
Stones-Konzert in der DDR: Das Nicht-Ereignis, das zum Großereignis wurde
Rockfans in der DDR No Satisfaction an der Mauer
Das Gerücht sprach sich schnell herum und versetzte Jugendliche überall in der DDR in helle Aufregung: Die Rolling Stones spielen am 7. Oktober 1969 auf dem Dach des Springer-Hochhauses in West-Berlin - extra für uns! Das 20-geschossige Verlagsgebäude war wie geschaffen für so eine Aktion: Direkt an der Mauer in Kreuzberg unweit des Checkpoint Charlie errichtet, war es auch im Osten der Stadt weithin sichtbar. Die im Krieg zerstörte Leipziger Straße war damals noch eine einzige große Brache. Zehntausende ostdeutscher Stones-Fans hätten dort Platz gefunden.
Bei Staatssicherheit und Volkspolizei löste das Gerücht Großalarm aus. Fieberhaft recherchierte der SED-Sicherheitsapparat, was an dem allgemeinen Gemunkel im Land dran sei. Denn das ominöse Konzert sollte ausgerechnet am 20. Jahrestag der DDR steigen - in den Augen der DDR-Oberen eine "glatte Provokation des Klassenfeinds".
Verbreitet hatte die sensationelle Nachricht der West-Berliner Hörfunksender Rias in dem beliebten Musikformat "Treffpunkt". Die Rocksendung galt vielen Jugendlichen in der DDR als unbedingt glaubwürdig, ihre Moderatoren Nero Brandenburg, Olaf Leitner oder Barry Graves waren Kult im Osten. Besonders beliebt war die Samstagsnachmittagssendung des "Treffpunkt", die ganz den Musikwünschen der "DDR-Jugend" vorbehalten war, welche den Sender auf vielerlei Umwegen ereichten. Die am häufigsten gewünschte Musik war die der britischen Rockband Rolling Stones.
Jux mit Folgen
Dass die britischen Rocker auf dem Springer-Hochhaus in die Saiten greifen würden, hatte "Treffpunkt"-Moderator Kai Blömer über den Äther in die DDR verbreitet - ohne ansatzweise zu ahnen, was er mit seinem Jux auslösen würde. Zwar kam die Stasi mittels ihrer V-Leute im Westen relativ schnell dahinter, dass es sich wirklich nur um eine "Ente" handelte. Dennoch traf sie weitreichende Maßnahmen, um Jugendliche vom Ort des Geschehens fernzuhalten: Als Stones-Fans bekannte Jugendliche in der ganzen DDR erhielten für den 7. Oktober Berlin-Verbot, einige wurden sogar vorsorglich verhaftet. Dennoch reisten weit über tausend Rockfans aus allen Bezirken der DDR nach Ost-Berlin, um das erhoffte Spektakel zu erleben.
Auch der Beatfan Bernd Woick aus Jessen an der Elster hatte von dem Stones-Konzert gehört. Seine Fahrkarte in die Hauptstadt der DDR hatte er da bereits in der Tasche - eigentlich nicht gedacht für eine Wallfahrt zu den Rockgöttern, sondern für einen Ausflug zu den offiziellen Feierlichkeiten zum Republikgeburtstag; eine Auszeichnungsfahrt für ihn und die Mitglieder des FDJ-Jugendclubs der Kreisstadt.
Woick hatte im Jahr zuvor sein Landtechnik-Studium in Berlin-Wartenberg beendet. Während seiner Berliner Zeit hatte er nebenbei in den Tanzsälen der Hauptstadt viele Rockbands erlebt. "Da war ständig was los", erinnert er sich. "Es gab den Twistkeller in Treptow mit den Sputniks und das Diana-Show-Quartett mit Achim Menzel. Es spielten auch schon die Luniks, bei denen Dieter Birr von den Puhdys angefangen hat. Sie und andere haben die ganzen aktuellen Hardrocktitel der Westbands nachgespielt. Verbote wurden ja generell umgangen."
Lieber Kneiper oder FDJ-Sekretär?
Damals war in Sachen Beatmusik gerade Tauwetter angesagt. Drei Jahre nach dem berüchtigten "Kahlschlag"-Plenum der SED vom Dezember 1965, als nahezu allen Gitarrenbands die Spielerlaubnis entzogen worden war, fand eine vorsichtige Öffnung statt. Mit Singeclub-Liedern, das hatte inzwischen auch der Zentralrat der FDJ begriffen, war die Jugend nämlich definitiv nicht zu gewinnen.
Auch Bernd Woick wollte in der Provinz auf live gespielten Rock nicht verzichten - er begann, mit Gleichgesinnten Tanzabende zu organisieren und konnte nach und nach auch bekanntere Bands verpflichten. "Tanzveranstaltungen für Jugendliche konnte man in der DDR nur organisieren, wenn man entweder Kneiper war, also eine Gaststätte mit Saal hatte, oder über die FDJ", berichtet Woick. Also habe er sich halt zum ehrenamtlichen FDJ-Sekretär des Ortes wählen lassen. "Begonnen haben wir auf den auf den Dörfern ringsum. Erstmal probeweise, wie das läuft. Ab 1969 haben wir dann zusammen mit dem Wirt des Erlenhofs in Jessen Tanzveranstaltungen organisiert."

