
Schulzeit in der DDR Das ostdeutsche Aschenputtel

Ich habe bis heute nicht vergessen, was ich an der DDR zutiefst verabscheute und warum ich froh bin, nicht mehr in diesem Land zu leben. Noch heute fürchten sich Leute meines Alters mit ostdeutschem Migrationshintergrund vor - oft unausgesprochenen - Drohungen wie: "Wenn du dies nicht machst, wirst du jenes nicht erreichen." Oder: "Falls du hierbei erwischt wirst, kannst du dir dies ein Leben lang abschminken." "Wenn du hier nicht eintrittst oder unterschreibst, ist die Karriere leider beendet." Das Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat hat bei vielen bleibende Spuren hinterlassen.
Doch komischerweise waren in den Firmen, in denen ich nach der Wende gearbeitet habe, fast immer die Leute aus Westdeutschland die größten Anpasser, Intriganten und Petzen beim Chef. Und das, wo doch gerade diese Leute immer geargwöhnt hatten, dass sich im Osten so gut wie alle gegenseitig ausgehorcht hätten. Jeder anständige Ostdeutsche lässt seinen Arbeitgeber heute sofort angewidert abblitzen, wenn er für die Firma spitzeln oder Kollegen verpfeifen soll. Die meisten Ossis haben etwas aus ihrer Geschichte gelernt und lassen sich nicht mehr erpressen oder unter Druck setzen.
Wenn man nicht gerade straffällig wird, ist es heute allerdings kaum mehr möglich, dass man sich seine gesamte Karriere und seinen weiteren Lebensweg ernsthaft und irreparabel versaut. Den Job könnte man womöglich wechseln. Fragen zum politischen Background, zur Religion und zu persönlichen Ansichten sind in Einstellungsgesprächen sogar verboten. Wir müssen in keine Organisationen eintreten, um einen Studienplatz zu bekommen oder um Abteilungsleiter zu werden. Selbst wenn man bei einer Prüfung dreimal durchfällt, bekommt man in diesem Land irgendwann eine neue Chance. In der DDR hingegen hatte man oft nur eine.
Chancenlos mit Zweierschnitt
In der DDR gab es pro Klasse und Schule nur wenige nach einer gewissen Quote zu verteilende Abiturplätze. In meiner Klasse waren es genau drei. Zwei waren schon so gut wie vergeben. Sabine hatte - natürlich außer in Sport - überall Einsen, war also nicht zu schlagen, und Lars hatte sich für 25 Jahre bei der Nationalen Volksarmee als Offizier verpflichtet. Mit dem Halbjahreszeugnis der neunten Klasse musste ich somit alle anderen 23 Schüler aus meiner Klasse hinter mir lassen, um überhaupt eine Chance zu haben, nicht in einem volkseigenem Betrieb zu versauern. Ich hatte mir in diesem Jahr bereits einen Tadel eingehandelt, versuchte nun aber, wenigstens mit schulischen Leistungen zu glänzen. Und tatsächlich, vor dem entscheidenden Zeugnis in der neunten Klasse hatte ich fast überall Einsen - auch in Sport. Notendurchschnitt: 1,3!
Als Frau Seifert auf der Lehrerkonferenz kundtat, dass ich für die elfte Klasse der Friedrich-Engels-EOS (Erweiterte Oberschule) vorgesehen war, konnte ich mein Glück nicht fassen, auch wenn sie noch im gleichen Atemzug drohte: "Noch ein winzig kleiner Ausrutscher, und der Abiturplatz ist trotzdem weg." Meine Freunde Torte, Bommel und Tessi, ausgewiesene Spezialisten in Sport, Mathe oder Zeichnen, aber eben nur mit einem Zweier-Zensurenschnitt, hatten gegen mich keine Chance gehabt. Für sie hieß es: ab in die sozialistische Produktion!
Ich war ein schlaues Kind. Erst im Zeugnis der dritten Klasse hatte ich meine allererste Zwei, und Mutter erzählt noch heute, dass ich deswegen zwei Tage lang geheult hätte. Das mit dem Ehrgeiz ließ ein bisschen nach, und als das Fach "Schönschrift" durch "Werken" und "Schulgarten" abgelöst wurde, wurde sowieso nichts mehr aus dem perfekten Zeugnis, durchgängig mit der Note Eins. Ich war eindeutig zu blöd dazu, Schraubstock, Feile oder Harke liebevoll zu bedienen. Ab der siebten Klasse gab es dann plötzlich die Fächer ESP - Einführung in die Sozialistische Produktion, TZ - Technisches Zeichnen - und PA - Produktive Arbeit.
