
Abzug der Sowjetarmee: Go East
Abzug der Sowjetarmee aus Berlin Do swidanija, DDR
Noch einmal ein Blick auf die Oder, ein kurzes Winken, und schon flogen ein paar Münzen zum Zugfenster hinaus. Geld ins Wasser zu werfen, ist ein alter Brauch in Russland - man macht es an einem schönen Ort, zu dem man später irgendwann einmal zurückkehren möchte. Auf die jungen Männer, die sich gerade von Deutschland verabschiedeten, wartete ein neues Leben, Hunderte Kilometer südlich von Moskau. Sie waren die letzten sowjetischen Soldaten, die an diesem Sommertag im Jahr 1994 von Berlin-Karlshorst aus in ihre Heimat zurückkehrten - und ich begleitete sie mit meiner Kamera.
40 Jahre lang waren die Truppen im Land gewesen, und knapp vier Jahre lang hatte ich ihren schrittweisen Abzug aus Berlin und Brandenburg auf zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert. Insgesamt mehr als 500.000 Soldaten und Offiziere traten mit ihren Familien die Heimreise an, nachdem sie militärtechnische Anlagen abgebaut und zusammen mit Panzern, Waffen und Munition für den Rücktransport nach Russland verladen hatten. Wo einst im Stechschritt exerziert und giftige Munition verschossen worden war, blieben nach dem Abzug öde Landschaften zurück. Auf riesigen, menschenleeren Arealen stand man plötzlich vor heruntergelassenen Schlagbäumen, die keine Funktion mehr erfüllten.
Von dem Berliner Fotografen Arno Fischer, dessen Assistent ich gewesen war, hatte ich von dem Projekt erfahren. Wir waren vier Fotografen und teilten die Arbeit unter uns auf, jeder von uns hatte eine andere Bildsprache. Mich interessierte vor allem das Dokumentarische, Essayistische. Ich wollte das Geschehen unvoreingenommen beobachten und nicht bewerten.
In meiner Kindheit und Jugend in Ost-Berlin konnte ich Soldaten der sowjetischen Armee nur selten aus der Nähe erleben. Streng abgeschottet hielten sie sich in eingezäunten Militäreinrichtungen auf. Ab der fünften Klasse lernten wir Kinder in der DDR ohne große Begeisterung Russisch, und gelegentlich kam ein Offizier, der uns etwas über die Armee erzählen sollte. Uns interessierte das alles nicht besonders, weil es von oben verordnet war.
Per Anhalter auf sowjetischen Militärlastern
In der Nähe von Erkner, wo meine Eltern ein Grundstück hatten, fuhren wir als Teenager ab und zu per Anhalter auf Militärlastern mit, weil wir die vier Kilometer zur S-Bahn nicht laufen wollten. Gegen ein paar Zigaretten ließen uns die Russen ohne große Diskussionen auf die Ladefläche steigen. Sie waren immer nett zu uns.
Im Ferienlager Jamlitz bei Cottbus beobachtete ich, wie sie ihre Panzer zum Waschen halb ins Wasser fuhren. Wenn sie ihre Schuhe auszogen, lachten wir uns halbtot, denn statt Socken trugen sie Fußlappen. Sie hatten noch die alten Uniformen der Sowjetarmee an, mit dem aufgenähten kyrillischen Kürzel "CA" am Ärmel.

Abzug der Sowjetarmee: Go East
Später, als ich mit Rockbands als Tontechniker unterwegs war, sah ich manchmal Soldaten, die in Kneipen schlechten Sprit gegen Schnaps eintauschen wollten. Den wollte aber niemand haben, weil er jeden Automotor zum Stottern gebracht hätte. In all den Jahren dachten wir häufig, dass diese Soldaten doch eigentlich arme Kerle seien.
