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TV-Ikone Erika Berger: Das Call-Girl

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Sex-Talk-Ikone Erika Berger "Worüber soll man denn sonst reden?"

In den Achtzigern redete sie live im Fernsehen über vorzeitige Samenergüsse und Fetische. Jetzt wird Erika Berger 75. Kann man mit ihr noch immer unverblümt über Sex sprechen? Fünf Versuche, die TV-Aufklärerin der Nation zu erreichen.

Zehntausende Deutsche haben es getan. Anonym, nervös, stotternd, errötend. Angerufen bei Erika Berger. Und über Gruppensex, Selbstbefriedigung mit Staubsaugern und vorzeitige Samenergüsse geredet. Live im Fernsehen, vor einem Millionenpublikum. In den Achtzigerjahren war das noch ein Tabubruch in der Bundesrepublik.

Heute ist es stiller um die "Sex-Tante der Nation" geworden, wie sie im Boulevard genannt wurde. Am 13. August feiert sie ihren 75. Geburtstag. Warum also nicht einfach anrufen und schauen, ob sie immer noch über Sex redet?

"Ja, hallo, Erika Berger hier", meldet sich Berger sanft. Diese leicht wattierte Beraterstimme mit dem freundlichen, süddeutschen Einschlag löst im Kopf sofort eine Zeitreise aus. Man sieht Erika Berger förmlich vor sich, wie sie in ihrem rötlich beleuchteten TV-Studio der RTL-Show "Eine Chance für die Liebe" neben einem Strauß dunkelroter Rosen sitzt, die überlangen, nylonumwobenen Beine auf der rot gemusterten Couch übereinandergeschlagen, einen übergroßen Telefonhörer am Ohr. Natürlich war der Hörer auch rot. Denn es ging ja offiziell um die Liebe, in Wahrheit aber eher um einen Aspekt davon, der den Voyeurismus der verklemmten Bundesbürger entfachte: Sex!

"Schönen guten Tag, Christoph Gunkel von SPIEGEL ONLINE hier…" Die weiche Stimme unterbricht überraschend hektisch. "Hallo? Hallo???" "SPIEGEL ONLINE hier, Frau Berger, ich würde gerne…" Ein Knacken. Erika Berger hat aufgelegt. Sie hat nichts gehört.

"Mir ist es völlig wurscht, ob du einen Orgasmus hattest oder nicht!"

Ein nächster Versuch verläuft ähnlich desaströs, beim dritten Mal flucht Berger: "Man, was ist das denn für ein Mist!" Die professionelle TV-Freundlichkeit ist endgültig aus ihrer Stimme entwichen. Murmelnd notiert sie sich die Nummer des penetranten Anrufers, dessen Stimme sie nie hört. "040-38080…"

Ein vierter Anruf. Es klingelt und klingelt. Erika Berger geht nicht mehr an den Apparat.

Etwas später nimmt sie dann doch wieder ab, erstaunlich gut gelaunt. Diesmal steht die Leitung, der Fehler lag beim SPIEGEL, ein Kabel des Aufnahmegeräts war defekt. Schlagfertig witzelt Berger, so oft habe sie selten ein und derselbe Mann angerufen. "Herr Gunkel, haben Sie ein Problem? Womöglich kann ich Ihnen helfen!"

Ja, vielleicht. Zum Beispiel mit einer Antwort auf die Frage, ob man nach jahrzehntelanger TV-Beratung noch immer Spaß daran findet, über Sex zu reden.

Berger: Ganz ehrlich: Ja. Worüber sollte man denn sonst reden?

SPIEGEL ONLINE: Na ja, vielleicht über Politik, Sport, den Weltfrieden. Hat es denn nie genervt, ständig über Erektionsprobleme und Seitensprünge zu sprechen?

Berger: Es gab schon mal ganz kurz den Punkt, an dem ich mir gesagt habe: "Mir ist es jetzt wirklich völlig wurscht, ob du nun einen Orgasmus hattest oder nicht - bitte frag nicht mich!" Die meiste Zeit aber fand und finde ich es sehr spannend. Die grundlegenden Probleme waren zwar dieselben, aber dahinter standen völlig unterschiedliche Lebensschicksale.

SPIEGEL ONLINE: Sind Sie denn in solchen Livegesprächen über intime Details nicht ständig in unfassbar peinliche Situationen gekommen?

Berger: Nein, man muss die Dinge einfach beim Namen nennen, dann ist es nicht peinlich im Sinne von unfreiwillig komisch. Ein Penis ist nun mal ein Penis, fertig.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt sehr abgeklärt. Sind Sie denn wenigstens mal innerlich errötet?

Berger (lacht): Die Vorstellung ist gut, wie man innerlich errötet. Aber im Ernst: Es gab natürlich unerwartet witzige Situationen. Da hat mich einmal ein Mann angerufen und gesagt: "Meine Frau wedelt mir keinen ab." Ich habe es nicht verstanden. Ich dachte zuerst wirklich: "Warum redet der denn jetzt hier vom Skifahren?"

SPIEGEL ONLINE: Gab es nichts, was Sie aus der Fassung gebracht hat?

Berger: Ein Anrufer sagte auf einmal: "Ich möchte jetzt mit dir schlafen!" Da war ich wie erstarrt, die Kameraleute glotzten mich an, ich habe sofort aufgelegt. Später habe ich mir die Szene noch einmal angeschaut und gesehen, dass ich trotzdem nicht mit der Wimper gezuckt habe.

Doch selbst Erika Berger konnte nicht immer so erfrischend locker über Sex reden. Schon gar nicht mit ihren Eltern. Sie wuchs wohlbehütet in einem konservativen Elternhaus in Bayern auf. Um zehn Uhr abends musste sie zu Hause sein, an einen Urlaub mit dem Freund war nicht zu denken. Die spätere TV-Aufklärerin war als Jugendliche selbst nicht aufgeklärt. Ihre Mutter warnte sie sogar, sie könne vom Küssen schwanger werden.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie das wirklich geglaubt?

Berger: Ja! Das werde ich nie vergessen. Ein unglaublicher Satz von meiner Mutter. Ich war 16 Jahre alt und hatte ein Date, Norbert hieß er. Abends bin ich zu meiner Mama zurückgekehrt, tränenüberströmt und habe gesagt: "Mama, ich habe den Norbert geküsst und bin jetzt schwanger!" Sie nahm mich in den Arm und beruhigte mich, dass ich nicht schwanger sein könne.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie darauf reagiert?

Berger: Ich war erst wütend auf sie. Das hätte sie mir doch gleich sagen können.

SPIEGEL ONLINE: Vier Jahre später, mit 20 Jahren, waren Sie wirklich ungewollt schwanger. Waren Sie wieder ein Opfer der elterlichen Nicht-Aufklärung?

Berger: Auf jeden Fall. Natürlich wusste ich im Prinzip, wie es funktioniert. Man hat sich mit anderen Mädchen ausgetauscht. Aber Sex war damals ein Tabuthema und eigentlich wusste ich viel zu wenig. Zudem gab es ja auch die Pille noch nicht.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Berger: Es war ein absoluter Schock. Ich musste sofort heiraten. Mein Vater war zwar toll in der Situation und hat gesagt, wenn ich meinen Freund nicht liebe, soll ich es lassen. Aber meine Mutter hat gesagt: "Was sollen denn die Leute denken?"

Kurz danach wurde das zweite Kind geboren, die Ehe ging in die Brüche. 1974 machte Erika Berger ein Volontariat bei der "Bild"-Zeitung, wurde Polizeireporterin - und brach ohnmächtig zusammen, als sie ein totes Mädchen sah. Nach dem Schock widmete sie sich den leichteren Themen: Klatsch, Mode, Liebe, Sexualität. Bald merkte sie, dass ihr die Menschen sehr schnell sehr intime Dinge anvertrauen. Es war der Beginn ihrer steilen Karriere.

Für den Heyne-Verlag schrieb sie 1986 den "Bett-Knigge". Darin standen Warnungen vor "Schlafzimmer-Flops" wie der "baumwollenen Unterhose mit langen Beinen" und harmlose Ratschläge wie etwa diese: "Ein gemeinsames Schaumbad ist ungeheuer anregend". Oder, etwas bizarrer: "Verspielte Babylaute machen das Vorspiel unerotisch."

In einer Zeit, in der nackte Brüste bei "Tutti Frutti" ein echter Skandal waren und noch keine Sexvideos in Sekundenschnelle aus dem Internet geladen werden konnten, war Bergers Liebesratgeber ein großer Erfolg. Nun wollte auch das noch junge Privatfernsehen nachziehen. In den USA gab es schon die erfolgreiche Sendung "Let's Talk about Sex" mit Ruth Westheimer. So etwas wollte RTL auch. Erika Berger bewarb sich und wurde zu einer Testmoderation eingeladen.

Berger: Ich dachte, ich sterbe vor Angst. Ich konnte vorher wochenlang nicht schlafen. Und dann kamen auch noch die Anweisungen aus einem Lautsprecher ganz oben in der Decke. Als Journalistin war ich es gewohnt, meinen Gesprächspartner direkt in die Augen zu schauen. Also habe ich bei der Moderation an die Decke geguckt. Das war so bescheuert, hat aber alle köstlich amüsiert.

SPIEGEL ONLINE: Was sagte sie denn, die Stimme aus der Decke?

Berger: Sie fragte etwa: "Wo kauft man Kondome?" "Im Sex-Shop", wollte ich sagen. Aber ich konnte das Wort nicht einfach aussprechen, das kam mir so vulgär, so falsch vor. Also habe ich gesagt: "Im Ehe-Hygieneinstitut". Im Ehe-Hygieneinstitut! Das war ein Bombenlacher.

SPIEGEL ONLINE: Das war aber alles andere als unverkrampft! Dennoch wurden Sie genommen. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Sendung 1987?

Berger: Ich hatte Lampenfieber, saß auf dem Sofa und zippelte immer nervös an meinem Rock herum. Ich wollte nicht, dass er zu sehr hochrutschte.

SPIEGEL ONLINE: Sonst ging aber alles glatt?

Berger: Das Oberthema war Oralsex und wie erhofft sorgte das für große Aufregung. Das Schwierigste aber war, die Anrufer überhaupt zu verstehen. RTL war damals nur in Luxemburg und im Saarland zu empfangen. Dialekte, die ich bis heute kaum verstehe.

SPIEGEL ONLINE: Umgekehrt verstanden damals viele Sie nicht. Sexualwissenschaftler tobten, Ihnen wurde vorgeworfen, "Propaganda für den Seitensprung" zu betreiben und für alle Gelüste Verständnis zu haben. Hatten Sie damit gerechnet?

Berger: In der Heftigkeit hat mich die Reaktion gewundert. Ich habe ja nie behauptet, Therapeutin zu sein. Diese Sexualwissenschaftler hockten in ihren Praxen und dann halte ich mein Gesicht vor die Kamera, und es funktioniert. Da war viel Neid dabei. Außerdem habe ich nie einen Anrufer auflaufen lassen. Wenn es mir brenzlig erschien, habe ich sie sogar nach der Sendung mit Adressen von Beratungsstellen versorgt.

Bayerische Medienwächter zitierten Berger und RTL-Chef Thoma sogar zu einer Anhörung, die die Moderatorin heute mit einer "Inquisition" vergleicht. Doch mit der Zeit ließ die Empörung nach und eine "Chance für die Liebe" geriet zur vormitternächtlichen Folklore. Hape Kerkeling rief an und ließ Berger gehörig auflaufen. Eine Frau aus Österreich verzweifelte an ihrem Mann, der Sex im Heuschober bevorzugte und fragte besorgt, wie sie denn mitten in Wien unbemerkt an so eine Menge Stroh kommen könne - Berger riet prustend zum Besuch der örtlichen Zoohandlung für das häusliche "Kleintier". Der Sex war endgültig in der Unterhaltung angekommen.

Nach etlichen Quotenrekorden wurde "Eine Chance für die Liebe" 1991 eingestellt. Erika Berger aber hatte ihr Lebensthema gefunden. Sie schrieb ein Sex-Wörterbuch, redete über Sex im Alter und gab Kandidaten wie Porno-Annina im "Big Brother"-Container Liebestipps. Zuletzt versuchte sie ein TV-Comeback in der Sat.1-Sendung "Flirten, Daten, Lieben", die aber schon nach wenigen Folgen eingestellt wurde. Und immer wieder betonte Berger, man dürfe sie alles fragen. Also kurz der Schnelltest.

SPIEGEL ONLINE: Ihr erstes Mal?

Berger: Sehr unbefriedigend. Es war ein Käfer.

SPIEGEL ONLINE: Ein Käfer. Unbefriedigend. Das kann ich mir vorstellen…

Berger (lacht): Ich meinte: Es war in einem sehr engen Käfer.

SPIEGEL ONLINE: Ihr wildestes Mal?

Berger: Auf meiner Hochzeitsreise, da ist das Himmelbett zusammengekracht.

SPIEGEL ONLINE: Ihr letztes Mal?

Berger: Da klappte es noch sehr gut.

Einen verständlichen Wunsch hat sie dann doch noch zu ihrem 75. Geburtstag. "Bettdecken-Anheizerin" will sie nicht mehr genannt werden. Wenn man ihr Leben schon auf wenige Wörter verkürze, dann bitte so: "Beine mit Hirn".

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