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Reste des Atlantikwalls: Den Haags geheimnisvoller Untergrund

Foto: Solveig Grothe

Bunker im Sand Warum die Holländer Hitlers Atlantikwall renovieren

Gut tausend Bunker und Tunnel entstanden an der Nordseeküste bei Den Haag - als Weltkriegsbollwerk der deutschen Wehrmacht. Stück für Stück buddeln Niederländer es wieder aus. Ein Besuch im Labyrinth.

"Die Deutschen nannten es Perlenschnur", Jacques Hogendoorn fährt mit dem Finger auf der Karte die Linie der Küstenbatterien ab, "alle zehn bis 20 Kilometer eine." Wie eine filigrane Halskette sehen die massigen Betonklötze nicht gerade aus, tief eingegraben in den Sand auf den Kuppen der Dünen entlang der Nordseeküste von Den Haag. Es sind Reste des Atlantikwalls aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit diesem Bollwerk wollten die deutschen Besatzer Hitlers Reich nach Westen verteidigen.

"Der Atlantikwall ist eine sehr schöne Perlenkette", sagt Gustaaf Boissevain, ebenfalls Niederländer. "Wir haben nur einige dieser Perlen, es gibt noch viel mehr!" Seine Augen blitzen, als spräche er über einen echten Schatz. Der Mann ist Architekt, er arbeitet für das Verteidigungsministerium. Man traut ihm also einen nüchtern-rationalen Blick auf historische Militärbauten zu, nationalsozialistische insbesondere.

Hogendoorn und Boissevain - sie gehören zu einem wachsenden Kreis von Menschen, die mit dem Atlantikwall noch Großes vorhaben. 75 Jahre nach Baubeginn, mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, entdecken die Holländer Hitlers Beton-Wahnsinn neu. Unweit des niederländischen Regierungssitzes rekonstruieren und renovieren sie Bunkerkomplexe originalgetreu nach Wehrmachtsplänen.

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Reste des Atlantikwalls: Den Haags geheimnisvoller Untergrund

Foto: Solveig Grothe

Die Stiftung Atlantikwall Museum Scheveningen sucht Fotos ehemaliger deutscher Soldaten, die in Scheveningen stationiert waren. Nachfahren, die Bilder aus dieser Zeit zur Verfügung stellen könnten, finden hier die Kontaktdaten.


Es klingt ein bisschen verrückt. Wenn man sie darauf anspricht, fragen sie sich auch selbst: Warum eigentlich gerade jetzt?

Der Untergrund von Den Haag birgt viele Geheimnisse. Tunnel und Laufgänge unter der Stadt und in den Dünen verbinden Bunkerräume, die über Jahrzehnte fast vergessen waren. Am 10. Mai 1940 war die Wehrmacht in den Niederlanden einmarschiert und traf auf wenig Widerstand. Die Regierung hatte lange gehofft, wie im Ersten Weltkrieg neutral bleiben zu können, und deshalb kein Verteidigungsbündnis geschlossen. Nach fünf Tagen waren die Niederlande besetzt.

Dezent verbauter Beton

1942 wurde Scheveningen, einst Fischerdorf, dann mondänes Seebad und heute Stadtteil von Den Haag, zum Sperrgebiet. 135.000 Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen, Tausende Gebäude wurden planiert. Die Wehrmacht zog einen Ring aus Panzersperren, Gräben, Minenfeldern. In der "Stützpunktgruppe Scheveningen" taten bis Kriegsende 3300 Soldaten Dienst. Das Kommando führte die Waffen-SS.

Hier verschanzte sich auch der von Hitler 1940 eingesetzte "Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete": Arthur Seyß-Inquart, verantwortlich für Zwangsarbeit, Deportation und Ermordung der niederländischen Juden sowie die Erschießung von Widerstandskämpfern.

Trotz Erwartung einer Invasion der Alliierten sollten Seyß-Inquart und seine Leute am vormals niederländischen Regierungssitz ausharren, an vorderster Front statt im sicheren Hinterland. Entsprechend massiv waren die Verteidigungsvorkehrungen.

