

Die Welle heimtückischer Gewalt begann im Sommer 1903, zunächst nur in New York, später in den ganzen USA. Bomben explodierten, Menschen wurden auf offener Straße mit dem Tod bedroht.
Im New Yorker Stadtteil Little Italy entdeckten die Ermittler Leichen, die in Schornsteine gepresst worden waren und in der Sommerhitze verwesten. Meist hatten die Opfer Drohbriefe mit horrenden Lösegeldforderungen erhalten, denen eines gemeinsam war: Am Ende war mit Tinte ein Symbol aufgemalt - eine schwarze Hand.
Dann traf es die ersten Kinder. Am frühen Abend des 2. August 1903 verschwand der acht Jahre alte Antonio Mannino spurlos, nachdem er Bonbons in einem Süßwarenladen in Brooklyn gekauft hatte. Bald darauf erhielt sein Vater, ein reicher Bauunternehmer, Lösegeldforderungen mit dem Zeichen der "Schwarzen Hand". Krank vor Sorge legte er sich für eine Woche ins Bett.
"Ganz New York ist von diesem Verbrechen erschüttert", titelte die "St. Louis Post-Dispatch". Zeitungen von Los Angeles bis Chicago berichteten über den Fall. Weitere Kinder verschwanden - an einem einzigen Augusttag wurden 35 entführt. Antonio tauchte eine Woche später wieder auf; seine Eltern schwiegen darüber, was genau geschehen war. Die Polizei war jedoch sicher, dass der Vater Lösegeld gezahlt hatte.
Inzwischen wurden geschätzte 90 Prozent aller italienischen Immigranten in New York erpresst. Die Furcht griff so sehr um sich, dass sogar ein Markt für Versicherungen gegen Angriffe der "Schwarzen Hand" entstand.
Die New Yorker blickten immer misstrauischer auf italienische Immigranten. Hatten 1850 erst rund 800 Italiener in der Stadt gelebt, waren es 1910 schon eine halbe Million. Viele Bürger forderten, die Einwanderung zu stoppen.
Die Wurzeln der "Schwarzen Hand" ließen sich bis ins Jahr 1750 nach Sizilien und in das damalige Königreich Neapel zurückverfolgen. Die Erpressungen in den USA betrieb ein weitverzweigter Clan sizilianischer Emigranten, der Vorläufer einer der fünf Familien der Cosa Nostra war.
Drohbriefe an Enrico Caruso
Der Druck auf das New York Police Department (NYPD) stieg. "Schafft mir sofort den Italiener her!", rief Polizeichef Theodore Bingham bei jedem neuen Fall. Gemeint war Joseph Petrosino - er war 1883 als einer der ersten Italiener zum NYPD gekommen und hatte schnell Karriere gemacht, ab 1895 als Leiter der Mordkommission.
Petrosino stammte aus dem süditalienischen Padula. 1874 war er als 14-Jähriger in die USA gekommen, mit 1,60 Meter eigentlich zu klein für den Polizeidienst und nur durch eine Sondergenehmigung aufgenommen worden. Er war auch sonst anders: Er galt als äußerst schweigsam, lachte nie, trug immer einen langen, dunklen Mantel und als Hut eine schwarze Melone.
Im Kampf gegen die "Schwarze Hand" griff Petrosino zu ungewöhnlichen Mitteln und wurde zu einem Pionier bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Er nutzte zahlreiche Verkleidungen, tarnte sich als Klempner, Gangster, orthodoxer Jude, blinder Bettler oder katholischer Priester. Und er hatte zunehmend Erfolg - in seiner Karriere schickte er Hunderte Ganoven auf den elektrischen Stuhl oder in das berüchtigte Gefängnis Sing Sing.
Hatte Petrosino einen besonders harten Fall zu lösen, hörte er zur Beruhigung Musik von Giuseppe Verdi, vor allem "La Traviata". Er war auch eng mit dem berühmten italienischen Tenor Enrico Caruso befreundet, der ebenfalls zum Opfer der "Schwarzen Hand" wurde: Als Caruso ein Gastspiel an der Metropolitan Opera gab, verlangten die Erpresser von ihm 2000 Dollar. Der Sänger bezahlte sofort.
Als das bekannt wurde, bekam Caruso unzählige weitere Drohbriefe. Auch die ersten Erpresser meldeten sich noch einmal - und verlangten diesmal 15.000 Dollar. Verzweifelt wandte sich Caruso an Petrosino, der bei einer fingierten Übergabe die Täter verhaften konnte.
Kommissar auf nicht ganz geheimer Mission
Petrosino blieb rastlos in seinem Kampf. Als Teil des NYPD gründete er die "italienische Truppe", eine zunächst fünfköpfige Spezialeinheit italienischstämmiger Polizisten. Sie hatte mächtige finanzielle Unterstützer, darunter die Milliardäre Andrew Carnegie und John D. Rockefeller, die italienische Handelskammer von New York wie auch die New Yorker Börse. In ihrem ersten Jahr verhaftete die Truppe Hunderte Täter der "Schwarzen Hand", die Zahl der Verbrechen in New York City sank kurzzeitig um 50 Prozent.
