
30 Jahre Rock am Ring: Bier, Gitarren und Legenden
Rock am Ring Wer zum Henker ist dieser Bono?
Ich war gerade zwölf Jahre alt, da nahm mich meine Schwester mit auf mein erstes Rockkonzert: Deep Purple spielten 1975 in der Saarbrücker Saarlandhalle. Ein Jahr später sah ich die Rolling Stones in Stuttgart, 1978 begeisterte mich Bob Dylan in Nürnberg. Es war das größte Massenspektakel, das die Bundesrepublik bis dahin gesehen hatte.
Von da an war ich angefixt. Auch Ende Mai 1985, als ein neues Festival mit klangvollen Namen warb: U2, Joe Cocker, Marillion, Reo Speedwagon und viele andere würden zum "Rock am Ring" in die Eifel kommen. Da musste ich einfach hin!
"Der kleine Klugscheißer!"
Drei Jahrzehnte später lebt das ursprünglich als einmalige Veranstaltung geplante "Rock am Ring" immer noch. Längst ist es zum traditionsreichsten deutschen Festival der Populären Musik aufgestiegen, ein Mythos der Musikgeschichte. Auch im Jubiläumsjahr wird das Festival wieder ausverkauft sein, trotz des Streits um Namensrechte, trotz der Suche nach einem neuen Standort. Und ich, ein Überlebender aus der analogen Welt, werde wieder hinpilgern, wie all die Jahre zuvor. "Rock am Ring" ist für mich längst zum Soundtrack meines Lebens geworden.
Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, spürte ich im vergangenen Jahr, ganz banal in der Dixi-Klo-Schlange. Ein Teenager fragte mich, wie alt ich sei und meinte nur, ich erinnere ihn an seinen Vater, während ich mich daran erinnerte, was bei den Festivals der Vergangenheit alles so passiert war. Der Teenager hatte zu der Zeit noch gar nicht gelebt, dachte ich. Er schwärmte von Metallica... und ich meinte nur: "Die habe ich hier schon 1999 gesehen!" Er würde auch gerne mal die Toten Hosen am Ring sehen, sagte der Teenager weiter. Da meinte ich, die hätte ich hier auch schon siebenmal gesehen - 1997 zum ersten Mal.
Die Dixi-Klo-Schlange wurde im Verlaufe des Gespräches kürzer und der scheinbar handysüchtige und ständig im Netz surfende Nerd mit Iron-Maiden-T-Shirt war kurz beeindruckt.
Dann aber berichtigte er mich: "Google meint, die Hosen seien schon 1996 hier gewesen, hätten aber nur sechs Mal hier gespielt: 1996, 2000, 2004, 2005, 2008, 2012." Ich dachte nur, der kleine Klugscheißer hat schon - wenn auch nur ein wenig - Recht, erwiderte aber: "Dafür hatten die Hosen 2004 zwei Auftritte. Einmal als Headliner, damals am Sonntagabend und eine Nacht zuvor draußen auf dem Parkplatz am Haupteingang vor knapp 5000 Zuschauern bei einem Spontan-Gig... und ich war da dabei." Das beeindruckte den Internet-Nerd wiederum.
Also ließ er mich Dinosaurier aus der analogen Welt vor sich aufs Dixi-Klo. Zum Glück sah er nicht meinen orangefarbenen VW-Bus von 1974 draußen auf dem Parkplatz, mit dem ich seit 1985 immer wieder mal anreise.
Ähnlich entwickelte sich ein Gespräch am Döner-Stand, als mich ein weiterer Vertreter der Generation Y fragte, wen ich hier denn schon alles live erlebt hätte.
Ich erzählte ihm von Bono Vox, der 1985 über die Boxengassen balancierte und damit 100.000 Zuschauern Angst vor einem Absturz machte. Der junge Festival-Gänger kannte Bono gar nicht. Dann erzählte ich ihm von Leonard Cohen, der 1993 einen wahrhaft unglücklichen Auftritt hatte. Überall wurde er auf seiner Welttournee gefeiert, nur am Ring warf jemand Tomaten auf ihn und die Leute pfiffen ihn ungerechtfertigterweise aus und schrien "Aufhören". Die kannten Leonard Cohen damals auch nicht. Mein Döner-Kumpel auch nicht.