Der Trick mit den Polaroids
Als wir in den Neunzigerjahren dann den Truppenabzug fotografieren wollten, kamen wir zunächst gar nicht an die Männer heran. Zutritt erhielten wir nur zu den Kasernen, die schon geräumt waren. Uns interessierten aber auch die Menschen. In Berlin-Karlshorst haben wir es schließlich geschafft, auf das Militärgelände zu kommen, wo erst misstrauische Blicke auf uns geworfen wurden. Um das Eis zu brechen, wandten wir einen Trick an: Wir fotografierten Soldaten mit einer Polaroidkamera und schenkten ihnen die Aufnahmen. Bald hatten wir einen guten Draht zu ihnen.
Mit bis zu 70 Mann schliefen sie in großen Sälen, und einmal durften wir in einen solchen Saal hinein, nachdem alle aufgestanden waren. Wir schossen auch Bilder in einem Waschraum eines Ehrenbataillons, das bei Treffen von Bundeskanzler Kohl und dem russischen Präsidenten Jelzin im Stechschritt marschierte. Ich fotografierte einen Soldaten, der einem Kameraden gerade sorgfältig den Nacken ausrasierte. Ein Blumentopf auf einem Sims über den Waschbecken ließ uns vermuten, dass wir nicht die einzigen Besucher von außerhalb waren.
Andere Aufnahmen entstanden beim Frühsport, als Dutzende Männer unter Aufsicht Liegestütze machten, bei der strengen Kontrolle der Stiefel, die morgens blankgeputzt sein mussten, und im Speisesaal, den merkwürdigerweise überdimensionale kitschige Südseetapeten zierten. In der Zeit hatte ich auch mit General Burlakow zu tun, der als letzter Oberkommandierender der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland den Truppenabzug koordinierte. Er galt als korrupt und wurde auch "Mercedes-Burlakow" genannt, wegen seiner Vorliebe für teure Autos.
Buchweizengrütze und Wodka
In Brandenburg kamen wir unter anderem auf das Gelände des "Bombodroms" bei Wittstock, auf den Flugplatz Altes Lager nahe Jüterbog, in die Garnisonsstadt Wünsdorf und auf den Flughafen Eberswalde-Finow. Von der militärischen Ausrüstung nahmen die Sowjet-Truppen fast alles mit, was verladen werden konnte. Sie demontierten sogar ganze Flugzeugrollbahnen und hievten die Betonplatten mit Kränen in Güterzüge.
Eine auseinandergenommene Mig-23 wurde allerdings an einen Deutschen verkauft. Vielleicht hat er das Flugzeug jetzt in seinem Garten stehen. Oft luden uns die Soldaten zum Mittagessen ein. Es gab meist Kascha, ihre traditionelle Buchweizengrütze, nicht immer mit dem besten Fleisch. Da stocherten wir manchmal ziemlich mit der Gabel drin herum und spülten alles mit reichlich Tee aus dem Samowar hinunter.
Immer wenn ein Transport in Richtung Osten abgefertigt wurde, spielte eine Militärkapelle auf, die dann einsam auf dem Bahnsteig zurückblieb. In dem Zug, der im August 1994 die letzten Soldaten aus Karlshorst nach Kursk, etwa 500 Kilometer südlich von Moskau, brachte, fuhr ich im Auftrag des SPIEGEL mit. Während dieser Reise floss reichlich Wodka. Es ging ziemlich langsam voran, bis nach Moskau brauchten wir zwei Tage. Dort gab es noch eine kleine Truppenparade, dann ging es weiter in Richtung Kursk, wo eine türkische Baufirma von Deutschland finanzierte Wohnhäuser für die Soldaten errichtet hatte.
Nach meiner Rückkehr nach Berlin fuhr ich noch einmal nach Wünsdorf, wo ein letztes Aufräumkommando im Einsatz war. Große Lust zum Arbeiten hatte da offensichtlich niemand mehr. Manches hatten die Russen einfach stehen- und liegengelassen - ausrangierte Tische, alte Uniformen und sogar Gitarren. Katzen und andere Haustiere hatten sie aus Hygienegründen nicht mit nach Hause nehmen dürfen.
Die meisten dieser verwaisten ehemaligen Truppengelände sind bis heute durch Munition und Treibstoff stark kontaminiert. Eine alternative Nutzung gestaltet sich daher noch immer problematisch. Für Fotografen aber bieten sie mitunter einzigartige Anblicke.