Schnell geriet Petrosino selbst ins Visier des organisierten Verbrechens. Die US-Gesetze sahen vor, dass Einwanderer bei Straftaten bis zu drei Jahre lang nach ihrer Einbürgerung zurück in ihre Heimat geschickt werden konnten. Petrosino überführte auch den sizilianischen Paten Vito Cascio Ferro, der 1901 illegal in die USA eingereist war, und verhaftete ihn wegen Geldfälschung und Erpressung. Noch bevor er auf das nächste Schiff nach Italien abgeschoben wurde, schwor Don Vito, sich zu rächen.
Um die Verbindungen zwischen sizilianischer Mafia und "Schwarzer Hand" aufzuklären, reiste Petrosino in streng geheimer Mission am 9. Februar 1909 nach Sizilien. Von seinem Einsatz wusste offiziell nur sein Vorgesetzter, Polizeipräsident Bingham. Doch ausgerechnet er brachte Petrosino in höchste Gefahr, indem er Journalisten des "New York Herald" vom Auftrag seines mutigsten Polizisten erzählte.
Als der Kommissar in Italien eintraf, wussten bereits Millionen US-Zeitungsleser davon. Und auch auf Sizilien wurde er längst erwartet.
In Palermo wollte Petrosino rasch einen Informanten treffen. Die Falle war bereits gestellt: Am Abend des 12. März 1909 hallten vor einem Restaurant auf der Piazza Marina vier Schüsse in die Finsternis, Petrosino war in den Rücken getroffen worden. Er selbst hatte offenbar nichts befürchtet und seinen Revolver im Hotel zurückgelassen.
Zahlreiche Menschen beobachteten den Mord, aber als sie von der Polizei befragt wurden, konnten sie sich an nichts erinnern. Tags darauf erhielt Petrosinos Einheit in New York einen anonymen Brief: Die "Schwarze Hand" bekannte sich zur Tat.
Die Leiche des Kommissars wurde auf einem Dampfschiff zurück nach New York gebracht. Als man den Sarg nach der Ankunft öffnete, brach seine Witwe entsetzt zusammen. Der Leichnam war überführt worden, ohne ihn vorher einzubalsamieren - es war die letzte und erniedrigende Rache der "Schwarzen Hand" an ihrem größten Widersacher.
Doch noch eine Spur
Der Tag der Beerdigung wurde zu einem öffentlichen Trauertag ausgerufen. 250.000 Menschen nahmen am Trauerzug teil - so viele wie nie zuvor beim Begräbnis eines New Yorker Polizisten. Die "New York Times" bezeichnete ihn als den "berühmtesten italienischen Detektiv weltweit", andere Blätter schrieben ehrfürchtig vom "italienischen Sherlock Holmes".
Über 100 Jahre blieb die Suche nach Petrosinos Mörder erfolglos, bis es doch eine Spur gab: 2014 führte die italienische Polizei die Operation "Apokalypse" aus, einen Antidrogen-Einsatz gegen die Mafia in Palermo. Einer der Beschuldigten war der Mafioso Domenico Palazzotto, der abgehört worden war und bei einem Treffen mit anderen Mafiosi auch über den Mord geredet hatte.
Palazzotto prahlte damit, dass Petrosino vom Onkel seines Vaters getötet worden sei. Im Auftrag von Vito Cascio Ferro - dem Paten, den Petrosino einst von New York nach Sizilien hatte abschieben lassen. Zweifel an dieser Version blieben jedoch bestehen; bis heute ist niemand für diesen Mord verurteilt worden.
Joseph Petrosino wurde zu einem der größten Helden des NYPD. An den Kampf des kleinen Polizisten gegen die "Schwarze Hand" erinnert in New York ein unscheinbarer Platz - der "Petrosino Square" im East Village - nicht weit entfernt von seinem wichtigsten Einsatzort in Little Italy.
einestages-Autor Arne Molfenter arbeitet an einer neuen Biografie über das Leben von Joseph Petrosino.
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Der "italienische Sherlock Holmes": Giuseppe Petrosino kam als Einwanderer in die USA und nannte sich dort Joseph. Eigentlich war er mit nur 1,60 Metern zu klein für den Polizeidienst, wurde durch eine Sondergenehmigung in das New York Police Department aufgenommen und dann schnell Leiter der Mordkommission. Seine Mission: Bekämpfung des organisierten Verbrechens in New York.
Die Mulberry Street in Little Italy war für viele Neuankömmlinge die erste und wichtigste Anlaufstelle. Viele konnten noch kein Wort Englisch und trafen dort sofort auf Landsleute. Anfang des 20. Jahrhunderts sorgte eine mysteriöse Organisation für Angst und Schrecken: In New York City wurden geschätzt fast 90 Prozent der italienischen Einwanderer von der "Schwarzen Hand" erpresst.
