
Schwebefähren: "Würdig wie Apollo, stark wie Herkules"
Schwebefähren "Würdig wie Apollo, stark wie Herkules"
Mit seiner Kleinwüchsigkeit und seiner Gehbehinderung war der Dorfschulmeister von Basbeck, einem Ort im Elbe-Weser-Dreieck, untauglich für Hitlers Wehrmacht. Und doch fügte es sich, dass er in den letzten Kriegstagen eine militärische Heldentat vollbrachte.
Britische und amerikanische Panzerverbände näherten sich bereits dem Elbnebenfluss Oste, als Volkssturmführer Schütt am 17. April 1945 mit einem letzten Aufgebot von Greisen und Halbwüchsigen den berüchtigten "Nero-Befehl" Adolf Hitlers ausführen sollte: Zu zerstören seien, hatte der Führer vier Wochen zuvor angeordnet, sämtliche Anlagen, "die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann".
Mit sechs Mann und gerade mal drei Panzerfäusten, die ihm verblieben waren, marschierte Schütt zu der wichtigsten Verkehrsverbindung zwischen Weser und Elbe: der imposanten Schwebefähre über die Oste, die er selber in den vergangenen Jahrzehnten ungezählte Male genutzt hatte.
"Würdig wie Apollo, stark wie Herkules"
Und weil der Dorfschullehrer das filigrane Monstrum "so liebte wie seinen Augapfel", wie sein Sohn Peter bezeugt, traf er "mit seinen drei Panzerfäusten so gezielt daneben, dass sie im Wasser der Oste zwar mächtige Fontänen auslösten, aber den Pfeilern der Fähre und ihrer Gondel nicht den geringsten Schaden zufügten".
Gerettet war damit fürs erste ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, wie es in dieser speziellen Form einzigartig ist: eine der einstmals zwanzig, inzwischen weltweit aber nur noch acht Exemplare zählenden, kuriosen Zwitterkonstruktionen - halb Brücke, halb Fähre -, die in ihrer jeweiligen Heimat "pont transbordeur" (Frankreich) heißen oder "zweefbrug" (Niederlande), "transporter bridge" (Großbritannien) oder "puente transbordador" (Spanien).
Im spanischen Portugalete bei Bilbao, an der Biskaya, war 1893 die erste Schwebefähre der Welt in Betrieb gegangen: Der Architekt Alberto de Palacio, ein Freund des Eiffelturm-Erbauers Gustave Eiffel, und der Ingenieur Ferdinand Arnodin hatten ein riesiges Stahlgerüst mit einem Laufwagen konstruiert, an dem an Seilen gleichsam ein Stück Fahrbahn hängt, das zwischen den Ufern pendelt. Auf diese Weise kann, bis auf den heutigen Tag, der Landverkehr das Gewässer queren, ohne Schiffe mit noch so hohen Aufbauten zu behindern.
Ingenieure und Künstler rühmten die Schwebefähren in ihrer Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg als "würdig wie Apollo, stark wie Herkules". Doch nicht nur in der Welt der Technik, auch in den Kinderzimmern galten sie als letzter Schrei: Anleitungsbücher für Metallbaukästen zeigten stets auch Schwebefähren zum Nachbauen.
Schweben übers Treibeis
Wo immer es in jenen Jahren vor dem Anbruch der Spannbeton- und Hängebrücken-Ära galt, Meeresarme oder Flüsse mit starkem Schiffsverkehr und hohem Tidenhub zu queren, wo Klappbrücken oder Hochbrücken mit riesigen Rampen aber zu teuer oder hinderlich gewesen wären, folgten Großstädte dem Vorbild der Baupioniere von Bilbao.
Schwebefähren entstanden zwischen 1898 und 1914 unter anderem in Rio de Janeiro und in Buenos Aires, in Newport und in Marseille. Nirgendwo sonst auf der Welt aber wagte sich jemals ein Dorf wie Osten an ein Bauvorhaben dieser Dimension.
Die üble Erfahrung, dass der kleine Handels- und Gerichtsort mit seiner traditionellen Flussfähre bei Treibeis, Hoch- und Niedrigwasser immer wieder mal tagelang von der neuen Bahnlinie jenseits der Oste abgeschnitten war, trieb schon Ende des 19. Jahrhunderts den Gemeinderat zu beharrlicher Lobbyarbeit an - bis hinauf zur kaiserlichen Regierung in Berlin.
Nachdem die Dörfler eine Drehbrücke als zu teuer verworfen hatten, setzten sie entschlossen auf den Bau einer dieser neumodischen Schwebefähren - was ohne Zweifel ein Beweis für den enormen Wagemut und die wirtschaftliche Weitsicht der damaligen Gemeindeväter war. Noch wenige Jahre zuvor hatte der Hamburger Senat Pläne für eine Schwebebahn mit Schwebefähre über die Elbe als zu riskant abgelehnt; diese Technik habe sich "noch nicht praktisch bewährt".
