
Rücktritt von Willy Brandt: Denkmalsturz im Hinterzimmer
Rücktritt von Willy Brandt Denkmalsturz im Hinterzimmer
Damals war Politik ganz anders als heute. Damals, 1969, fieberte meine ganze Studentengeneration mit einem Parteipolitiker um dessen Wahlsieg. Wir wollten Reformen, mehr Mitsprache, mehr Moderne in einer bleiernen Zeit, in der nur die Wirtschaftsdaten Fortschritt anzeigten, die Gesellschaft aber so verkrustet blieb wie im und vor dem Krieg.
Bis hin zu Willy Brandts Kanzlerschaft hatte sich ja nur wenig verändert: Zwar war die Pille erfunden, aber für Hoteliers und Zimmervermieter stellte der Kuppeleiparagraph alles vermeintlich "Unsittliche" unter Strafe. Homosexualität galt als widernatürlich, und die katholische Kirche sprach alle vier Jahre vor einer Wahl von den Kanzeln herab ihre vermeintlich christliche Botschaft, nur gottgläubige Parteien - also die mit dem hohen "C" - seien für Christenmenschen wählbar.
Dann kam Willy Brandt, und mit ihm hielten Künstler und Literaten Einzug ins alte Bonner Kanzleramt im Palais Schaumburg, die dem Sozialdemokraten zu einer Regierungserklärung verhalfen, deren einzelne Aussagen die heute grau Gewordenen immer noch auswendig hersagen können: "Wir wollen mehr Demokratie wagen", versprach er den Studenten, die unter den Talaren der Professoren und Eminenzen noch den Muff von "tausend Jahren" spürten.
Verschwiemelte Attitüde
Auch banal klingende Sätze brannten sich ins Gedächtnis: "Die Schule der Nation ist die Schule" - das war an all die Rückwärtsgewandten oder kämpferischen Antikommunisten gerichtet, die in Militär oder Kadettenanstalt das pädagogische Prinzip auch der Neuzeit sahen.
Im Kanzleramt wurde eine neuartige Planungsabteilung eingerichtet, die alle bestehenden Gesetze und Verordnungen überprüfte, ob sie modernen Erfordernissen genügten oder eher altertümelnd daherkamen. Ein neues Eherecht entstand; das Strafrecht wurde überarbeitet. Es war die Hoch-Zeit der inneren Reformen in der gerade 20 Jahre alten Bundesrepublik
Vor allem aber versprach Brandt eine neue Ostpolitik, eine Änderung der unter den bisherigen Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger völlig verschwiemelten Attitüde zum östlichen Teil Deutschlands und zu den Nachbarstaaten dahinter, die unter Nazis und der Wehrmacht mehr gelitten hatten als das reichsdeutsche Mutterland. Mit dem Kniefall in Warschau bat ausgerechnet der Emigrant Brandt, der den Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang in norwegischer Uniform erlebt hatte, um Vergebung für das massenhafte Unrecht, das unter Hitler im deutschen Namen geschehen war.
"Die Sitzenbleiber von der Opposition"
Die DDR, die Brandts Amtsvorgänger Kiesinger noch zum vorübergehenden "Phänomen" erklärt hatte, wurde zwar nicht anerkannt, aber ihre Existenz wenigstens legitimiert - das war die Voraussetzung dafür, dass all die in Berlin und durch die Zonengrenze getrennten Familien einen Besuchskontakt wiederaufnehmen konnten, wenn auch nur von West nach Ost. Damit waren DDR-Flüchtlinge amnestiert - übrigens auch westliche Fluchthelfer (wie ich), die ihre Freundinnen (damals nannte man sie "Verlobte") an den Schlagbäumen vorbei in den Westen geschmuggelt hatten.
Nur für die Opposition im Bundestag war Brandt wahlweise "Herbert Frahm" - dies war sein Geburtsname als Kind einer ledigen Mutter -, "Vaterlandsverräter" oder "Ausverkäufer deutscher Interessen". Die Unionsfraktion im Parlament blieb demonstrativ sitzen, als der Bundestagspräsident die Meldung aus Oslo verlas, der deutsche Kanzler sei für seine Verständigungspolitik soeben (1971) mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden. Immerhin ein CSU-Mann, der frühere Innenminister Hermann Höcherl, fand den Mut, dem Parteigegner abends persönlich zu gratulieren. Dafür wurde er in seiner Partei bis zum Lebensende geschnitten. Damals war Politik eben noch ganz anders - erbittert, unmittelbar, unversöhnlich.