Ich erzählte ihm dann vom Stromausfall 1997 bei Chris Rea und davon, dass ich einmal Gene Simmons von Kiss in seiner Fledermaus-Montur Backstage vor seinem Auftritt ein Groupie vernaschen sah. Er kannte Chris Rea und Gene Simmons ebenfalls nicht. Also hörte ich auf, in der Vergangenheit zu schwelgen und von unvergesslichen Momenten mit R.E.M. oder Marilyn Manson zu träumen. Ich begann, wieder an der Gegenwart teilzunehmen.
Mittlerweile sind es nicht mehr die klassischen Mega-Super-Acts wie Joe Cocker und U2, die beim ersten Festival auftraten, oder Musik-Legenden wie Elton John (1992), Bob Dylan (1998) und Depeche Mode (2006), die die Bedeutung vom "Rock am Ring" ausmachen. Längst ist es nicht mehr die Inszenierung der ohnehin langsam verblassenden Rockgeschichte und ihrer alternden Protagonisten, sondern einfach nur das musikalische "Jetzt", "Hier" und das "Sofort". Hippes Wir-Gefühl in der Masse, schnelles Tweeten auf Social-Media-Plattformen und Gehetze zwischen den Bühnen sind angesagt.
Der Musiker wird zum Nebenprodukt
Die meisten Acts werden heute im Internet gestreamt. Jeder im Publikum versucht sich durch Gestik, Mimik oder Kostüm für die Live-Kameras attraktiv zu machen. Das Publikum inszeniert sich selbst und der Künstler, egal wer es ist, bietet dafür den Soundtrack. "Rock am Ring" macht den Künstler zum Nebenprodukt und stellt trotz Trommelwirbel, Bassrhythmen und Feuerwerk das Lebensgefühl der Besucher in den Mittelpunkt.
Die These des US-Medienkritikers Neil Postman, dass sich die Gesellschaft einmal zu Tode amüsieren wird, nimmt auf dem Eventgelände minütlich Gestalt an. Die einen setzen Panda-Masken auf oder verkleiden sich als Eisbär oder Pinguin, die anderen tragen Riesenhüte, um ihre Individualität in der Masse auszudrücken. Bühnen, auf denen schnelllebige Künstler-Acts die Welle ihres oft ebenso schnelllebigen Erfolgs genießen, bestimmen heute den Festivalverlauf.
Der Generationswechsel setzte ein, als ab den Nullerjahren die Vokuhilas nicht mehr kamen - dafür aber ihre Kinder und Enkel. Das Festival-Gefühl der Achtziger- und Neunzigerjahre, als man noch brav und pünktlich anreiste, sich vor der Bühne mit einem Becher Bier und einer Bratwurst postierte und das Programm stundenplanmäßig und kopfwippend absolvierte, ist vorbei. Seit dem Millennium taucht man auf dem Nürburgring ein, unter - und irgendwann wieder auf.
Zum ersten "Rock am Ring" kam "nur" eine zusammengewürfelte Gruppe angesagter Stars, die die Massen bewegte und das Etikett "Rock" nicht wirklich verdiente. Es war mehr "Pop". Heute ist das Festival für mich eine Art modernes Märchen auf Zeit, in das man multimedial und mit allen Sinnen eintaucht, um berauscht von Musik und guter Stimmung zurück in die Realität zu surfen. So zumindest war es 2014.
1985 kostete ein Ticket keine 50 Mark, 30 Jahre später sind es knapp 200 Euro. Und auch wenn das "Rock am Ring" in diesem Jahr erstmals nicht mehr am Nürburgring, sondern auf einem etwa 36 Kilometer entfernt liegenden Flughafengelände stattfinden wird, werden die Menschen dafür zahlen. Jeder Mythos hat eben seinen Preis.
Christof Graf, Prof. Dr., Jg. 1963 ist Professor für Marketing an der ASW Berufsakademie des Saarlandes, freier Journalist, Blogger und Buchautor mehrerer Bücher über Leonard Cohen, Bob Dylan und die Rolling Stones. 2015 erschien sein Bild-Text-Band "Rock am Ring 1985 -2015 - 30 Jahre sind nicht genug", Hannibal-Verlag. Graf pilgert seit 1985 zum Rock am Ring, und berichtet seit über 27 Jahren vom Ring.

Christof Graf:
Rock am Ring - 30 Jahre sind nicht genug
Alle Bands, alle Skandale, alle Fotos.
Hannibal Verlag; 320 Seiten; 39,99 Euro.
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