Fotostrecke

Historischer Postzugüberfall: Millionenraub ohne Pistolen

Foto: AP

Historischer Postzugüberfall Millionenraub ohne Pistolen

Dieser Coup schrieb Kriminalgeschichte: 1963 überfiel ein gutes Dutzend Männer einen Postzug bei London und entkam mit säckeweise Bargeld. Die Richter warfen ihnen "maßlose Gier" vor - doch die Öffentlichkeit feierte die "Gentlemen-Verbrecher".

Jack Mills hatte als Lokomotivführer schon einige Merkwürdigkeiten erlebt, trotzdem stutzte er am Morgen des 8. August 1963: Gegen 3 Uhr leuchtete ein Stoppsignal neben den Gleisen rot auf - auf freier Strecke, ohne ersichtlichen Grund, mitten in der dünn besiedelten Grafschaft Buckinghamshire. Der 57-jährige Mills brachte den Postzug zum Stehen, mit dem er am Vorabend im schottischen Glasgow nach London aufgebrochen war. Dann eilte sein Beifahrer David Whitby zum Fernsprecher neben den Schienen, um im Stellwerk nach den Gründen für das Haltesignal zu fragen. Doch der 26-Jährige sprach in eine tote Leitung, jemand hatte die Fernsprechkabel zerschnitten.

Als Whitby daraufhin zum Zug zurückgehen wollte, standen sie vor ihm: maskierte Männer in Armeeuniformen und Bahnarbeiter-Kluften, bewaffnet mit Schlagstöcken, Brecheisen, Äxten. Wenige Minuten später lag Lokomotivführer Mills niedergeschlagen im Führerhaus seiner Diesellok und Beifahrer Whitby bäuchlings neben den Gleisen. Sie wurden die ersten Opfer eines spektakulären Ganovenstücks.

15 Männer erbeuteten in dieser Nacht rund zweieinhalb Millionen Pfund Sterling und gingen damit in die britische Kriminalgeschichte ein. Denn nie zuvor hatten Postzugräuber in Großbritannien dermaßen viel Bargeld ergattert - und mit ihrem Vorgehen zugleich die Weltöffentlichkeit erstaunt: Innerhalb kürzester Zeit war es den Banditen gelungen, den Zug zu plündern - ohne von Schusswaffen Gebrauch zu machen. Und auch ohne Spuren am Tatort zu hinterlassen. Ein Coup, der seine Protagonisten zu Legenden machte.

124 Geldsäcke - durch Zufall

Der Regisseur dieser Nacht war Bandenboss Bruce Reynolds, er hatte den Ablauf minutiös geplant: Zunächst hatte sein Komplize Roger Cordrey die Signalanlage mit einem alten Handschuh und einer Sechs-Volt-Batterie so manipuliert, dass sie zum Anhalten aufforderte. Als der Postzug stand, schlugen die Räuber Lokführer Mills nieder, überwältigten das Begleitpersonal und koppelten sieben der neun Waggons ab - denn sie hatten es nur auf den zweiten Güterwagen mit dem Bargeld darin abgesehen. Dann zwang die Bande den schwerverletzten Mills, die sechsachsige Lok mit den verbliebenen zwei Waggons bis zur nahen Bridego-Brücke zu fahren. Dort war der eigentliche Raub geplant.

Kaum hatte Mills den gestutzten Zug dort angehalten, sprangen weitere maskierte Männer aus der Deckung und machten sich am zweiten Gepäckwagen zu schaffen: Sie brachen die Türen auf, zerschlugen Riegel und Schlösser mit einer Axt. Dann luden sie - wie das "Time"-Magazin später rekonstruierte - 124 Geldsäcke auf drei als Militärfahrzeuge getarnte Lastwagen, die mit falschen Nummernschildern unter der Brücke warteten. Schließlich sprangen sie in die Wagen und brausten davon.

Die gesamte Aktion dauerte eine Viertelstunde, in den abgekoppelten Waggons hingegen sortierten 70 Postbeamte noch eine knappe Stunde lang unbekümmert Briefe - erst dann merkten sie, dass ihr bewegungsloser Zug keine Lok mehr hatte, und alarmierten die Polizei.

Die Gangster hatten sich da schon längst in Sicherheit gebracht. In der nah gelegenen Leatherslade Farm zählten sie die Banknoten und konnten ihr Glück kaum fassen: Weil dem Überfall einige Feiertage vorausgegangen waren, hatte die Bank von Schottland besonders viele Geldscheine zur Zentrale nach London geschickt. Insgesamt hatten die Gangster daher die gewaltige Summe von 2.631.784 britischen Pfund erbeutet, nach heutigen Maßstäben etwa 47 Millionen Euro.

