
Reichspogromnacht: Mein Vater, der SA-Mann
privat
Novemberpogrome 1938 "Vati, ich hab' dich gesehen, du bist an der Spitze marschiert!"

Claus Günther, geboren 1931, wuchs im Hamburger Stadtteil Harburg auf. Wie sehr ihn die Zeit der Nazi-Diktatur prägte, wurde ihm erst im Alter bewusst. Seit 20 Jahren engagiert er sich ehrenamtlich als Zeitzeuge, verfasst Kurzgeschichten, Verse und Grotesken. Seine Erlebnisse verarbeitete er auch im autobiografischen Roman "Heile, heile Hitler. Szenen einer Kindheit", erschienen 2017 im verlag.marless.de . Die Novemberpogrome fanden in Harburg mit einem Tag Verspätung statt, am 10. November 1938.
An diesem Mittwoch im November 1938 muss einiges passiert sein, aber wo und was? Bringen sie noch nichts im Radio? Und die Zeitung? Was schreibt die?
Unruhe breitet sich aus, setzt sich flüsternd fort bis in den Donnerstag und hinterlässt ein unbehagliches Gefühl. Als ich aus der Schule komme, stehen Erwachsene in kleinen Grüppchen dicht beisammen, zu zweit, zu dritt, was ja verboten ist, und reden leise, hastig miteinander. Was sie sagen, ist nicht für fremde Ohren bestimmt, als ginge es um eine Sünde, und gleich darauf streben sie auseinander, als hätten sie etwas zu verbergen.
Ich sei noch zu klein, ich kriege das nicht mit, mögen sie denken. Gestern war der 9. November, später würde man zynisch-verharmlosend "Reichskristallnacht" sagen, aber gestern ist in Harburg alles ruhig geblieben.
Heute genauso. Bis es dunkel wird. Es klingelt an der Wohnungstür. Vati öffnet. Gemurmel. "Ja. Wann? Gut, ich komme", sagt Vati. "Sieh dich bloß vor!", warnt Mutti. "Ach, Frau!" Vati winkt ab und zieht seine SA-Uniform an. Sondereinsatz. Er muss los. Wohin?
Vati trägt die Fahne
"Nun komm, Junge. Es ist Zeit fürs Bett", sagt Mutti. Aber da draußen passiert doch was! Ich stehe wieder auf. "Ich kann nicht schlafen." - "Na gut, dann darfst du noch einen Augenblick ausgucken."
Mutti hat noch in der Küche zu tun. Ich blicke vom Wohnzimmer auf die Mädchenmittelschule gegenüber, ein großes Gebäude aus rotem Backstein. Dicht dahinter, in der nächsten Querstraße, befindet sich die Volksschule, die ich besuche, und nicht weit entfernt davon die Anhöhe mit dem Schwarzenberg-Platz, der jetzt Hermann-Göring-Platz heißt, daneben der jüdische Friedhof.

Reichspogromnacht: Mein Vater, der SA-Mann
privat
Es ist schon dunkel, der Himmel ist bedeckt, aber das Wolkengrau gegenüber, hinter dem großen roten Schulgebäude, das verfärbt sich rötlich, wogt hin und her, flackert unregelmäßig, wird heller. Was ist das? Ein Blitz? Nein, dafür ist das Zucken und Wogen nicht schnell genug. Ein unerklärlicher Anblick.
Ich hatte bis dahin noch nie einen großen Brand gesehen, geschweige denn den Widerschein eines Feuers.
Es gibt einen Bericht über das Geschehen, ein Gerichtsprotokoll. Ich las es viele Jahre nach dem Ende des Krieges:
"Am frühen Abend des 10. November, wahrscheinlich gegen 19 Uhr, wurde die Leichenhalle [am jüdischen Friedhof] in Brand gesetzt. Es sammelte sich alsbald eine große Menge Schaulustiger. Einige Männer, Angehörige der Marine-SA [ ], zogen den Leichenwagen, dessen Behänge leicht Feuer gefasst hatten, aus der Halle heraus und stellten ihn, nachdem sie die Tücher gelöscht hatten, zunächst etwas abseits unter Bäumen, außerhalb des Friedhofs, ab. Von hier wurde der Wagen bald darauf von Angehörigen der HJ und anderen Halbwüchsigen fortgezogen, wieder in Brand gesetzt und brennend umhergezogen."
Mutti ist noch immer in der Küche. Blickt denn niemand außer mir aus dem Fenster? Dann kann ich auch keinen zu dem Spektakel in den Wolken fragen.
Als Mutti schließlich ins Wohnzimmer kommt, sehe ich unten auf der Straße SA-Leute heranmarschieren, einen ganzen Trupp: "Da, Mutti, guck doch mal, Vati marschiert an der Spitze, und Vati trägt die Fahne!"
