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Schlechtestes Orchester der Welt: Klassik mit Deppenbonus

Katastrophen-Klassik mit "Portsmouth Sinfonia" Das schlechteste Orchester der Welt

Das englische Orchester "Portsmouth Sinfonia" verordnete sich eine schräge Regel: Jeder spielt ein Instrument, das er nicht beherrscht. Mit Hilfe von Brian Eno mischte die Gruppe in den Siebzigern die Klassikszene auf.

Andächtige Stille erfüllte die Royal Albert Hall, als Dirigent John Farley den Taktstock hob. Das Publikum rückte in den roten Polstern zurecht, nervöses Hüsteln. Dann schnellte Farleys Arm empor, und aus 350 Kehlen ertönte Händels Oratorium "Messiah":

"Haaa-llelujah! Haaa-llelujah! Hallelujah, Hallelujah! Ha-lleeheeluujaaa!"

Jubilierende Engelschöre? Nichts davon: Violinen quietschten, die Paukistin klöppelte hilflos hinterher, die Trompeter tröteten wie ein Spielmannszug, der Chor johlte wie Fans im Fußballstadion. Offenbar hatten sie keinen Schimmer, was sie da taten. Selbst der Dirigent ruderte nur mit den Armen.

Das war kein Konzert. Das war ein Massaker.

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Schlechtestes Orchester der Welt: Klassik mit Deppenbonus

Trotzdem erklangen nach dem Schlussakkord keine Buhrufe - sondern Applaus. Die knapp 10.000 Besucher in der ausverkauften Konzerthalle am 28. Mai 1974 waren begeistert. Sie hatten bekommen, was man ihnen versprochen hatte: das selbsternannte "schlechteste Orchester der Welt". Portsmouth Sinfonia.

Ein Jahrzehnt lang mischte die Gruppe aus dem Süden Englands die Klassikszene auf, mit Auftritten und Alben, die gleichermaßen furchtbar klangen. Denn obwohl herausragende Musiker wie Roxy-Music-Keyboarder Brian Eno oder Filmkomponist Michael Nyman ("Das Piano") dabei waren, hielt sich das Ensemble an eine Regel: Jeder spielte ein Instrument, das er nicht beherrschte.

Der sieht doch aus wie ein Dirigent

Es begann bei einem Talentwettbewerb. Das Kunst-College von Portsmouth rief im Mai 1970 zum Band-Contest, dafür wollte Dozent Gavin Bryars ein Ensemble gründen. Der Jazz-Kontrabassist und Komponist hatte in New York mit Avantgarde-Ikone John Cage zusammengearbeitet. Für sein Projekt meldeten sich Kunststudenten mit großem Interesse am Experimentieren - und null Ahnung vom Musizieren.

Bryars beschloss: Sie würden die elitäre Klassik aus den Händen der "Smoking-Nazis" zurückerobern und umgestalten zu einer Musik für einfache Leute. "Die meisten", erinnerte er sich 2012 im BBC-Interview, "mussten sich erst einmal ein Instrument besorgen." So wie Bryars selbst - Kontrabass konnte er ja spielen, musste sich also für etwas anderes entscheiden. So kam er zum Euphonium, einem Horn: "Weil ich eines in einem Fahrradladen fand."

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Zur ersten Probe kamen 20 Leute, schrottreife Instrumente im Arm. Bryars drängte: "Wir müssen Musik spielen, die die Leute wiedererkennen." Also stolperten sie wie eine Horde Betrunkener durch die Ouvertüre aus "Wilhelm Tell", ständig bekam jemand Takte durcheinander. Man konnte froh sein, wenn alle halbwegs gleichzeitig zum Schluss kamen.

Zum Dirigenten wählten sie John Farley - "weil er am meisten wie ein Dirigent aussah", so Bryars. "Mit seinen langen Haaren gab er ein tolles Bild ab." Farley sei eher "ein Pantomime" gewesen, als Musiker "völlig inkompetent". Einmal zählte er Strauss' Donauwalzer, bekanntlich im Dreivierteltakt, ein mit: "Eins, zwei, drei, vier..."

Planloses Orchester, ahnungsloser Dirigent: Zum College-Bandwettbewerb traten sie trotzdem an. Und das Publikum lachte Tränen.

Beethovens Fünfte notgeschlachtet

Dabei verfolgten sie durchaus ernste künstlerische Absichten. Es ging um "eine Prä-Punk-Philosophie", lange vor dem ersten Konzert der Sex Pistols, so Orchestermitglied James Lampard 2004 im "Sunday Telegraph". Die Devise: "Wenn du ein Orchester gründen willst, mach es einfach." Sie interpretierten Klassik ganz neu, indem unerfahrene Musiker den Zufallsfaktor hineinbrachten. Diese Art des falschen, unbekümmerten Musizierens hätten sie alle erst lernen müssen, so Lampard.

Gerade die Komik öffnete ihrer Musik neue Türen und Auftrittsmöglichkeiten, etwa im Purcell Room, einem renommierten Londoner Kammermusiksaal. Als Zuhörer erlebte dort Komponist Michael Nyman, bekannt vor allem durch seine Musik für Filme von Peter Greenaway, wie der Dilettantenhaufen Beethovens Fünfte notschlachtete. Er war hingerissen: "Die Kombination der individuellen Fehler aller Beteiligten schuf eine unvergleichliche musikalische Struktur."

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In der Pause fragte er die Musiker: "Kann ich mitspielen?" Prompt begleitete Nyman die zweite Konzerthälfte auf dem Cello - dabei habe er "nie zuvor eines angefasst - und auch nie danach". Er blieb beim Orchester, stieg aber auf Bryars' kaputtes Euphonium um, das keine Noten mehr hervorbrachte. Kein Problem: "Ich sang einfach rein."