"Ein schäbiges Gewaltverbrechen"

Bandenchef Reynolds war hochzufrieden: Das monatelange Studium von Eisenbahn-Fachzeitschriften und die nächtlichen Rangier-Trainings auf Abstellgleisen hatten sich ausgezahlt, jeder der 15 Gauner sollte einen Anteil von fast 150.000 Pfund erhalten. Ein Vermögen. Entsprechend ausgelassen feierten die Räuber ihren Coup - mit einer Partie des Gesellschaftsspiels "Monopoly", echtes Geld inklusive. Ein folgenschwerer Fehler.

Fünf Tage später entdeckten Ermittler das Versteck der Bande und stießen auch auf das Brettspiel und eine Ketchup-Flasche - beides übersät mit Fingerabdrücken. Es dauerte daher nicht lange, bis die für den Fall abgestellte Spezialeinheit von Scotland Yard die ersten Banditen verhaftete.

Schon im Januar 1964 standen 9 der 15 Postzugräuber vor Gericht und lösten ein mediales Spektakel aus: Dutzende Zeitungen sympathisierten mit den Kriminellen und rühmten sie als "Gentlemen-Verbrecher".

Die Richter allerdings ließen sich davon nicht blenden, zumal sie den Fall nicht ganz aufklären konnten: Drei der am Überfall beteiligten Räuber und der Großteil der Beute sollte nie gefunden werden. "Lassen Sie uns die romantische Verklärung als Husarenstück beiseiteschieben", sagte Richter Edmund Davies bei der Urteilsverkündigung, "das war nichts anderes als ein schäbiges Gewaltverbrechen, getrieben von maßloser Gier." Die Angeklagten sollten daher laut Urteil insgesamt 307 Jahre hinter Gittern verbringen. Doch einige der Beteiligten hatten andere Pläne.

Mit neuem Gesicht über Frankreich nach Rio

Mehrmals entkam Bandenchef Reynolds der Polizei und setzte sich schließlich nach Mexiko ab. Erst nach fünf Jahren Luxusleben kehrte er freiwillig nach England zurück, um ein Jahrzehnt hinter Gittern zu verbüßen. Auch Ronald Edwards zog es nach kurzer Flucht aus Heimweh zurück ins Gefängnis, Charlie Wilson wurde 1968 in Kanada gestellt und saß danach eine zwölfjährige Freiheitsstrafe ab. Ihrem Mitstreiter Ronald Biggs war es im Juli 1965 gelungen, aus der Londoner Haftanstalt Wandsworth zu entkommen. Um nicht mehr erkannt zu werden, ließ er sich in Paris von Chirurgen das Gesicht operieren, floh daraufhin weiter nach Spanien, Australien und schließlich ins brasilianische Rio, wo er ein Kind zeugte und fortan als Vater eines Brasilianers nicht mehr nach London ausgeliefert werden durfte.

Heim kehrte er eines Tages trotzdem - überredet von seinem alten Komplizen Reynolds und unterstützt von einer kostspieligen Kampagne des Boulevardblattes "The Sun". Als der 71-jährige Biggs, der nach drei Schlaganfällen weder sprechen noch essen konnte, im Mai 2001 auf dem Militärflughafen Northolt eintraf, erwarteten ihn bereits 60 Polizisten mit Haftbefehl. Acht Jahre musste der greise Bandit daraufhin im Gefängnis verbringen, bevor Justizminister Jack Straw ihn 2009 begnadigte. Biggs lebt heute in einem Pflegeheim.

Und auch die in vielen Filmen und Büchern glorifizierten Karrieren anderer Postzugräuber endeten jäh: Bandenchef Reynolds etwa verbrachte in den Achtzigern wegen Drogenhandels erneut drei Jahre im Gefängnis und starb im März 2013 verarmt in London, Charles Wilson wurde 1990 im spanischen Marbella erschossen, der psychisch kranke Ronald Edwards erhängte sich vier Jahre später in seiner Garage.

Am schwersten hatte es jedoch keinen der Räuber getroffen, sondern das Opfer ihres Überfalls: Lokomotivführer Jack Mills, den die Täter brutal mit einer Eisenstange niedergeschlagen hatten, erholte sich nicht von seinen Verletzungen und konnte nie wieder arbeiten. Sieben Jahre nach dem Überfall starb Mills 1970 an Krebs - und mit ihm der Mythos vom romantischen Raubzug der vermeintlich anständigen "Gentlemen-Verbrecher".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren