
Fotograf Hans-Jörg Schönherr: "Man rechnete damit, dass ich von selbst das Handtuch werfen würde"
Reklame vor und nach dem Mauerfall Solarium statt Sozialismus
Die Losung prangte in gigantischen Lettern hoch oben, auf dem Dach einer Konsumfleischerei in Dresden: "DAS PROGRAMM DER SED - EIN PROGRAMM DES GANZEN VOLKES!" Die Parole, eine glatte Lüge, sollte Euphorie verbreiten, Zusammenhalt und großartige Ideen suggerieren - das gähnend leere Schaufenster darunter vermochte sie nicht zu erklären.
Jahrelang war Hans-Jörg Schönherr achtlos an Plakaten wie jenem auf der Metzgerei an der Reicker Straße vorbeigegangen. Doch eines Tages, im Frühjahr 1986, blieb der Dresdner stehen, hob den Kopf - drückte auf den Auslöser. Autodidakt Schönherr hatte sein Thema gefunden. Innerhalb von drei Wochen lichtete er Dutzende dieser Plakate ab, die im gesamten Stadtgebiet hingen: auf Friedhofsmauern, unter Eisenbahnbrücken, an Kreuzungen.
Mit Sprüchen wie "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist" oder "Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden" trommelte das SED-Regime für die eigene Sache. "Sichtagigation" lautete im DDR-Jargon der Fachausdruck für diese Form der tumben Selbstbeweihräucherung. Ungeschminkt offenbaren seine Arbeiten die Trostlosigkeit eines auf leeren Worthülsen aufbauenden Systems.
Zehn Jahre später zog der Fotograf erneut mit seiner Kamera durch die Straßen Dresdens - und fand eine ganz andere Form der Reklame wieder. Dort, wo einst der Sozialismus seine peinliche Eigenwerbung betrieben hatte, prangten nun nackte Brüste, kopulierende Löwen sowie eislutschende Volltätowierte - und warben für Sonnenstudios, schnelle Autos und andere Errungenschaften des Kapitalismus. "Die Plakate nach der Wende muteten genauso primitiv an wie die SED-Sprüche. Und das Verrückte war: Schon wieder schaute keiner hin", sagt Schönherr.
"Sprüche aus Asche" heißt der Bildband, in dem der Fotograf seine beiden Arbeiten von 1986 und 1996 gegenübergestellt hat. Die Texte stammen von Autor Christoph Kuhn: wie Schönherr ein Dresdner, wie Schönherr zu DDR-Zeiten ein Unbequemer, ein Querulant, ein Künstler ohne Chance auf Anerkennung.
Protest gegen Selbstzensur
Kennengelernt hatten sich beide, der Schriftsteller und der Fotograf, schon Mitte der Siebzigerjahre, damals waren sie nolens volens noch Teil des Systems: Kuhn lebte sein kreatives Talent in einem "Zirkel schreibender Arbeiter" aus, Schönherr war Mitglied im "Dresdner Fotoaktiv 57", einem damals elitären Fotoklub im DDR-Kulturbund. "Um voranzukommen als Kreativer, musste man einem dieser organisierten, offiziellen Zirkel angehören, privat ging in der Öffentlichkeit rein gar nichts. Man wollte die Kontrolle über die Leute behalten", sagt Schönherr.
Doch lange hielten es die beiden jungen Männer nicht aus im staatlich geförderten Kulturbetrieb: Aus Protest gegen die dort praktizierte Selbstzensur traten Schönherr und Kuhn aus den Nachwuchsschmieden aus und klopften beim Kunstdienst der evangelischen Kirche an.
Dank des Engagements des Dresdner Pfarrers Joachim Schöne erhielten die Künstler hier ein Forum, wo sie ihre Werke präsentieren konnten, ohne Rücksicht auf staatliche Befindlichkeiten zu nehmen. Ob Fotografie oder Lyrik: Meist beschäftigten sich die beiden kritisch mit den Verhältnissen in der DDR, ihre Themen kreisten, so Schönherr, "um Vergänglichkeit, Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft, Umweltverschmutzung, Verfall der Städte in der DDR".