Den theoretischen ESP-Teil konnte ich natürlich ganz gut bewältigen, obwohl mir bis heute nicht klar ist, wie Lochstreifen und die Planwirtschaft funktionieren, weder einzeln noch zusammen. Technisches Zeichnen ging auch irgendwie, aber das Problemkind war PA - ich hatte einfach zwei linke Hände.
Betrunken in den Unterricht
PA fand damals, vier Stunden an jedem Mittwoch, im volkseigenen Betrieb in Berlin-Rummelsburg gegenüber vom Knast statt. Dort sollten wir Wäscheständer herstellen, die ich im fertigen Zustand noch nie zuvor in der DDR gesehen hatte. Damit ich wenigstens eine Zwei bekam, schlug ich meinem Meister vor, dass ich die vier Stunden jeden Mittwoch gerne auch damit zubrächte, alle Schrauben und Muttern zu sortieren. Die handlichen Exportschlager wurden somit unbeschadet von meinen zwei linken Händen alle ordnungsgemäß montiert. Und ich, das ostdeutsche Aschenputtel, hatte mit meinem Schraubensortieren auch einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt geleistet.
In der zehnten Klasse wurde unsere produktive Arbeitsstätte in die Nähe des Ostbahnhofs verlagert. Damit ging ein Wechsel unserer Stammkneipe in das Hochhausrestaurant "Gutenbergstube" einher, das ebenfalls am Ostbahnhof lag. Unser Motto hieß: "Erst das Vergnügen, dann die Arbeit!" Wir trafen uns also am Mittwochmittag an unserer so genannten "Tränke", und fast alle Jungs versuchten, ihren Rekord im Saufen eines halben Liters Berliner Pils zu toppen. Unser Weltrekord lag bei unglaublichen handgestoppten 3,5 Sekunden - nach drei, vier Versuchen gingen wir arbeiten.
Preisabfragezeitpunkt
28.02.2021 18.03 Uhr
Keine Gewähr
Man hatte mich an eine Maschine eingeteilt, an der ich per Dampfdruck ohne Pause die ganzen vier Stunden lang kleine Metallringe ausstanzen sollte. Das konnte selbst ich tollpatschiger Vollidiot ganz gut bewältigen - sollte man jedenfalls meinen. Leider hatte ich in meinem betrunkenen Zustand vergessen, die Unterlegscheibe auf die Arbeitsfläche zu legen. Ich stanzte also grinsend im Akkord und lauschte der Musik aus dem Kofferradio. Doch plötzlich gab es einen gewaltigen, Funken schlagenden Knall, ich duckte mich, und direkt vor meinen Augen flog irgendetwas durch die Montagehalle. Wenig später kam die große Maschine mit der stolzen Aufschrift "Made in GDR" zum Stillstand.
In meiner Abteilung hatte ich für diesen Nachmittag die komplette Produktion lahmgelegt. Bei dem herumfliegenden Objekt hatte es sich um den Bohrkopf gehandelt - und ein Teil davon hatte sich in den jetzt stark blutenden Oberarm eines fluchenden VEB-Mitarbeiters gebohrt. Das gesamte Kollektiv stand besorgt um ihn herum und starrte mich grimmig an. Ich entschuldigte mich kleinlaut. Auch beim Vorgesetzten Herrn Meier, der mich minutenlang anschrie, ob ich eine Ahnung davon hätte, wie viel diese Maschine gekostet hätte, und ob mutwillige Zerstörung von Volkseigentum heutzutage an unseren Schulen gelehrt würde. Zu allem Überfluss hatte die dicke Kollegin in der blauen Schürze, die mich eingearbeitet hatte, gepetzt, dass ich irgendwie nach Alkohol roch.
"Mutwillige Zerstörung von Volkseigentum"
Mir wurde schwindelig: "Unter Alkoholeinfluss eine 30.000 Mark teure volkseigene Maschine mutwillig zerstört und dabei Mitarbeiter Hufschmidt lebensgefährlich verletzt", las ich bereits in Gedanken in Herrn Meiers Bericht. Meine Abiturzulassung könnte ich mir damit komplett abschminken. Als Meier mich nach meinem Namen fragte, stellte ich mir bereits ein Leben als Werkzeugmacher, Dreher oder Melker vor. "Ihren Namen möchte ich wissen!", schrie er ein zweites Mal. Vollkommen spontan antwortete ich: "Uwe Bommler!" - der richtige Name meines Freundes Bommel. Meier war an diesem Tag zum allerersten Mal Oberaufseher, er kannte meinen Namen nicht und schrieb den von mir genannten in seinen Bericht an meine Schule.