Bald zählte das Ensemble 82 Musiker, darunter Größen wie Keyboarder Brian Eno, der sich schon zuvor bei Roxy Music als "Nicht-Musiker" bezeichnet hatte. Er folgte dem Grundsatz "Zufallsfund statt Vorausdenken". Sie machten ihn zum Klarinettisten.

Selbst der Profi-Trompeter vergeigte es

Öfter verirrten sich auch Leute ins Ensemble, die ihr Instrument spielen konnten. Was sich aber durch die Inkompetenz der anderen regulierte. "Wir hatten diesen Profi-Trompeter namens Ted", so Bryars, "wir dachten, er würde uns an die Wand spielen." Aber Dirigent John Farley brachte selbst ihn an seine Grenzen: "Ted wartete auf eine Einleitung, sah mich an, wir sahen beide John an, der schaute gerade irgendwo anders hin, zeigte auf die falsche Person, und Ted vergeigte es wie alle anderen auch."

Brian Eno produzierte das erste Album "Portsmouth Sinfonia Plays the Popular Classics" (1974). Martin Lewis von der Plattenfirma Transatlantic Records verstand zunächst nicht, "warum wir ein Orchester gesignt hatten. Aber nachdem ich sie angehört hatte, hatte ich Tränen im Gesicht". Er habe sich geradezu "verliebt", denn "sie waren ungehemmt von all den spießigen Regeln, die ich an Klassik hasste".

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Der "Rolling Stone" zeichnete das Debütalbum 1974 aus - als Comedy-Platte des Jahres. 1981 schaffte es die Single "Classical Muddly" sogar in die Charts. Die "Sunday Times" feierte das Ensemble als "real godfathers of punk".

Zum Debütalbum gab es auch juristischen Ärger, wie Lewis 2004 "Portsmouth News" erzählte: Die Rechteinhaber von "Also sprach Zarathustra" verlangten eine Unterlassung, weil das Richard-Strauss-Stück neu arrangiert worden sei. "Wir entgegneten: 'Nein, haben wir nicht. Wir konnten es nur nicht besonders gut spielen'." Der Fall sei nie vor Gericht gegangen.

"Die Irren hatten das Irrenhaus übernommen"

Der gefeierte Auftritt 1974 in der Royal Albert Hall kam aus Trotz zustande: Manager Lewis dachte an einen Auftritt bei den BBC-Promenadenkonzerten, die Klassik massenzugänglich machen sollten. Ein Kernanliegen der Sinfonia, doch es kam nur eine Standardabsage. Als dann die Aufmerksamkeit der Medien geweckt war, ging Lewis einfach das Risiko ein und buchte die Albert Hall.

In der Vorbereitung suchten sie für die Aufführung von Tschaikowskis 1. Klavierkonzert op. 23 in b-Moll per Annonce eine erfahrene Pianistin, um den Rest der Truppe halbwegs sicher durchs Stück zu bringen. Es meldete sich Sally Binding, ahnungslos, mit wem sie es zu tun hatte. Tapfer nahm sie den Auftrag an.

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Auch für Händels "Messiah" scheute man keinen Aufwand: "Wir hatten einen Chor von 350 Leuten - die nicht singen konnten", so Lewis. "Die Irren hatten das Irrenhaus übernommen." Vor dem ganz großen Auftritt im berühmten Konzerthaus wurde manchen dann doch mulmig. "Wir gingen auf die Bühne und dachten: 'Was zur Hölle machen wir hier?'", erzählte James Lampard.

Das Programm enthielt beliebte Klassiker. Wobei: Der "Tanz der Zuckerfee" aus Tschaikowskis "Nussknacker" zum Beispiel erinnerte eher an die Duschmordmusik in "Psycho". Atemberaubend dafür die Inbrunst, mit der Pianistin Binding Tschaikowskis Klavierkonzert darbot, während das Pizzicato der Violinen zirpte wie ein Schwarm verstimmter Banjos. Oft waren die Lacher des Publikums lauter als das Orchester.

Und dann wurden sie zu gut

Die Leute liebten sie - nur ein Gruppe US-Touristen verließ den Saal nach fünf Minuten verwirrt. Das Konzert wurde ein Triumph, der größte dieses Dilettanten-Orchesters.

Portsmouth Sinfonia blieb bis Ende der Siebzigerjahre aktiv, hatte internationale Radio- und TV-Auftritte, veröffentlichte auch weitere Platten. Aber der Witz ging allmählich verloren. Es geschah das Unvermeidliche: Sie wurden einfach zu gut. Seit dem letzten Konzert 1980 sind die Musiker, wie Lewis sagt, in einer "kreativen Schaffenspause".

Der Kult bleibt indes ungebrochen. Die raren Aufnahmen werden hoch gehandelt, Lewis bemüht sich seit Jahren um eine Neuauflage als CD. Angedacht war auch eine Castingshow, bei der nur die Schlechtesten durchkommen.

Manche hingegen werden froh sein, dass das "schlechteste Orchester der Welt" verstummt ist. So beschwerte sich das angesehene südenglische Bournemouth Symphony Orchestra 1994 bei der BBC, als eine Doku über Portsmouth Sinfonia laufen sollte: Die Namen der Ensembles seien zu ähnlich, leicht könne man sie mit den Stümpern verwechseln. Der Sender setzte den Film ab.

Unverständlich, findet Manager Lewis: "Die sollten sich glücklich schätzen. Egal, wie sehr sie es versuchen - sie haben es nie ganz geschafft, unseren Sound nachzuahmen."

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