"Eiffelturm des Nordens"
Nachdem die Dörfler ihre bereits elektrisch betriebene Fährbrücke am 1. Oktober 1909 eingeweiht hatten - in Anwesenheit von Honoratioren mit Zylinder, Gendarmen mit Pickelhaube und Kindern mit Strohhut - , rühmten deutsche Technik-Enthusiasten das bizarre Gefährt als "achtes Weltwunder", einzigartig in seiner Bauart: Anders als bei anderen europäischen Schwebefähren war die Gondel wegen der Sturmgefahr im nassen Dreieck nicht an Seilen aufgehängt, sondern an starren Stahlstreben.
Erdacht worden war die Schwebefähre, inspiriert vom Stahlfachwerk des Eiffelturms, im MAN-Werk Gustavsburg. Für die Genialität des so genannten "Eiffelturms des Nordens" sprach, dass für den 38 Meter hohen und 80 Meter langen Bau lediglich eine Stahlmenge benötigt wurde, die in einen kompakten Würfel von 3,2 Metern Kantenlänge passen würde; beim Eiffelturm übrigens wären die Kanten 12 Meter lang.
Die Baukosten, 286.000 geliehene Goldmark, amortisierten sich bald. Für Osten sollte sich die Fähre sechseinhalb Jahrzehnte lang als zuverlässige Melkkuh erweisen. Pro Person war anfangs ein Fährgeld von 5 Pfennig zu entrichten, nur "anerkannt arme Leute" durften gratis schweben. Die Überfahrt im Zweispänner oder mit einem der 1909 noch seltenen Kraftwagen kostete 60 Pfennig.
Alteisen oder Technikdenkmal?
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Kfz-Zahl jäh empor schnellte und sich in Osten zu Spitzenzeiten lange Schlangen wartender Autos stauten, sahen mehr und mehr Anwohner und Dauernutzer in der quietschenden und rumpelnden Fähre vor allem ein ärgerliches Verkehrshindernis.
Und als 1974 ein paar hundert Meter weiter eine moderne Straßenbrücke die Funktion der Schwebefähre übernahm, stand für etliche der genervten Zeitgenossen außer Frage, was mit dem stählernen Monstrum zu geschehen habe: Im Alter von exakt 65 Jahren sollte es abgerissen und im Wortsinne zum alten Eisen geworfen werden.
Bevor die Schwebefähre, mit Girlanden geschmückt, am 30. Mai 1974 zu ihrer letzten Dienstfahrt ablegte, trat noch einmal die Hassliebe zutage, die sie bei manch einem auslöste. Für einen Abriss - und ersatzweise für die Aufstellung eines Fährmodells - plädierte aus Kostengründen selbst der Heimatpfleger, der allerdings auch ein plattdeutsches Loblied auf das "Wunnerwark ut Minschenhand" verfaßt hatte.
"Eine venezianische Gondel, die durch die Lüfte segelt"
In dieser Phase der Ungewissheit - "Wat ut di ward, is noch nich kloar," schrieb der Heimatpfleger - zeigte sich aber auch, dass das beeindruckende Bauwerk viele Menschen in Nah und Fern noch immer wie einst zur Kaiserzeit zu begeistern vermochte, darunter nicht wenige Künstler.
Auf den russischen Schriftsteller Rady Fisch etwa wirkten die Eisenfüße "wie Flüchtlinge aus einer Märchenwelt". Seine lettische Frau fühlte sich durch die Fähre in einen Traum aus Kindheitstagen versetzt: "Eine venezianische Gondel, die durch die Lüfte segelt!"
Die schönsten Gedichte über die Fähre hat der an der Oste geborene Peter Schütt verfasst, der Sohn des Volkssturmführers mit den Panzerfäusten. In einem seiner Texte erinnert er sich an die kleinen Fluchten, die er als Junge per Fährgondel von Basbeck ins lockende Osten unternahm: "Drüben liegt ein andres Land, / liegt Osten, liegt mein Samarkand. / Wie ein Mond, fern aller Erdenschwere, / schweb ich auf der Schwebefähre."
Nostalgikern und Heimatfreunden, Geschäftsleuten und Kommunalpolitikern gelang 1974 eine Pioniertat. Nachdem der Landkreis die Gemeindefähre in seine Trägerschaft übernommen hatte, stellte das Land sie als erstes "technisches Baudenkmal" in Niedersachsen unter Schutz. Eine gemeinnützige Fördergesellschaft unter dem Vorsitz des jungen Fährkrug-Hoteliers Horst Ahlf übernahm es, fortan "touristische Demonstrationsfahrten" anzubieten - die Ostener Fähre war vor der Zerstörung gerettet, zum zweitenmal.