Ich wurde rausgeschmissen und wartete über zwei Stunden vor dem Werkstor auf meine Freunde Tessi, Torte und Bommel. Mit zittriger Stimme erzählte ich ihnen, was geschehen war, und schaute vor allem ängstlich ins Gesicht des kleinen Bommel, dessen Namen ich mir kurzerhand ausgeliehen hatte. Mein Leben stand immerhin auf dem Spiel - und ich hatte doch nur eins. Aber schon auf dem Nachhauswege klopfte er mir ermunternd auf die Schulter: "Mensch, mach dir mal keene Sorgen, Schubi, ick hab meine Stelle doch sicher. Dort will ja eh keener hin." Eine halbe Stunde später saßen wir im Alfclub. Bommel prostete mir mit einem Bier zu. Ich lehnte mich zurück und dachte, was für phantastische Freunde ich doch im Leben gefunden hatte.
Uwe Bommler alias Bommel wurde am nächsten Tag zur Direktorin gerufen. Ohne groß zu diskutieren, verurteilte Frau Seifert seine Tat und gab ihm den ihm zustehenden Tadel. Was er sich denn dabei gedacht hätte, wo er doch Werkzeugmacher werden wollte? Er entschuldigte sich brav und erwähnte mich mit keinem Wort. Er wusste, dass er mir damit den Abiturplatz gerettet hatte, und ich ahnte zum ersten Mal, dass wir ein Land mit Menschen voller Edelmut waren. Es gab scheinbar mehr Leute, die sich schützend vor einen stellten als jene, die einen verpfiffen. Und das, obwohl alle nur dieses eine Leben hatten.
Das Opfer eines Freundes
Für mich begann nun ein privilegierter Lebensabschnitt: meine Zeit in der Erweiterten Oberschule bis zur zwölften Klasse. Am 4. September 1988 stand ich vor meiner allerersten Unterrichtsstunde in der Friedrich-Engels-EOS beim Fahnenappell. Ich schaute mich um und studierte die vielen neuen Gesichter. Ich musste an Frau Seiferts Drohungen denken und hätte ihr gerne zugeflüstert: "Hey, ich habe es doch geschafft!"
Der Direktor rief zu einer Schweigeminute für einen in den Ferien verstorbenen Mathelehrer auf, und den älteren Jungs aus der zwölften Klasse ging das komischerweise sehr nahe. In meiner alten Schule hatte ich bis auf die junge Frau Wagenbach überhaupt keinen Lehrer gemocht - und hier liebten sie ausgerechnet den für Mathe. War ich wirklich in einer anderen Welt gelandet?
Ich war gespannt, was hier noch alles auf mich zukommen würde, und nahm mir vor, Bommel noch mal einen auszugeben. Dem echten Uwe Bommler, der vor einer Woche im Berliner Glühlampenwerk, VEB NARVA "Rosa Luxemburg" angefangen hatte. Als Werkzeugmacher.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Verständnisprobleme: Mit steigendem Alter nahm das Interesse Schuberts an manchen Schulfächern ab - vom Fach "ESP - Einführung in die Sozialistische Produktion" sagt Schubert: "Bis heute ist mir nicht klar, wie Lochstreifen und Planwirtschaft funktionieren." Das Bild zeigt Berliner Schüler beim Unterricht in "Sozialistischer Produktion" im März 1987.
Im Schraubstock des Systems: Für Marko Schuberts Schulklasse standen nur drei Abiturplätze zur Verfügung. Ein Einserschnitt war Voraussetzung. Doch die Fächer "ESP - Einführung in die Sozialistische Produktion" und "PA - Produktive Arbeit" gefährdeten seine Noten - er hatte einfach zwei linke Hände an der Werkbank. (Foto: DDR-Schraubstock, fotografiert im DDR-Museum in Berlin Mitte.)
"Erst das Vergnügen, dann die Arbeit!" ... so pflegten Marko Schubert und seine Klassenkameraden in der zehnten Klasse zu sagen. Vor Beginn ihres Unterrichts in "Produktiver Arbeit" kehrten die Schüler in einem Lokal ein - und begannen den Schultag bisweilen mit Bier. Bei ihren Einsätzen in der "volkseigenen Produktion" bekamen Schüler schnell mit, dass am Arbeitsplatz häufig Alkohol getrunken wurde. Anläße gab es genug: Geburtstage, Hochzeiten, Scheidungen, Geburten, Todesfälle, Fußballergebnisse, Urlaubslagen etc.