Stones-Konzert in der DDR: Das Nicht-Ereignis, das zum Großereignis wurde
Bald kamen auch die richtig prominenten DDR-Gruppen: Klaus Renft aus Leipzig oder Joco Dev und Modern Soul aus Berlin. "Wir wurden dann so ein wahres Beat-Zentrum, wo Jugendliche aus der halben DDR hingetrampt sind", schildert Woick die Entwicklung. Damals machte er auch wenig angenehme Erfahrungen, etwa als die Kultsendung Rias-Treffpunkt auf seine Konzerte aufmerksam wurde "Normalerweise haben sich unsere Veranstaltungen über den Buschfunk herumgesprochen", erinnert er sich. "Doch dann wurden sie auch mal im Rias-Treffpunkt angekündigt, was nicht so gut war für uns. Wir standen ja auch so schon ständig im Visier der örtlichen Bedenkenträger, da war diese Art Radiowerbung eher kontraproduktiv."
Durch die Hintertür nach Ost-Berlin
Doch im Herbst 1969 wandelte sich die Stimmung. Woicks FDJ-Gruppe erntete nun gar offizielles Lob für ihr Engagement - und konnte so am 7. Oktober ungehindert nach Berlin. Anderen Stones-Fans wurde die Anreise schwerer gemacht. Auf Berliner Bahnhöfen und in den S-Bahnen lief die Transportpolizei verstärkt Streife, um zu verhindern, dass Musikliebhaber ins Stadtzentrum gelangten. Hunderte von Sicherheitskräften riegelten die Leipziger Straße vis-à-vis des Springer-Hochhauses weiträumig ab. Überall waren Polizeiketten und Hundestaffeln.
Während am Alex noch die Feiern zum 20. Republikgeburtstag liefen, kam es gegen 17 Uhr rund um die nahegelegene Fischerinsel zu ersten Rangeleien und handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ordnungshütern und Stones-Fans. Volkspolizisten mit Gummiknüppeln jagten die Jugendliche durch die angrenzenden Straßen. 383 wurden vor Ort verhaftet, weitere 621 erkennungsdienstlich behandelt. Viele von ihnen wurden anschließend strafrechtlich verfolgt und bestraft. Nicht wenige Biografien nahmen nach diesem Tag einen anderen Verlauf.
Das Konzert der Rolling Stones auf dem Springer-Hochhaus aber ging in die Rockgeschichte und die der DDR ein, obwohl es gar nicht stattgefunden hatte. In den Archiven füllen die Akten der Stasi zu dem Vorgang viele Regalmeter. Seltsamerweise sind Fotos von dem Ereignis darin nicht abgelegt. Doch es gibt tatsächlich Fotos von dem Nicht-Ereignis, das zum Großereignis wurde. Bernd Woick hat sie damals gemacht.
"Da hab' ich doch Fotos von"
Nach der offiziellen Jubel-Demonstration auf der Karl-Marx-Allee hatte Woick sich von seiner Delegation in Richtung Springer-Hochhaus abgesetzt. Mit der Spiegelreflexkamera seiner Freundin Simone, einer Berufsfotografin, dokumentierte er heimlich, was jetzt geschah. "Da standen die Fans in kleinen Gruppen rum", erzählt er. "Alle haben zu dem Springer-Hochhaus hinter der Mauer gestarrt. Auf dessen Dach rannten immer irgendwelche Leute rum. Die machten so den Eindruck, als ob da oben gleich irgendwas passieren würde." Aber was sich dort tat, ließ sich nicht genau sagen, da Polizeiketten das Gebäude weiträumig absperrten. "Die drängten uns dann immer weiter zurück", ruft sich Woick 40 Jahre später die Situation in Erinnerung. "Ich hab fotografiert, solange es ging. Die letzten, verwackelten Bilder habe ich noch im Fortlaufen gemacht." Gerade noch rechtzeitig tauchte der exponierte Fotograf bei Beginn der Räumungsaktion in der Menge unter.
Seine Aktivität als Rock-Impresario in der Provinz setzte Woick noch zwei Jahre fort, wenn auch zunehmend unter Schwierigkeiten. "Ich bin oft zur Polizei zitiert worden zu Aussprachen, weil die angereisten Fans mal wieder den Bahnhof zerlegt hatten" erzählt er. "Es war ein ständiger Kampf und ging eigentlich nie um Musik. 1971 bin ich dann von meiner Funktion entbunden worden." Die Kreisleitungen von FDJ und SED machten ihm das Leben schwer. Sogar die Staatsanwaltschaft begann sich dafür zu interessieren. "Das war denen zu viel geworden, es war ihnen zu viel Tumult in der Stadt", glaubt Woick. Doch bei den Neuwahlen zur FDJ-Ortsleitung wird er von den Jugendlichen einstimmig wiedergewählt.
Dennoch zog Woick einen Schlussstrich. "Ich habe mit dem Wirt vom Erlenhof noch die bereits abgeschlossenen Verträge mit den Bands realisiert, die hat er privat übernommen", erinnert sich Woick. "Danach fanden die Konzerte und Tanzveranstaltungen im neugebauten Kreiskulturhaus statt - aber das war nicht mehr dasselbe." Und die sensationellen Fotos vom Stones-Konzert, das nicht sein sollte? Die hatte Bernd Woicks Freundin zu Hause entwickelt. Sie wurden sorgsam verwahrt - und vergessen. Erst vor wenigen Jahren, als der Autor dieser Zeilen mit Woick - der immer noch in Jessen lebt und heute als Rechtsanwalt arbeitet - wieder einmal auf den 7. Oktober 1969 zu sprechen kam und beklagte, dass es von diesem Ereignis keine Bilder gebe, erwiderte Woick trocken: "Da hab' ich doch Fotos von."
Hier sind sie.