
Privatarchiv
Versteckte Nazidokumente Die Spur aus dem Sessel
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Die Frau war völlig ahnungslos, als sie 2011 ihren alten Lehnsessel in Amsterdam abholen wollte. Aufgebracht empfing sie der Polsterer: Er arbeite nicht für Nazis! Er packte ein Bündel Papiere auf den Tisch, die er im Sitzkissen gefunden hatte – Dokumente mit Hakenkreuz-Stempeln und dem Namen »Robert Griesinger«.
Irritiert starrte die gebürtige Tschechin auf die Papiere. Sie kannte keinen Robert Griesinger. Absurd erschien ihr die Vermutung des Polsterers, es handle sich um einen der deutschen Besatzer in den Niederlanden im Zweiten Weltkrieg. Der Sessel hatte nämlich schon eine lange Reise hinter sich: Er gehörte zum wenigen, das sie hatte mitnehmen dürfen, als die ČSSR ihr Anfang der Achtzigerjahre die Ausreise erlaubte. Für sie war es ein Erinnerungsstück, 1968 bei einem Trödler gekauft, als sie mit dem Studium in Prag begonnen hatte.
Daniel Lee hörte die Geschichte vom mysteriösen Fund einige Wochen später – in Florenz. Dort war der britische Historiker, frisch promoviert, auf einer Party. Schon öfter hatten ihm Leute ihre Familiengeschichten aus dem Krieg erzählt. Diese Story aber, die er von der Tochter der Frau hörte, machte ihn neugierig. Lee wollte die Dokumente sehen und das Geheimnis lüften. Zehn Jahre später erscheint jetzt das Ergebnis seiner Recherchen als Buch: »Der Sessel. Eine Spur in den Holocaust und die Geschichte eines ganz normalen Täters«.
Das Bündel aus dem Sessel beinhaltete Pässe, Aktien, Kriegsanleihen sowie ein Zeugnis über das zweite juristische Staatsexamen eines »Dr. Robert Arnold Griesinger« 1933. Nichts davon deutete zunächst auf einen Nazi hin. Lee wusste, dass damals in Deutschland jeder Hakenkreuz-Stempel in seinen Papieren hatte, einschließlich Juden. Den Dokumenten nach hätte Griesinger ein »gewöhnlicher Deutscher« sein können. Warum aber hatte sie jemand so mühselig und perfekt ins Kissen eingenäht?
Lee beschreibt seine Spurensuche, die ihn in fünf Jahren nach Prag, Zürich, New Orleans, Berlin, Stuttgart und in viele kleinere deutsche Städte führte. Wie er sich an die Familiengeschichte ihm völlig Fremder herantastete, in deren Leben stöberte und sie dazu brachte, sich ihm zu öffnen. Und er verschweigt auch sein Motiv nicht – es war mehr als professionelles Forscherinteresse: Lee stellt sich als jüdischer Historiker vor, dessen eigene Familie vom Holocaust gezeichnet ist. Im Fall Griesinger zu ermitteln, »war eine Frage der Gerechtigkeit für mich«, schreibt Lee, »ich wollte wissen, inwieweit er schuldig war«.
Eines seiner ersten Ziele war das Bundesarchiv in Berlin, ohne große Hoffnungen, etwas über den Unbekannten zu finden. Zwei Drittel aller SS-Mitgliedsakten waren bei alliierten Bombenangriffen vernichtet worden. Lee wurde überrascht – Mitarbeiter händigten ihm eine Akte aus, auf dem Deckblatt stand: »Dr. Robert Griesinger, SS-Nummer 161 860«.
Wie jedes SS-Mitglied musste Griesinger einen Stammbaum als »Ariernachweis« vorlegen. Lee wunderte sich über die Lücken in der »Ahnentafel«: Griesinger hatte wohl Schwierigkeiten, alle Dokumente beizubringen; einige seiner Vorfahren lebten in den USA. Offenbar glaubte man Giesinger dann einfach, dass sein Vater die nach NS-Vorstellungen richtigen rassischen Voraussetzungen aus New Orleans mitgebracht hatte, folgerte Lee. Die Linie reichte zurück bis zu früheren Sklavenbesitzern.
Lee erkannte das Südstaatenflair wieder, als er Griesingers Villa in Stuttgart besuchte – ein Haus mit vorgesetzten Säulen wie in »Vom Winde verweht« und Antebellum-Möbeln, ähnlich dem tschechischen Lehnsessel. Wo Robert Griesinger, geboren 1906, seine Kindheit verbracht hatte, traf Lee dessen Neffen. Er erfuhr von einer weithin zersplitterten Familie, kontaktierte nach und nach die Mitglieder oder versuchte es zumindest.
Stück für Stück rekonstruiert der Historiker Griesingers Lebensgeschichte, den Weg des Jurastudenten, dessen Verbindungen von der Uni Tübingen – damals eine der angesehensten und zugleich reaktionärsten Deutschlands – seine gesamte Karriere begleiteten. Am 11. September 1933 trat Griesinger den Dienst als Beamter im Reichsministerium des Innern an, am selben Tag unterschrieb er seinen SS-Aufnahmeantrag.
Seine Dienststelle hatte der junge Jurist zeitweise im Stuttgarter »Hotel Silber«, der Gestapo-Zentrale, offiziell das »Württembergische Politische Landespolizeiamt«. Männer, mit denen er dort zusammenarbeitete, wurden später als schlimmste Kriegsverbrecher bekannt:
Walter Stahlecker, Befehlshaber der Einsatzgruppe A, die allein 1941 im Baltikum fast 250.000 Juden ermordete
Wilhelm Harster, Chef der Sicherheitspolizei in den Niederlanden und verantwortlich für die Deportation von mehr als 100.000 Juden
Rudolf Bilfinger, beteiligt am Aufbau des Reichssicherheitshauptamts und an Planungen zur »Endlösung der Judenfrage«
Griesinger taucht in der Kriegsverbrecher-Liste nicht auf. Er wurde Anfang Juni 1941 der 25. Infanterie-Division Stuttgart zugeteilt und nach Osten Richtung Ukraine geschickt. Lee fand heraus: »Innerhalb weniger Tage hatten sich einige Männer in Griesingers Einheit aus schwäbischen Wehrpflichtigen in kaum kontrollierbare Killer verwandelt.« Nicht überprüfen lasse sich, »ob Griesinger an diesen Gräueltaten beteiligt war, aber er war – wie die Mehrzahl der drei Millionen Soldaten, die in die Sowjetunion einmarschiert waren – wohl nahe genug, um zu wissen, was vorging«.
Mitte September 1941 wurde Griesinger schwer verwundet. Schon im Vorjahr hatte er sich um Versetzung ins »Protektorat Böhmen und Mähren« bemüht. Nach seiner Genesung bekam er in Prag 1943 eine Stelle im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Es hatte die Aufgabe, die tschechische Industrie vollständig für das Deutsche Reich zu mobilisieren. »Nicht seine Mitgliedschaft in der SS, sondern seine Tätigkeit als Beamter im Ministerium machte ihn zu einem NS-Täter«, resümiert Lee.
Weder Kommunisten und Sozialdemokraten noch die jüdischen Deutschen, die Mitte der Dreißigerjahre in den Folterzellen des »Hotel Silber« gequält worden waren, hätten den Namen des Beamten gekannt, auf dessen Anweisungen ihre Verhaftung erfolgte. Auch in Prag sei Griesinger nur wenigen Unternehmern bekannt gewesen, deren Firmen er ruinierte, erklärt Lee. »Die zahllosen Menschen, die aufgrund seiner Entscheidungen arbeitslos und zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurden, wussten nicht, wem sie das verdankten.« Weiter schreibt Lee:
»Griesinger war nicht bloß ein kleines Rädchen in einer großen Maschine, wie manche Schreibtischtäter später von sich behaupteten. Sein Schreibtisch im ›Hotel Silber‹ stand ganz in der Nähe der Folterkammern, seine Mitgliedschaft in der SS war nicht harmlos, seine Methoden bei der Beschaffung von Zwangsarbeitern und seine Besuche in den Fabriken, in denen sie eingesetzt wurden, zeigen, dass er genau gewusst haben muss, was er tat, und man kann davon ausgehen, dass er auch von den Verbrechen der Wehrmacht gegen Juden und Kommunisten im Sommer 1941 in der Ukraine eine ziemlich präzise Vorstellung hatte.«
In den letzten Kriegstagen verliert sich Griesingers Spur: Noch am 5. Mai 1945 erschienen deutsche Beamte in Prag befehlsmäßig zum Dienst – an diesem Tag brach der tschechische Aufstand los. Widerstandskämpfer riefen dazu auf, Deutsche zu töten. Einer Meldekarte der Polizei zufolge wurde Griesinger zu Hause nicht angetroffen.
Fünf Monate später war er tot. »Amöbenruhr« steht als Todesursache auf dem Totenschein, den seine Mutter erhielt. Griesinger war demnach am 27. September 1945 in einer Krankenstation für Deutsche mit Infektionskrankheiten in Prag gestorben. Lee fiel allerdings auf, dass Angaben auf der Sterbeurkunde von denen im tschechischen Sterberegister abwichen, insbesondere der Ort der Beisetzung. Nicht klären ließ sich, ob Griesinger tatsächlich an einer Infektion starb oder erschossen wurde, wie die Angehörigen glauben.
Mit seinem Buch wollte der Historiker zeigen, dass es möglich ist, das Leben eines gewöhnlichen NS-Täters nachzuzeichnen. Einfache SS-Offiziere kämen in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung kaum vor, sagt Lee. Gut erforscht seien die Verhältnisse im SS-Hauptamt, im Reichssicherheitshauptamt oder im Rasse- und Siedlungshauptamt sowie die Biografien der führenden Männer; sonst lägen nur Studien über die Waffen-SS vor. Mit seiner Fallstudie zu Robert Griesinger wollte Lee die unteren Hierarchieebenen besser ausleuchten. Es habe sich gezeigt, dass die SS ein komplexeres Gebilde war, als Klischees von sadistischen Psychopathen vermuten ließen.
Mit Blick auf die Familie stellte Lee fest: Nach seinem Tod sei Griesinger zum schwarzen Schaf erklärt oder durch selektives Vergessen entlastet worden. Eine lange, bittere Erbauseinandersetzung habe wohl auch mit seiner NS-Vergangenheit zu tun gehabt und den familiären Zusammenhalt zerstört.
Wie Griesingers Dokumente in den Sessel gelangten, konnte Lee nicht herausfinden. Für dieses Geheimnis blieb Lee nur eine Vermutung: Im Herbst 1938 lief der Film »13 Stühle« mit dem beliebten Heinz Rühmann an; darin hat eine alte Dame ihr ganzes Vermögen in einen Stuhl eingenäht. Vielleicht habe Griesinger den Film gesehen – und sich später in Todesangst beim Prager Aufstand daran erinnert.
In Tschechien habe der Fund im Sessel weniger Überraschung ausgelöst als in Amsterdam, erzählt der Forscher. Ein Prager Polsterer berichtete ihm, dass die Leute dort lange Zeit gute Gründe hatten, Dinge in Möbeln zu verstecken. So stoße er praktisch in jedem zehnten Sofa oder Sessel auf Briefe oder Dokumente aus den Jahren der kommunistischen Herrschaft – und habe nie etwas davon gelesen. Meist würden die Sachen weggeworfen, außer Geld oder Wertgegenstände.
Man müsse wohl davon ausgehen, schreibt Daniel Lee, »dass sich auf diese Weise jede Woche Tausende von historischen Dokumenten (und Forschungsprojekten) in Nichts auflösen«.
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Der Sessel, in dem Robert Griesingers Dokumente versteckt waren (Bildhintergrund leicht bearbeitet): 1968 hatte eine Tschechin den Lehnstuhl bei einem Trödler in Prag gekauft und war mehrmals damit umgezogen, ohne zu ahnen, was sich im Sitzkissen befand.
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Der Pass gehörte zu den Dokumenten, die im Sessel versteckt waren, ausgestellt für Robert Griesinger im Dezember 1942 durch das Polizeisekretariat Stuttgart. Der Jurist machte eine Beamtenkarriere, die ihn nach dem Studium zunächst nach Stuttgart, später nach Prag führte. Männer, mit denen er zusammenarbeitete, wurden später als schlimmste Kriegsverbrecher bekannt.
Das Haus der Griesingers an einem Abhang im Süden Stuttgarts: Roberts Vater hatte sich eine Villa gewünscht, die ihn an seine Kindheit in Louisiana erinnerte. Deshalb ließ er Säulen vor die Eingangstür setzen, die einen großen Balkon tragen.
Vom Winde verweht: Das Foto zeigt Robert Griesinger 1937 mit seiner Frau Gisela auf den alten Antebellum-Möbeln, die seine Großeltern aus New Orleans mitgebracht hatten.
Robert Griesinger zu Kriegsbeginn um 1939 als Soldat mit einem der Pferde der später motorisierten 25. Infanterie-Division; ab 1941 war er Mitglied der 25. Infanterie-Division, die in die Ukraine geschickt wurde. Dort verübten Wehrmacht und SS furchtbare Massaker.
Der Pass gehörte zu den Dokumenten, die im Sessel versteckt waren, ausgestellt für Robert Griesinger im Dezember 1942 durch das Polizeisekretariat Stuttgart. Der Jurist machte eine Beamtenkarriere, die ihn nach dem Studium zunächst nach Stuttgart, später nach Prag führte. Männer, mit denen er zusammenarbeitete, wurden später als schlimmste Kriegsverbrecher bekannt.
Foto: Privatarchiv Jutta MangoldMelden Sie sich an und diskutieren Sie mit
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