Der gewaltsame Stadtumbau ist heute bestmöglich kaschiert: Die kilometerlange Abrissschneise entlang der sogenannten Hauptkampflinie wurde zur grünen Oase mit Wasserlauf. Kletterpflanzen umranken Panzermauern, manche neue Villa steht auf einem erstaunlich massiven, fensterlosen Untergeschoss - der Beton-Wahnsinn ist heute dezent verbaut.

Rund 900 Militärbauten hinterließen die deutschen Besatzer, aus mehr als 100.000 Kubikmetern Stahlbeton. Etwa 60 Prozent und gut 500 Bunker sind noch immer da. Vor zehn Jahren begann die Stiftung Atlantikwall Museum Scheveningen , einen Teil davon zugänglich zu machen. Eher schien das unmöglich.

Als Projektfreiwilliger engagiere er sich für "ehrliche Geschichte", sagt Jacques Hogendoorn. Aus seiner Schulzeit der Sechzigerjahre kannte er nur ein schwarzweißes Bild vom Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden: "Alle Deutschen waren Monster, die Alliierten waren alle liebe Jungens", so lernte es Hogendoorn. "Jetzt probiere ich, das Geschichtliche so zu erzählen, wie es war - und nichts wegzulassen."

"Nach dem Krieg war jeder Holländer ein Widerstandskämpfer", sagt auch Stiftungssekretär Jos Louwe zum Umgang seiner Landsleute mit der Besatzungsgeschichte. Über Kollaboration wollte niemand reden, schon gar nicht über rund 20.000 Freiwillige in SS-Einheiten. "Übrigens genauso wenig darüber, was in den früheren holländischen Kolonien passiert ist." Nach Japans Kapitulation 1945 hatte die alte Kolonialmacht versucht, Niederländisch-Indien erneut unter ihre Kontrolle zu bringen, mit brutalen Kämpfen gegen die indonesische Befreiungsbewegung .

Schatzgraben am Strand

Heute leben Tausende aus den einstigen Kolonien in den Niederlanden. Louwe vermutet auch darin einen Grund für die stärkere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Inzwischen gebe es unbefangenere Fragen - nach dem Krieg in Europa, auch nach diesen seltsamen Betonklötzen am Strand.

Und natürlich, fügt Louwe hinzu, habe die Sache mit dem Atlantikwall auch "ein bisschen mit Schatzgraben zu tun". Das Bunkerfieber kennen viele aus Kindertagen, als sie mit den Eltern am Strand spielten. Sie sahen diese gigantische Bauwerke, auch später zog es sie immer wieder hin: heimlich, als Halbwüchsige, mit Hammer und Taschenlampe.

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Badeort im Krieg: Tief verbunkert

Ein paar Stufen führen zu einer unscheinbaren Tür in den Dünen. Dahinter ist es stockfinster, Handlampen werden gereicht. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. In einem langen, sich windenden Gang fällt der Lichtkegel auf schwarze Buchstaben.

"Diese Zeichen an der Wand sind original: FLUW - das ist die Flugwache. PAK steht für Panzerabwehrkanone, K für Küste." Alexander Fokke hat die Führung durchs unterirdische Labyrinth übernommen. "Und hier: EL1 - das E bezeichnet den Sektor, das L bedeutet Luftwaffe, die Nummern sind fortlaufend. Die Bezeichnung stammt noch vom Neuen Westwall." So hieß die Verteidigungslinie zu Kriegsbeginn. "1942 kam die Atlantikwall-Periode, da erhielten die alten Bunker neue Nummern. Hier: 8813." Fokke beleuchtet die Ziffern auf präzise gemauertem Backsteinverband. "Kein Stahlbeton, nur Stampfbeton, alles ganz einfach konstruiert."

Lokale Bauunternehmer fügten nach Vorgaben der deutschen Heeresleitung Räume und Gänge aneinander: Geschütz-, Munitions- und Mannschaftsbunker, Küchen-, Toiletten- und Saunabunker - "fast wie ein kleines Dorf, nur bombensicherer".

Militärgeschichte war in den Niederlanden lange verpönt. "Wir waren Pazifisten, über Militär redete man nicht", sagt Stiftungsmitarbeiter Peter Kosters, im Hauptberuf Chef der Anti-Terror-Abteilung bei Europol. Geändert habe sich das erst, seit Niederländer an Auslandsmissionen teilnehmen. "Auf einmal war Militär nicht mehr schmutzig" - nun gelte es auch als legitim, sich für den Atlantikwall zu interessieren.

"Die Holländer haben diese Bunker selbst gebaut", so Kosters. "Es waren unsere Arbeiter, es war unser Geld - okay, nicht unser Auftrag." Und manche dieser Bauten seien eben auch "Perlen der Architektur". Wie, fragt er, wäre es ohne niederländische Wasserbaukunst "möglich, dass sie nicht einfach in unserem Boden versunken sind?"

So waren die Bunker nur unter Sand begraben, werden nach und nach freigelegt und zugänglich gemacht. In manchen, erzählt Alexander Fokke, habe man sogar Malereien entdeckt: Dörfer und Gebirge. "Wirklich schöne Bilder, die Soldaten wollten es sich damit etwas gemütlicher machen. - Okay, mit diesem nicht." Das Licht fällt auf einen überdimensionalen Reichsadler.

An der Wand steht ein nagelneues Hochbett, wie von Ikea. "Die Wehrmacht hatte sogar Konstruktionszeichnungen für Betten - wir haben es nachgebaut." Einfach alles an diesen "Regelbauten" war normiert. In den Archiven lagert genug Material, um zu rekonstruieren, wie es einmal war - um den Krieg begreifbar zu machen.

"Eben ganz ehrliche Geschichte"

Am Ende erfolgte die Invasion in der Normandie, nicht am Strand von Scheveningen. Den Haag kam glimpflich davon. Fast jedenfalls. Eines ihrer künftigen Projekte nennt die Stiftung "V2 Experience", V wie "Vergeltungswaffe", eine "Wunderwaffe" laut Nazipropaganda. Von Scheveningen aus waren V2 auf London und wohl auch Antwerpen gefeuert worden. In einem Bunkerraum soll man mit Sounds und Bildern einen Raketenstart von einer der mobilen Abschussrampen miterleben können.

Und im Nebenraum, wie es sich anhört und anfühlt, im Zielgebiet des Bombardements zu stehen - wie am 3. März 1945 auch Bewohner Scheveningens: Wegen eines Koordinatenfehlers starben mehr als 500 Menschen bei einem Luftangriff der Alliierten. Anstelle der deutschen Raketenstellungen bombardierte die Royal Air Force versehentlich ein Wohnviertel.

Zu den Geschichten vom Atlantikwall gehört auch das "Englandspiel", so die zynische Bezeichnung für eine Operation der deutschen Abwehr: Sie fing Agenten der Alliierten ab, die mit dem Fallschirm über den Niederlanden absprangen. Danach sollten die Spione tatsächlich an die Briten Informationen durchgeben - frisch von den Deutschen diktiert.

Heute geht man davon aus, dass die Briten das Spiel durchschauten und die Deutschen im Glauben ließen, die Desinformation gelänge. Opfer des Spiels: Niederländer, die sich in Großbritannien freiwillig für den Einsatz meldeten und nicht ahnten, dass die Deutschen sie abfangen würden. Die meisten überlebten ihr Engagement nicht.

Über die Wiederentdeckung des Atlantikwalls sagt Den Haags Vizebürgermeister Karsten Klein: "Nichts, wofür man sich schämen müsse." Die Stadt habe viel Vertrauen in die Arbeit der Stiftung - "sie erzählt beide Seiten, auch, was die Holländer vielleicht falsch gemacht haben. Eben ganz ehrliche Geschichte." Und warum erst jetzt die Beschäftigung mit der deutschen Besatzungszeit?

Klein selbst wurde in den Siebzigerjahren in den Niederlanden geboren, seine Eltern sind Deutsche. Er erzählt, wie sein Vater ihn oft mahnte: "Sag doch nicht immer, dass du deutsch bist" - aus Angst vor Anfeindungen, wie der Vater sie erlebt hatte und wie Karsten Klein sie als Kind in den Achtzigern tatsächlich auch noch erlebte. Mittlerweile aber sei die Deutschenfeindlichkeit verschwunden.

Es brauchte offenbar diese Zeit.

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