Video: "Geht nicht auf die Straße, die Synagogen brennen"
Der Fahnenträger an der Spitze ist immer der Größte, und mit 1,72 überragt Vati so manchen seiner Generation. Der eigentliche Fahnenträger, der sonst immer vorangeht, hatte sich an diesem Abend krankgemeldet.
Alle paar Schritte trommelt einer. Drrrrrrum. Drrrrrrum. Drrrrrrum. Dann ist wieder Stille, abgesehen vom Gleichschritt der Nagelstiefel. Einige SA-Leute tragen brennende Fackeln, der Widerschein spiegelt sich in den Fensterscheiben. Wohin die marschieren? Das weiß Mutti auch nicht. Ich soll nun ins Bett, "sonst schläfst du morgen in der Schule ein".
Einschlafen? Ich kann überhaupt nicht schlafen; ich höre Vati sogar noch nach Hause kommen am späten Abend und krabble aus dem Bett.
"Vati, Vati, ich hab' dich gesehen, du bist an der Spitze marschiert und hast die Fahne getragen!" - "Das stimmt. Na, komm her, lass dich drücken. Ach, nun lass ihn doch mal, Lene."
"Das kann ihn ins KZ bringen"
Vati war an der Synagoge, sagt er, die ist nicht weit weg. Wir wohnen in der Eißendorfer Straße 31, die Synagoge hat die Hausnummer 15. Was war denn da?
"Die SA hat ja nur abgesperrt, zusammen mit der Polizei", sagt Vati, "aber da waren Leute - was für Leute? Na, was weiß denn ich? Leute eben. Die haben die Türen und die bleiverglasten Fenster in der Synagoge eingeschlagen und drinnen alles, wirklich alles zerstört, mit Hämmern und Äxten zerschlagen, und außerdem rausgeworfen, was nicht niet- und nagelfest war: Leuchter, Gebetbücher, Stühle. Von den Büchern hätte ich gern eins mitgenommen, Helene. Die waren wunderschön, fast alle mit Goldschnitt. Aber das darf man ja nicht. Jetzt aber husch, husch, ins Körbchen, Claus! Gute Nacht!"
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Keine Gewähr
Freitag, 11. November 1938. In der Klasse sprechen sie darüber, dass die Synagoge zerstört worden ist. "Mein Vater war dabei", das kommt mir nicht über die Lippen. Grabsteine hätten sie auch umgeworfen auf dem jüdischen Friedhof, erzählt einer. "Das hätten sie nicht tun sollen", sagt unser Lehrer, Herr Deckert. "Tote soll man ruhen lassen."
Zu Hause erzähle ich, was der Lehrer gesagt hat. "Um Gottes willen!", sagt Mutti. "Wie kann der so was sagen? Das kann ihn ins KZ bringen!" - "Ins Kazett? Was ist das denn?" - "Das - äh - ist ein Arbeitslager."
Das wäre schlimm. So jung ist Herr Deckert ja auch nicht mehr, denke ich. "Die Synagoge", frage ich, "das ist doch eine Kirche, nicht?" - "Ja, Claus, eine jüdische Kirche."
"In der Innenstadt, in der Lüneburger, der Wilstorfer und der Bremer Straße, sind überall Scheiben eingeworfen, liegen Glassplitter herum, noch und noch. Auch bei Lindor ist die Schaufensterscheibe kaputt!" - "Ja, Claus, weil das ein jüdisches Geschäft ist."
Die Nachbarskinder wurden deportiert
Und dann Am Sand, bei Sally Laser: Da hat Omi mir vorgestern doch eine Mütze gekauft, jetzt sind alle Scheiben entzwei. Eine Verkäuferin fegt weinend die Scherben zusammen.
Ich verstehe das nicht. Dem Hans ist mal sein Fußball in eine Fensterscheibe geknallt, aus Versehen natürlich, die Scheibe war zersplittert, da war was los. Aber jetzt? Und hier? Das haben doch Erwachsene gemacht!
Vier Tage später, am 14. November, wird die sofortige Entlassung aller jüdischen Schüler aus staatlichen Schulen angeordnet. Die Teilnahme am Unterricht wird ihnen verboten.
Als ihnen der Schulbesuch verwehrt wurde, war Edith 13, ihr Bruder Werner 17 Jahre alt. Es waren Nachbarskinder, doch ich habe sie nicht wahrgenommen. Schloss hieß die Familie. Drei Jahre später, am 8. November 1941, hatten sich die beiden Jugendlichen mit ihren Eltern und der Großmutter mütterlicherseits in Hamburg-Dammtor einzufinden, auf der Moorweide. Stunden später wurden sie in einen Zug verfrachtet und nach Minsk deportiert. Dort hat man sie ermordet, alle fünf. Aus einem einzigen Grund: Sie waren Juden.