Foto: Eine Flasche "Goldkrone", ein Weinbrandverschnitt, aufgenommen im DDR-Museum in Berlin Mitte.
Die Nummer Eins: Zu Beginn seiner Schullaufbahn schien es noch nicht den geringsten Anlass zum Zweifel zu geben, dass Schubert problemlos zum Abitur zugelassen werden würde. Sein Zeugnis der dritten Klasse zeigte ausschließlich Einsen.
Ende des reinen Einserschnitts: In den höheren Jahrgängen schlichen sich, wie man diesem Zeugnis aus der siebten Klasse entnehmen kann, in Schuberts einst reines Einser-Zeugnis auch schlechtere Zensuren ein. Schuberts Mutter erinnerte sich, nach seiner allerersten Zwei habe der kleine Marko zwei Tage lang vor Verzweiflung geweint.
Schüler in der Berufspraxis: Die Verzahnung des Unterrichts mit der Arbeit der Betriebe spielte eine große Rolle im Unterricht der DDR-Schulen. Hier überholen Schüler im Braunkohlenkombinat Lauchhammer die Stromabnehmer von Grubenlokomotiven, aufgenommen circa 1980. Marko Schubert war kein großer Freund dieser praktischen Ausbildungsanteile.
Arbeiter-und-Bauern-Stullen: Stullendosen wie diese - das Gegenstück zur Tupperware im Westen - wurden zur Mittagspause von den Schülern in den Betrieben ausgepackt. Schubert und seine Freunde zeigten sich allerdings wesentlich interessierter an flüssiger Nahrung. Aufnahme aus dem DDR-Museum in Berlin Mitte.
Lausbubenbande: Marko Schubert (zweiter von links) in seinem Freundeskreis 1986 während seiner Jugendweihe. Einer von ihnen sollte für Schubert zum Retter in der Not werden, als er scheinbar ausweglos seine Oberstufenberechtigung verspielt hatte.
Saat des Schreckens: Mit Schrecken erinnert sich Marko Schubert daran, wie das Fach "Schulgarten" eingeführt wurde. Er sei "eindeutig zu blöd" dazu gewesen, eine Harke zu bedienen. Das Bild zeigt Dritt- und Viertklässler aus Groß-Beuchow, die im Januar 1965 Blumenkohl säen.
Signatur im Bundesarchiv: Bild 183-D0125-0011-001
Praxisnähe: Im DDR-Bildungswesen wurde großer Wert darauf gelegt, Schüler früh mit dem gesellschaftlichen Leben außerhalb der Schule vertraut zu machen - wie bei dieser Schülergruppe der Wilhelm-Pieck-Oberschule, die im November 1969 ein Traktorenwerk besucht. Marko Schubert hätte auf seinen Kontakt mit der Arbeit in den Volkseigenen Betrieben als Schüler allerdings gerne verzichtet.
Signatur im Bundesarchiv: Bild 183-H1120-0006-001
Wachsender Druck: Zwei Neuntklässler der Polytechnischen Oberschule in Schwerin beim Unterricht im Fach Produktive Arbeit. Sie übernahmen die Demontage und Montage der Transportbänder für Rübenkopflader. Dabei standen die Schüler mit ihren Mitschülern im Wettbewerb, der monatlich ausgewertet wurde. Auch Marko Schubert bekam den wachsenden Konkurrenzdruck unter den Schülern zu spüren, je weiter er sich der Oberstufe näherte.
Signatur im Bundesarchiv: Bild 183-1989-0403-018
Der Ernst des Lebens ...holte Marko Schubert in der zehnten Klasse ein: Er musste mit allen Mitteln einen Notenschnitt erreichen, der ihm den Oberstufenzugang ermöglichte. Doch seine Tollpatschigkeit schien ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Das Bild zeigt Zehntklässler der Oberschule Prenzlauer Berg im Mai 1987.
Mit Pauken und Trompeten: Sein neues Leben an der Oberstufenschule begann für Schubert mit einem Fahnenappell. Das Verhalten seiner neuen Mitschüler erschien ihm zunächst so befremdlich, dass er sich fragte, ob er in einer anderen Welt gelandet sei. Das Bild zeigt Schüler aus Elsterwerda-Biehla beim Fahnenappell in den sechziger Jahren.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden