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Röntgenschallplatten: Knochen, die rocken

Foto: Igor Belij

Röntgenschallplatten Knochen, die rocken

Das Hüftgelenk? Elvis. Die Augenhöhle? Die Beatles. Rebellische Musikfans in der Sowjetunion suchten seit den Vierzigern immer wieder Wege, die Zensur zu umgehen. Die ausgefallenste Idee: geschmuggelte Rock- und Jazzplatten auf alte Röntgenbilder zu kopieren. einestages zeigt die Schädel-Scheiben - und lässt Sie reinhören.
Von Karin Seethaler

"Wyssozki, Beatles, Humperdinck", hatte der Unbekannte verschwörerisch geflüstert und Wiktor Suchorukow noch ein Stück weiter ins Dunkel des Moskauer U-Bahnhofs gezogen. Dort, in einer düsteren Ecke, machten die beiden das Geschäft perfekt. "Schneller, schneller", trieb der Händler zur Eile und warf hektische Blicke über die Schulter. Gegen zwei Rubel händigte er Suchorukow eine biegsame, runde Folie aus. Dann verschwand er.

"Im selben Augenblick passierte etwas mit meinem Organismus", erinnerte sich Wiktor Suchorukow 2007 in einer Dokumentation des russischen Fernsehens. Bewegt beschrieb der Film- und Theaterschauspieler die Furcht, die ihn damals, Ende der Sechziger, gepackt hatte. "Alle Passanten", schilderte er, "schienen mich plötzlich zu beobachten und zu verdächtigen. Es waren keine normalen Männer und Frauen mehr. Es waren KGB-Mitarbeiter. Sie wussten, dass ich gerade eine verbotene Platte gekauft hatte."

Angst ist ein Gefühl, an das sich viele erinnern, die in der Sowjetunion trotz strenger Verbote des kommunistischen Regimes nicht auf Jazz, Blues oder Rock'n'Roll verzichten wollten. Denn die Konsequenzen waren hart: Wer als junger Mensch mit "ideologisch fremder" Musik ertappt wurde, musste damit rechnen, sofort von der Schule zu fliegen oder den Studienplatz zu verlieren. In "schweren" Fällen drohten sogar Gefängnis oder Arbeitslager. Doch für viele Jugendliche war die Liebe zur Musik größer als die Angst vor dem Risiko. Sie wollten Elvis, die Beatles oder Louis Armstrong, und sie bekamen sie auch: Im Schutz dunkler Torbögen warteten wendige Händler auf Käufer wie Wiktor Suchurokow. Für ein paar Rubel wechselten die verbotenen Alben dort den Besitzer.

Wie so oft hatte staatliche Repression nur dazu geführt, dass sich der Handel mit heißer Ware in den Untergrund verlagerte. Doch im Fall der sowjetischen Diktatur war aus dem Verbot noch etwas anderes entstanden: der vielleicht verblüffendste Einfall der Musikgeschichte. Denn Suchorukow hatte damals keine normale Schallplatte zugesteckt bekommen, sondern eine dünne, weiche Scheibe mit Aufnahmen menschlicher Knochen. Ein Röntgenbild. Und dieses Röntgenbild spielte Musik.

Ein polnischer Telefunken

Die Spur des außergewöhnlichen Einfalls führt ins Leningrad der vierziger Jahre. Dort eröffnete der Ingenieur Stanislaw Filon 1946 ein kleines Studio für Bild- und Tonaufnahmen - die erste Einrichtung dieser Art in der Stadt und eine Attraktion für ihre Bürger. Denn Filon hatte etwas, was sonst keiner hatte: ein eigenes Aufnahmegerät, einen Apparat der Firma Telefunken, den er nach Kriegsende aus Polen mitgebracht hatte. "Audiobriefe" wolle er damit aufnehmen, hatte er den Behörden erklärt, kurze Grußbotschaften seiner Kunden an ihre Verwandten oder selbstgesungene Lieder zu Gitarrenbegleitung. Die sowjetische Verwaltung - sonst in dieser Hinsicht nicht gerade bereitwillig - stellte eine Genehmigung aus.

Doch die Aufnahme von Grußbotschaften war nur eine Seite des bald regen Geschäftsbetriebs am Newski Prospekt No. 75. Denn sobald abends der letzte Kunde gegangen war, ging hinter verschlossenen Türen die eigentliche Arbeit erst los. Dann machte sich Stanislaw Filon daran, auf seine Art den Eisernen Vorhang zu durchbrechen: Oft bis in die frühen Morgenstunden kopierte er mit seinem alten "Telefunken" alles, was an verbotener oder westlicher Musik gerade verfügbar war: Jazz, Boogie-Woogie, Tango, Foxtrott.

Die Nachfrage war gewaltig. Ein einzelnes Aufnahmegerät vermochte sie bald nicht mehr zu bewältigen. Filon konnte kaum so schnell produzieren, wie ihm die Ware aus den Händen gerissen wurde - und er profitierte nicht schlecht von seinem Monopol. Doch es sollte nicht lange halten. Unerwartet erschien Anfang 1947 ein junger Mann auf der Bildfläche, der die Sache in die Hand nahm. Ein Mann, der schon aufgrund seiner Biografie für Ungewöhnliches vorbestimmt schien: Ruslan Bogoslowskij, ein talentierter Techniker und waghalsiger Motorradrennfahrer, der nebenbei im Zirkus arbeitete und in seiner Freizeit Erfindungen machte.

"Wäre doch schön, wenn wir selbst so einen Apparat hätten"

Großgewachsen, mit hoher Stirn und dichtem Schnurrbart stand er eines Tages in Filons Tür. Er hatte von der erfolgreichen Untergrundproduktion gehört und wollte sich selbst ein Bild machen. Vor allem der Mechanismus des Aufnahmeapparats hatte es ihm angetan: Interessiert beobachtete er, wie die Nadel dünne Tonspuren in die weichen Kunststoffscheiben ritzte, die Filon als Rohmaterial für seine Platten nutzte. "Wäre doch schön, wenn wir selber so einen Apparat hätten", vertraute Bogoslowskij seinem Freund Boris Taigin den Traum an, der in ihm dabei erwacht war. Ein ehrgeiziger Traum: eine eigene, unabhängige Plattenproduktion.

"Ruslan trat also an Filon heran, und der erlaubte ihm, die genauen Maße seines Aufnahmeapparats abzuzeichnen", erinnerte sich Boris Taigin später. "Zwei Abende lang notierte sich Ruslan jedes Detail. Dann erklärte er, dass die Konstruktion eine Dummheit sei. Es ging ihm nicht in den Kopf, wie jemand ein solches Gerät hatte entwerfen können. Ruslan war überzeugt, dass er es selber besser gemacht hätte."

Und wirklich: Bereits nach kurzer Zeit hatte Bogoslowskij erste Arbeitszeichnungen fertig und sogar einen Drechsler gefunden, der die für die Konstruktion benötigten Teile herstellen konnte. Das Ziel schien damit bereits in greifbare Nähe zu rücken. Ein Problem jedoch galt es vorher noch zu lösen. Ein Problem, an das bisher noch niemand recht gedacht hatte: Woher sollte man das nötige Material zur Produktion der Schallplatten und Tonfolien nehmen? Zelluloid, wie es Filon verwendete, war kaum in ausreichenden Mengen zu bekommen.

Rippen, Schädelhöhlen und Hüftknochen

Glaubt man den Berichten von Zeitzeugen, dann war es auch hier Ruslan Bogoslowskij, der den Weg fand, diesen Mangel zu beheben. Ein unerwarteter Weg, der dorthin führte, wo wohl niemand die Lösung vermutet hätte: in die Archive der Leningrader Krankenhäuser. Dort lagerten Tausende alter Röntgenbilder, für die niemand Verwendung hatte. Bilder gebrochener Hände und Füße, Rippen, Schädelhöhlen und Hüftknochen - kiloweise nicht mehr gebrauchtes Filmmaterial.

"In den Kliniken freuten sie sich sogar, dass wir ihnen diese Last abnahmen", erzählte Boris Taigin 2007 in einem Interview. "Die Feuerwehr hatte kurz zuvor die Anordnung ausgegeben, dass diese Archive vernichtet werden müssten - wegen Feuergefahr. In den Krankenhäusern schmissen sie uns das Zeug deshalb förmlich nach. 'Hier, Kinder, nehmt', sagten sie."

Die Vormachtstellung Stanislaw Filons war damit endgültig zu Ende. Das Zeitalter des "Goldenen Hundes" war angebrochen - so tauften Ruslan Bogoslowskij und Boris Taigin das kleine Studio, in dem sie im Sommer 1947 die Arbeit aufnahmen. Und Arbeit gab es reichlich: Zu Hunderten kursierten Bogoslowskijs weiche Schallplatten bald auf dem Leningrader Schwarzmarkt. Ihr Markenzeichen war ihr Design: die unheimlichen Umrisse menschlicher Knochen, die sich im Gegenlicht auf ihnen abzeichneten.

Konkurrenzkampf im Untergrund

In der Qualität standen sie Filons Ware in nichts nach. Natürlich - auch Bogoslowskijs "Flexidisks" rauschten und knarzten, wenn man sie in das Abspielgerät einlegte. Das Röntgenmaterial verbog sich leicht, und wenn die harte Schallplatte, die beim Abspielen als Unterlage diente, auch viele Unregelmäßigkeiten ausglich, schlugen die dünnen Folien doch oft wilde Kapriolen. Der Ton jedoch überzeugte, und Ruslan Bogoslowskij triumphierte. "Er ließ es sich nicht nehmen, Filon in seinem Studio zu besuchen, ihm unsere Platten vorzulegen und zu demonstrieren, dass das Monopol gebrochen war", erinnerte sich Taigin lachend. Tatsächlich liefen bald nicht nur zahlreiche Käufer, sondern auch viele der Händler zu dem neuen Produkt über.

Stanislaw Filon mochte sich die Haare raufen, doch mit der Inbetriebnahme des "Goldenen Hundes" war eine Bewegung angestoßen, die bald größere Dimensionen annahm als der persönliche Geschäftskrieg zwischen ihm und Bogoslowskij. Eine Bewegung, die eine ganze Generation nachhaltig prägen sollte. "Rock auf den Knochen" oder "Skelett meiner Großmutter", wie die illegalen Raubkopien auf Röntgenbildern bald auch genannt wurden, waren Stichworte, die unter den Jugendlichen wie geheime Codes zirkulierten. Kleine, illegale Produktionsstätten - ähnlich denen Bogoslowskijs und Filons - entstanden auch in anderen Landesteilen.

Das Ende des Röntgenrocks

15 Jahre sollte ihre Blüte dauern - turbulente Jahre für Ruslan Bogoslowskij, der wegen des Verbreitens "kriminell-schädigender Inhalte" innerhalb dieses Zeitraums gleich dreimal verhaftet wurde. Das erste Mal 1951, noch einmal 1957 und das dritte Mal 1961. Das Urteil lautete immer gleich: drei Jahre. Doch jedes Mal kehrte Bogoslowskij zurück - nur, um mit neuen Ideen und einer verbesserten Technik die Arbeit wieder aufzunehmen.

Das Ende des Röntgenrock kam plötzlich - und aus unerwarteter Richtung. Denn es war nicht der Staat, der die Folienmusik in den sechziger Jahren zum Verstummen brachte, sondern ein kleines, dünnes Magnetband. Mit dem Siegeszug der Kassette waren nun viel mehr Menschen in der Lage, sich ihre Lieblingsmusik selbst zusammenzukopieren. Ganz ohne Bilder von Knochen.


Rauschen und Knistern: Hören Sie Musik von der Röntgenschallplatte

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