"Ruck in die richtige Richtung geben"
1976 stellten Schönherr und Kuhn ihre Arbeiten in der Dresdner Kreuzkirche aus: ohne Geld, ohne Material, die Exponate klebten sie auf einfache Wellpappe. 1981 folgte eine zweite Ausstellung, die auch als Wanderausstellung durch die DDR tourte. Doch Schönherr wollte noch mehr - er kämpfte um seine staatliche Anerkennung als Fotograf. Denn in seinem Brotberuf beim VEB Pentacon hatte der studierte Diplomphysiker zwar tagein, tagaus mit dem Thema Fotografie zu tun. Als Kreativer davon leben durfte er indes nicht.
Denn um hauptberuflich als Selbstständiger in der Branche tätig sein zu dürfen, musste Schönherr Mitglied des Verbands Bildender Künstler (VBK) werden: eine aufwendige Prozedur. Der Dresdner bewarb sich 1976 mit den 30 geforderten Arbeiten und wurde abgelehnt. Er präsentierte sich 1983 erneut, diesmal wurde er probehalber aufgenommen.
Sprüche aus Asche 1986 | 1996: Bildband
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1985 fuhr Schönherr optimistisch nach Berlin, um endgültig zugelassen zu werden - und bekam erneut eine Abfuhr. Immerhin gab man ihm eine letzte Chance: "Sie müssen sich einen Ruck in die richtige Richtung geben", riet ihm ein Professor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und forderte Schönherr auf, ein Jahr später mit einer "sozialistisch-realistischen Reportage" erneut vor die Kommission zu treten. Im Grunde kam dies bereits einem Rauswurf gleich, erinnert sich Schönherr: "Man rechnete damit, dass ich von selbst das Handtuch werfen würde." Doch dies wollte der Dresdner nicht.
Realsatire auf den real existierenden Sozialismus
Verzweifelt grübelte er über einem möglichen Thema - bis er bei einem Spaziergang durch die Straßen fündig wurde. Überall sprang ihm plötzlich die zynische DDR-Werbung ins Auge. Hochfliegende SED-Parolen auf bröckelnden Häuserfassaden, an tristen Ausfallstraßen und geschlossenen Gaststätten - "sozialistisch-realistischer" ging es kaum. Schönherr stieg in seinen Trabi, packte Frau und Sohn ein und fuhr nach Pankow.
Dort präsentierte er am 14. Oktober 1986 um 15 Uhr vor der Zentralen Aufnahmekommission des VBK im "Wilhelm Pieck Haus" jene Fotoreportage mit den Sozialismus-Slogans: ein Affront. Denn wer näher hinschaute, wurde sich der Verlogenheit der Parolen, des offensichtlichen Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit schlagartig bewusst.
Zudem war die "Sichtagitation" im Straßenbild der DDR mittlerweile auf einen geheimen Beschluss des Ministerrats hin abgebaut worden - die plumpe Eigenwerbung hatte im April 1986 das Missfallen von Russlands Staatschef Michail Gorbatschow erregt.

Fotograf Hans-Jörg Schönherr: "Man rechnete damit, dass ich von selbst das Handtuch werfen würde"
Beim Anblick der Bilder zogen die Gutachter die Brauen hoch. Diese Arbeiten seien "nicht künstlerisch genug", es handle sich um einen "Stilbruch gegenüber den älteren Arbeiten", ließen die Herren Professoren mit bleichen Gesichtern verlauten - auf das inhaltliche Thema der Fotoreportage, auf die offene Provokation, gingen sie mit keinem Wort ein. Schönherr blieb die Aufnahme in den VBK verwehrt, was einem faktischen Berufsverbot gleichkam.
Dem Selfmade-Fotografen war klar, dass er nun definitiv rausfliegen würde. Doch die einmalige Gelegenheit, den SED-Kulturfunktionären seine grandiose Realsatire auf den real existierenden Sozialismus auf den Tisch zu knallen, hatte er sich nicht entgehen lassen wollen. "Ich wollte mich weder verbiegen lassen noch kuschen", resümiert er. Ausgestellt hat Hans-Jörg Schönherr in der DDR nie wieder.