Die CDU/CSU-Opposition, stets auf dem Sprung zur Rückkehr an die Macht, verstärkte ihre Stimmenzahl durch einige Überläufer aus anderen Parteien, besonders der FDP; ihr Fraktionschef Rainer Barzel wagte, zehn Jahre vor Helmut Kohl, das erste konstruktive Misstrauensvotum der Parlamentsgeschichte - und verlor, weil ihm bei der Abstimmung wider Erwarten zwei Stimmen fehlten: Die eine gehörte dem umtriebigen Christdemokraten Julius Steiner, der nach eigenen Angaben von der DDR für eine Stimmabgabe zugunsten Brandts geschmiert worden war; die zweite Stimmkarte mag die von Leo Wagner gewesen sein, ein CSU-Funktionär, der seine Diäten in Kölner Nachtclubs verprasst hatte; bigott auch er.
"Der Herr badet gerne lau"
Kanzler Brandt jedenfalls gewann nach dieser Abstimmung die vorgezogene Bundestagswahl Ende 1972 so hoch, dass seine SPD erstmals zur stärksten Fraktion wurde. Aber es war ein bitterer Sieg. Der Wahlkampf und eine daraus folgende Erkrankung der Stimmbänder setzten Brandt für Monate außer Gefecht. Die Partei und auch die Regierungsarbeit entglitten ihm. Streiks im Öffentlichen Dienst, Fahrverbote während der Energiekrise, der unselige Radikalenbeschluss gegen die Beschäftigung angeblich extremistischer Beamter - etwa Lokomotivführer oder Postboten - schwächten die Führungskraft des Kanzlers. Seine Visionen zerstoben.
Das Kabinett zerstritt sich in endlosen Querelen zwischen rechts und links, zwischen Reformern und Pragmatikern. Auf manche Gesprächspartner wirkte Brandt wie "entrückt". Der SPIEGEL bildete ihn als bröckelndes Denkmal ab. Sein innerparteilicher Widersacher, der Ex-Kommunist Herbert Wehner schalt Brandt ausgerechnet während eines Besuchs in Moskau, "der Herr" bade "gern lau", ihm fehlten Energie und Gespür.
Im Februar 1974 empfahl sich vor dem SPD-Vorstand Brandts Finanzminister Helmut Schmidt als denkbarer Nachfolger. Er musste nicht lange warten: Schon seit Monaten ermittelten Sicherheitsbehörden auch in Brandts Privatsphäre, ob der Kanzlerreferent Günter Guillaume tatsächlich ein DDR-Spion sei. Der Verfassungsschutz war davon überzeugt, Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) jedoch nicht - bis sich Guillaume bei seiner Festnahme als "Offizier" aus der DDR selbst enttarnte.
Zermürbt und traurig
Am 6. Mai 1974 Jahren dann trafen sich Brandt und Wehner in einem Schulungsheim in Bad Münstereifel nahe Bonn. Jahrzehntelang wurde über den Inhalt der Unterredung spekuliert; dabei war der Wortlaut des Vier-Augengesprächs nicht wirklich wichtig: Brandt, so zermürbt wie traurig, gab auf und schrieb sein Entlassungsgesuch. Um den Brief entgegenzunehmen, musste Bundespräsident Gustav Heinemann seinen Besuch in der Hamburger SPIEGEL-Zentrale eiligst abbrechen und nach Bonn zurückreisen.
Auch der Rest ist Geschichte. Schmidt wurde Kanzler, für acht Jahre, und war nicht annähernd so geliebt wie sein Vorgänger. Brandt blieb noch 13 Jahre lang Parteichef. Und Schmidt hat diese Arbeitsteilung nach heutigem Eingeständnis "bitter bereut".
Politik war damals anders. Aber immerhin spannend.