Die Viertel von New York City, in denen die Immigranten unterkamen, allen voran Little Italy, waren oft überfüllt und heruntergekommen, die hygienischen Verhältnisse prekär. Im Sommer 1903 begann eine Welle heimtückischer Gewalt: Bomben explodierten, Menschen wurden bedroht, Kinder entführt.
Joseph Petrosino versuchte, den Schrecken zu beenden, und patrouillierte oft mit Melone auf dem Kopf durch die Straßen der Stadt. Im Kampf gegen die "Schwarze Hand" nutzte er auch hin und wieder Verkleidungen und tarnte sich als Rabbiner, Klempner oder blinder Bettler.
Ein Erpresserbrief der "Schwarzen Hand" von 1909 an einen New Yorker Geschäftsmann. Charakteristisch waren die aufgemalten Dolche, Schädel und natürlich eine schwarze Hand.
Aufgespürt: 1903 gelang es Giuseppe 'Joe' Petrosino (links), einen der wichtigsten Auftragskiller der Mafia in New York zu verhaften. Das Foto zeigt Tomasso "Der Ochse" Petto (zweiter von links) auf dem Weg ins Gefängnis.
Auch Chicago zählte zu den Zentren der "Schwarzen Hand". 1911 verhafteten zwei US-Marshalls einen Verdächtigen.
Mit diesem Drohbrief der "Schwarzen Hand" wurde eine italienischstämmige Familie 1915 in Chicago erpresst.
Ankunft aus Neapel im Juni 1911: Die Zahl italienischer Immigranten, die nach New York kamen, stieg rasant. 1910 lebten bereits eine halbe Million in New York City.
Fahndungsplakat des NYPD von 1910: Gesucht wurden ein Ehepaar und ein Mann, die als Mitglieder der "Schwarzen Hand" zwei italienische Einwanderer in Brooklyn entführt hatten.
Auch der weltberühmte italienische Operntenor Enrico Caruso wurde Erpressungsopfer der "Schwarzen Hand". Schweigend zahlte er Lösegeld - und erhielt danach unzählige weitere Drohbriefe.
Die "italienische Truppe", die Joseph Petrosino (links mit Melone) gegründet hatte, war sehr erfolgreich. Im ersten Jahr verhafteten Petrosino und seine Männer Hunderte Mitglieder der "Schwarzen Hand".
Das Geld für die "italienische Truppe" kam auch von Privatleuten. Der Multi-Millionär Andrew Carnegie war einer von ihnen.
Petrosino hatte mächtige Feinde, darunter der sizilianische Gangster Vito Cascio Ferro, der hier 1920 mit einem Neffen posiert. Petrosino hatte Cascio Ferro wegen Geldfälschung und Erpressung zurück nach Italien abgeschoben. Don Vito schwor Rache - und hielt offenbar Wort.
Von Petrosinos Geheimmission nach Italien 1909 wusste sein Vorgesetzter, Polizeipräsident Theodore Bingham (zweiter von links bei einer Polizeiparade) - und machte den Fehler, Reportern davon zu erzählen.
Die Rache einer geheimen Organisation: Petrosino wurde am 12. März 1909 in Sizilien mit vier Kugeln in den Rücken erschossen. Seine Ermordung machte weltweit Schlagzeilen.
Letzte Ehre in New York City: Kollegen von Giuseppe Petrosino salutieren vor der Kutsche mit seinem Sarg. Der Tag seiner Beerdigung wurde zu einem offiziellen Trauertag bestimmt.
Am Trauerzug nahmen mehr als 250.000 Menschen teil. Danach wurde der Sarg abgeladen, Petrosinos Überreste wurden seiner Witwe übergeben.
Gedenken zum Todestag: Nino Melito (links), Großneffe von Giuseppe Petrosino, besucht am 12. März 2005 die Piazza Marina, auf der sein Großonkel 1909 ermordet worden war; neben ihm eine Vertreterin des US-Konsulats.
Petrosinos Leben wurde auch mehrfach verfilmt. Hier eine Szene aus "The Black Hand" (deutscher Titel: "Auch Killer müssen sterben") von 1973 mit Michele Placido (Mitte) und mit Lionel Stander als Joe Petrosino. Momentan plant Leonardo DiCaprio eine Neuverfilmung.
Abenteuer als Comicheld: Das Leben des italo-amerikanischen Polizisten bietet in den USA wie in Italien immer wieder Stoff für neue Geschichten.
Wer war Petrosinos Mörder? Nach der "Operation Apokalypse", einem Großeinsatz gegen die Mafia, teilen zwei Ermittler am 23. Juni 2014 in Palermo mit, dass einer der 91 Festgenommenen damit geprahlt habe, dass sein Großonkel Petrosino umgebracht hatte. Die italienische Polizei zweifelte an dieser Darstellung. Bis heute bleibt Petrosinos Mörder unbekannt.
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