viele auch über eine Kette verschwiegener Klöster in General Francos Spanien - und von Barcelona in alle Welt.
"Was in diesen Jahren durch die Kirche, vor allem durch einzelne, menschlich überragende Persönlichkeiten innerhalb der Kirche, an wertvollem Menschentum unseres Volkes gerettet worden ist, soll billigerweise unvergessen bleiben", lobte der einstige Fliegerheld Hans-Ulrich Rudel später. Auch er, der höchstdekorierte Soldat der Wehrmacht, hatte sich mit einem Pass des Roten Kreuzes nach Südamerika abgesetzt.

Zu den vermeintlich so "menschlich überragenden" Geistlichen gehörte der österreichische Bischof Alois Hudal, der schon 1936 in einer wohlwollenden Studie über den Nationalsozialismus das "Positive, Große und Bleibende" der NS-Bewegung betont hatte. Nach 1945 tat der braune Bischof alles, um seine Brüder im Geiste zu retten. Er besetzte dabei in Rom als Leiter des Priesterkollegs der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell' Anima eine Schlüsselstelle: Die Anima wurde zur Anlaufstelle für deutsche Flüchtlinge. Ein wichtiger Helfer Hudals: Reinhard Kopps.
Er habe seine "ganze karitative Arbeit" nach 1945 "den früheren Angehörigen des NS und Faschismus gewidmet", brüstete sich Hudal in seinen Erinnerungen. Viele dieser Verfolgten seien "ganz schuldlos" gewesen, deshalb habe er sie "mit falschen Ausweispapieren (...) ihren Peinigern entrissen". In einem Brief bat er den argentinischen Präsidenten und Hitler-Bewunderer Juan Perón um 5000 Visa für deutsche Soldaten. Perón hoffte auf deutsche Techniker für seine Luftwaffe - Hudal auf ein Bollwerk gegen den Kommunismus.
So rettete ausgerechnet der so bitter bekämpfte Kommunismus vielen Nationalsozialisten nach 1945 das Leben. Im beginnenden Kalten Krieg fürchteten sich viele Geistliche mehr vor einer Ausbreitung des kirchenfeindlichen Kommunismus als vor moralisch bedenklichen Funktionären des "Dritten Reichs".

Flucht über die "Rattenlinie": Eine neue Heimat für Kriegsverbrecher
In Rom wimmelte es schon bald von Pseudo-Konsulaten: Da gab es etwa ein "Österreichisches Bureau", das flüchtigen Nazis "Ausweiskarten" ausstellte. Oder das "Zentralbüro für Deutsche in Italien", in dem man einen frei erfundenen "Italien-Ausweis" erhalten konnte. Das Prinzip blieb stets gleich: Kirchliche Hilfsstellen und Würdenträger bezeugten die Identitäten, oftmals mit Blanko-Formularen. Das Internationale Rote Kreuz stellte dann die Reisepässe aus - und schaute lieber nicht so genau hin.
Papst Pius XII. wusste von Hudals Aktivitäten, gebot dem Bischof aber keinen Einhalt und förderte mitunter sogar diskret dessen Fluchthilfe. Nachweislich ließ er 1949 Hudal 30.000 Lire schenken. Auch Konrad Adenauer überzeugte der umtriebige Geistliche, sich beim italienischen Staatspräsidenten für die Freilassung von vier "armen Landsleuten" einzusetzen. Die NS-Offiziere kamen tatsächlich frei; später wurde ihre Verstrickung in Kriegsverbrechen auf Rhodos bekannt.
Schnell verdientes Geld
Hudal war kein Einzelfall. Auch in Genua, Drehscheibe der Flüchtlingsströme, florierte das Geschäft mit den falschen Pässen. Zentrale Figur war hier der kroatische Priester Krunoslav Draganovic. Während des Krieges war er verantwortlich für die Deportation von Juden und Serben im faschistischen Ustascha-Regime gewesen. Wie am Fließband fertigte Draganovic Ausreisewillige ab und etablierte ein festes Preissystem: 1000 Dollar Normalpreis, Kinder die Hälfte, bekannte NS-Schergen 400 Dollar mehr.
Das war schnell verdientes Geld. Wie einfach es war, sich in wenigen Tagen falsche Pässe zu besorgen, wies der US-Geheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) 1947 in einem Selbstversuch mit V-Leuten nach. In einem CIC-Geheimbericht hieß es daraufhin, der Vatikan sei die "größte Einzelorganisation, die in die illegale Bewegung von Auswanderern verwickelt ist". Geholfen werde allen, solange sie nur "Anti-Kommunisten und für die katholische Kirche" seien.
Der Protestant Adolf Eichmann war über diese Hilfe später derart dankbar, dass er in die katholische Kirche eintrat. Verkleidet mit Tiroler Hut und Gamsbart war er 1950 über den Brennerpass gelangt, wo ihm ein Südtiroler Pfarrer sein Gepäck nachbrachte. Nach diesem Erfolg genehmigte sich der Massenmörder etwas Wein, tauschte seine Tracht gegen unauffällige Straßenkleidung - und entkam als "Ricardo Klement" nach Argentinien.
Nützlicher Verrat
Aber auch der US-Geheimdienst CIC nutzte ohne Skrupel die selbst entdeckte "Rattenlinie". Klaus Barbie, in Frankreich als einstiger Gestapo-Chef und "Schlächter von Lyon" in Abwesenheit zum Tode verurteilt, schleusten die Amerikaner 1951 über Italien nach Bolivien. Zuvor hatte der Kriegsverbrecher drei Jahre für die Amerikaner in Europa spioniert.
Wie Barbie konnten viele NS-Flüchtlinge in ihren Gastländern Karriere machen und jahrzehntelang unerkannt in der Ferne leben. So auch Reinhard Kopps, den das Simon-Wiesenthal-Zentrum verdächtigte, an Kriegsverbrechen an albanischen Zivilisten beteiligt gewesen zu sein.
Doch 1994 spürte ein US-Fernsehteam den Hotelbesitzer Kopps alias "Juan Maler" in der südargentinischen Stadt San Carlos de Bariloche auf und konfrontierte ihn mit seiner Vergangenheit. Kopps leugnete stotternd alles, auch seinen echten Namen. Erst als der Reporter nicht nachließ, änderte der 79-Jährige seine Strategie: Er sei nur ein kleiner Fisch, aber hier gebe es noch "sehr viele Nazis". Dann zog er den Journalisten zur Seite und raunte ihm den Namen eines Mannes zu, der ein "echter" Kriegsverbrecher sei und gleich um die Ecke wohne.
Der Mann hieß Erich Priebke, verkaufte in seinem Feinkostladen in Bariloche deutsche Wurst - und war 1944 als SS-Hauptmann mitverantwortlich für ein Massaker in der Nähe von Rom.
Ein kluger Schachzug: Kopps, der in seinem Exil antisemitische Bücher verfasst und gegen die "widerlichen Lügen von den Judenvergasungen" gewettert hatte, geriet bald in Vergessenheit. Sein Landsmann Priebke dagegen wurde 1998 in Italien noch als Greis zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.