Königlicher Beistand
Zum drittenmal wurde die Liebe der Osteländer zu ihrem Wahrzeichen auf die Probe gestellt, als der Kreis Cuxhaven, mittlerweile Eigentümer des Baudenkmals, die Fähre im Herbst 2001 auf Anraten des TÜV wegen Baumängeln stilllegen musste.
Gutachter taxierten die Reparaturkosten auf 1,1 Millionen Euro, zu denen der strukturschwache Küstenkreis in Zeiten wachsender Finanznot gerade mal ein Zehntel beisteuern konnte. Im August 2003 verlautbarte die Kreisverwaltung eine Hiobsbotschaft: Wegen Geldmangels werde die "Sanierung derzeit nicht angegangen".
In dieser Lage musste es darum gehen, finanzkräftige überörtliche Instanzen - von der Landesregierung in Hannover über Berlin bis Brüssel - für das rostende Gerüst an der weithin unbekannten Oste zu erwärmen. In der Krise kam den Fährfreunden unversehens ein weltberühmter Fürsprecher zu Hilfe.
König Juan Carlos I. von Spanien - Heimat der "Mutter aller Schwebefähren" in Bilbao - übernahm den Ehrenvorsitz eines frisch gegründeten Weltverbandes der Schwebefähren, dessen Mitglieder teils per Internet (www.schwebefaehre.org) in Kontakt getreten waren. Medienwirksam erklärte der Monarch bei einer Audienz im Zarzuela-Palast bei Madrid, die letzten erhaltenen Exemplare dieser "liebenswerten alten Brücken" - drei in Großbritannien, zwei in Deutschland und je eine in Frankreich, Argentinien und Spanien - seien "ein Teil unser aller Geschichte". An die Verantwortlichen richtete der König den Appell: "Erhaltet sie!"
Die älteste Konstruktion der Welt
Die royale Intervention fand auch in Deutschland Resonanz in Presse, Funk und Fernsehen. Dadurch ermutigt, nahm das kleine Dorf Osten den Kampf für seine bedrohte Fähre auf.
Grundschüler errichteten ein Fährmodell aus Papprohren, Christen warben auf dem Kirchentag für die Schwebefähre, Feuerwehrmänner setzten das Bauwerk mit Scheinwerfern ins rechte Licht, Gastronomen vertrieben gegen Spenden eine Osten-Sondermarke der österreichischen Post, Künstler warben auf Postkarten und Postern für das Denkmal am Strom.
Besonders rasch reagierte das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege. In einem umfangreichen Gutachten kam es 2003 zu dem Schluss, das Bauwerk sei "ein Kulturdenkmal von besonderer nationaler kultureller Bedeutung aus baugeschichtlichen, technikgeschichtlichen und wissenschaftlichen Gründen".
Die Fähre über der Oste, so das Gutachten, müsse "von den freitragenden erhaltenen Bauten als die älteste Konstruktion der Welt" angesehen werden. Im nationalen Maßstab wiederum stelle sie den "einzigen noch erhaltenen reinen Schwebefährentypus" dar. Mithin sei eine Instandsetzung "unabdingbar".
Umrissskizzen aus dem Umerziehungslager
Daraufhin flossen Fördergelder in Millionenhöhe. Im Frühjahr 2006 wurde die Fähre nach gut einjähriger Runderneuerung wieder für den Publikumsverkehr freigegeben. Nicht zuletzt dank einer mittlerweile eingerichteten Deutschen Fährstraße, die Gewässerquerungen aller Art zwischen Bremervörde und Kiel tangiert, besuchen nun weit über 100 000 Touristen pro Jahr das kleine Dorf an der Oste mit seinem dreimal geretteten Bauwerk.
Dem Retter Nummer eins, dem Volkssturmführer Schütt, übrigens wurde seine Befehlsverweigerung vom April 1945 nie gedankt. Er erntete für die Fehlschüsse, wie sein Sohn berichtet, in der Nachbarschaft "nur Hohn und Spott". Wenig später habe ihn die Militärpolizei der britischen Besatzer für fast drei Jahre ohne Urteil in ein Umerziehungslager gesteckt.
Schütt junior erinnert sich noch gut an diese Zeit: "Auf die Rückseite der Briefe, die er von dort einmal im Monat nach Hause schreiben durfte, hatte er jedes Mal eine filigrane Umrissskizze vom Gerüst der Schwebefähre gezeichnet."
Zum Autor:
Jochen Bölsche ist SPIEGEL-Autor und Sprecher des Arbeitskreises deutsche Schwebefähren in der AG Osteland e.V.