

Konzentriert beugt sich der Mann mit dem Rauschebart über den Tisch. Die einzige Helligkeit in dem Studio stammt von seiner Stirnlampe - und der Lichtquelle unter der gläsernen Tischplatte. Mit seinen Händen erweckt Klausjörg Herrmann behutsam schwarze Pappfiguren zum Leben: Eilig überquert eine Kutsche eine Brücke. Zügig zieht das vorgespannte Pferd das schwer beladene Gefährt voran. Währenddessen macht es sich darin eine vornehme Dame bequem. Ihre Koffer hüpfen auf und ab.
Herrmann zieht sachte an dem Pferdekopf und bewegt so die Kutsche einen Millimeter vorwärts. Dann drückt er einen Knopf an seinem Glastisch. Darüber hängt eine Kamera. Klick. Er bewegt die Kutsche einen weiteren Millimeter vorwärts. Wieder Klick.
Die Kutschfahrt ist eine besonders schwierige Szene, die Herrmanns volle Konzentration erfordert. "Die Kutsche braucht eine gleichmäßige Bewegung", erklärt er. "Das Pferd läuft aber mal schneller und mal langsamer. Dazu ist die Brücke auch noch uneben und das muss ich durch Millimeterarbeit ausgleichen."
1500 Fotos muss Herrmann für eine Filmminute machen. Zehn bis 20 Sekunden Film produziert er auf diese Weise am Tag.
Millimeterarbeit
In derart mühevoller Kleinarbeit stellt Klausjörg Herrmann Silhouettenfilme, auch Schattenfilme genannt, her. In seinem Atelier im sächsischen Kreischa nahe Dresden haucht er den Pappfiguren Leben ein - sorgfältig aufgezeichnet, vorsichtig ausgeschnitten und von Hand animiert. Bis auf wenige Hilfsarbeiten erledigt er diese Handgriffe allein. Heimische Märchen und Sagen sind sein Lieblingsthema. Seine Geschichten erzählen beispielsweise von der sorbischen Volkssage Krabat.
Schon als kleiner Junge war Herrmann fasziniert vom Schattenfilm. 1941 in Dresden geboren, wuchs er als Sohn eines Kriminalexperten auf. Als 13-Jähriger sah er 1954 im Kino den Silhouettenfilm "Der Teufel und der Drescher" - die Verfilmung einer mecklenburgischen Sage, in der der Teufel sich als alter, gebrechlicher Gesell ausgibt, der einen hartherzigen Edelmann überlistet. "Diese Stimmung des Grau in Grau, die Schwarzweiß-Töne, das passte einfach alles so gut zusammen, dass ich mir gedacht habe: So etwas musst du auch mal machen!"
Ein Jahr später begann Herrmann allerdings zunächst eine Tischlerlehre. Nebenbei trat er mit einem Puppentheater auf. Erst später bewarb er sich erfolgreich bei der Deutschen Film AG (DEFA), dem volkseigenen Filmunternehmen der DDR. Das DEFA-eigene Trickfilmstudio entwickelte und produzierte seine geliebten Schattenfilme. Neben Puppentrick und Zeichenanimation war der Scherenschnitt zu DDR-Zeiten eine angesehene Kunst. Die Trickfilmer des Arbeiter- und Bauernstaates waren die einzigen auf der Welt, die die Silhouettenkunst beherrschten.
Brotlose Kunst
Im Trickfilmstudio der DEFA lernte Herrmann den Silhouettenmeister Bruno J. Böttge kennen, der Herrmann einst mit seinem Film "Der Teufel und der Drescher" für die Welt der Schattenfilme begeistert hatte. Böttge brachte seinem Schüler jeden Trick der Schattenfilmkunst bei.
1981 verließ Herrmann das Studio, um sich selbstständig zu machen. Sein Mentor Böttge war verstorben und er wollte nicht weiter sogenannte Anlassfilme produzieren - also Propagandastreifen anlässlich des Maifeiertags oder des Tags der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg. Er wollte viel lieber seine Fantasie spielen lassen und Märchen und Sagen verfilmen. Doch waren die Aufträge rar. 1982 wurden allerdings die Macher der Kultserie "Sandmännchen" auf ihn aufmerksam. Herrmann produzierte nun Animationsfilme für die Serie und erhielt auch wieder Aufträge von der DEFA.
Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde das DEFA-Trickfilmstudio aufgelöst. Seither ist Herrmann einer der letzten "Meister der Schatten". Mittlerweile arbeitet er in seinem eigenen Studio, einer ehemaligen Gärtnerei. Geld sei mit seiner Leidenschaft für den Silhouettenfilm nicht zu verdienen, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Für seinen Lebensunterhalt produziert er Imagefilme und unterrichtet Filmstudenten in der Legetechnik des Schattenfilms.
Momentan arbeitet Klausjörg Herrmann an einem Film in Kinolänge - einer Mischung aus Silhouettentrick, Spielfilm und 3D-Animation, in dem zwei Tintenkleckse in ein Buch fallen und darin zum Leben erwachen. Dann geht es los: Sie fressen sich durch Buchstabenberge und werden deswegen von Bibliothekaren gejagt. Bis sie irgendwann in der digitalen Welt landen und spannende Abenteuer bestehen müssen. In drei Jahren soll der Film fertig sein - und mit etwas Glück im Kinderfernsehen zu sehen sein.
Mittlerweile steht Herrmann seit über 50 Jahren täglich an seiner Trickbank. "Mich fasziniert einfach, dass ich nur mit einer Schere und etwas schwarzem Papier alles darstellen kann, was ich will." Ans Aufhören denkt er nicht: "Wenn ich aufhöre, macht es ja keiner mehr."
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Happy End: Heimische Märchen und Sagen sind die Lieblingsthemen des Schattenfilmemachers Klausjörg Herrmann. In seinem Film "Der siebente Rabe", der auf der alten Sage "Krabat" beruht, siegt natürlich am Ende die Liebe.
Zauberhaft: "Der siebente Rabe" handelt von einem Jungen, der bei einem schwarzen Zauberer in die Lehre geht und sich später gegen seinen Meister behaupten muss.
Übergröße: Herrmanns Sohn hat seinem Vater eine Bank gebaut, die perfekt auf die Bedürfnisse des Silhouettenfilmers abgestimmt ist. Mit einer Länge von 3,25 Metern kann der Meister hier auch lange Kamerafahrten filmen.
Wegbereiterin: Die Scherenschneiderin Lotte Reiniger gilt als deutsche Pionierin des Schattenfilms. Wie Klausjörg Herrmann schuf die 1899 geborene Reiniger ihre Filme auf einem selbstgebauten Animationstisch.
Fragment: Eigentlich wollte Reiniger ihren "Doktor Dolittle und seine Tiere" zu einer ganzen Filmserie ausbauen, doch war eine Realisierung in den Zwanzigerjahren finanziell unmöglich. So wurden lediglich drei Teile als Schattenfilm produziert, die auf dem Werk des englischen Autors Hugh Lofting basierten.
Abendfüller: "Der siebente Rabe" ist Herrmanns längster und bekanntester Schattenfilm. Der Streifen von 2012 ist auf Festivals zu sehen gewesen und auf DVD veröffentlicht worden. Demnächst soll der Film auch auf Englisch, Russisch und Französisch übersetzt und international vertrieben werden.
Gemisch: Im Film "Leinen der Lausitz" vermischt Herrmann dagegen Realfilmszenen mit Schattenfiguren. Der 75-jährige Filmemacher entwickelt seine Filmkunst stetig weiter und experimentiert gern.
Filmschule: In seinem Atelier, einer ehemaligen Gärtnerei in der Nähe von Dresden, stellt der Produzent seine Silhouettenfilme her.
Eigenbau: Der Meister bearbeitet seine Filme in seinem Produktionsstudio selbst. Hinter die animierte Szene legt er jeweils einen Hintergrund in Form einer Realbildszene, eines Fotos oder einer Grafik.
Galaktisch: Silhouettenfilme besitzen eine spezielle Atmosphäre. In "The Star of Bethlehem" von 1956 erzählt Lotte Reiniger die Weihnachtsgeschichte auf märchenhaft düstere Weise.
Klickklickklick: Das Herzstück des Silhouettenstudios ist die Trickbank. Hier entstehen die Filme. Die schwarzen Figuren liegen auf einem Glastisch, der von unten beleuchtet ist. Über dem Tisch hängt eine digitale Spiegelreflexkamera, die die Figuren in jeder einzelnen Bewegung abfotografiert. Der weiße Hintergrund wird später durch einen farbigen ersetzt.
Konzentration: Millimeterarbeit ist gefragt, wenn Klausjörg Herrmann seine Figuren auf der Trickbank bewegt. Für eine Minute Film muss er die Figuren etwa 1500 Mal verrücken. Pro Tag kann er etwa 10 bis 20 Sekunden produzieren.
Verkaufsförderung: Der Film "Post early for Christmas" von 1949 war einer von vier Werbe-Schattenfilmen, die Lotte Reiniger für die General Post Office Film Unit produzierte. Die Filmemacherin war 1935 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach London übergesiedelt. Dort produzierte sie unter anderem Filme für die BBC.
Epos: Die "Abenteuer des Prinzen Achmed" von Lotte Reiniger waren mit 65 Minuten der erste abendfüllende Silhouettenfilm der Welt. Er wurde nach drei Jahren Produktionszeit im Jahr 1926 veröffentlicht. Der Streifen ist zugleich der älteste noch erhaltene Schattenfilm der Welt.
Sprachtalent: Moderne Technik erleichtert heute die Filmarbeit. Die Texte seiner Filme spricht der 75-jährige Klausjörg Herrmann zunächst selbst ein, um die Sprechgeschwindigkeit für die Computeranimation zu messen. Für den fertigen Film übernimmt diesen Part ein Schauspieler.
Galopp: Die Kutschfahrt ist eine besonders schwierige Szene, weil das ungleichmäßige Tempo des laufenden Pferdes in einer gleichmäßigen Bewegung der Kutsche münden soll. Hier bearbeitet Herrmann die Szene am Rechner nach.
Schnippschnapp: Klausjörg Herrmann entwickelt seine Figuren selbst und schneidet sie sorgfältig mit der Hand aus. Inzwischen hat er das Handwerk so perfektioniert, dass er viele seiner Figuren nicht einmal mehr vorzeichnet. "Malen kann ich nicht so gut, ich schneide besser", sagt er.
Fleißarbeit: Das Bild zeigt die verschiedenen Einstellungen, die nötig sind, um die Figuren, hier Krabat aus "Der siebente Rabe" von 2012, zum Laufen zu bringen. Wichtig ist, dass der ganze Körper die Bewegung mit trägt. Dazu hat der Meister die Figuren nach anatomischem Vorbild entwickelt.
Schnippschnapp: Mehr als eine Schere und viel schwarzes Papier braucht der Filmemacher nicht, um seine Geschichten entstehen zu lassen. "Ich liebe die Arbeit mit dem Papier", sagt er. "Meine Silhouetten machen was ich will, ganz anders als menschliche Schauspieler."
Unterstützung: Hier schneidet Herrmann die Figuren aus. Erst in der Animation erwacht das schwarze Papier zum Leben. Im Hintergrund ist eine Praktikantin zu sehen, die dem Meister bei seinem aktuellen Projekt unter die Arme greift.
Selbstportrait: Herrmann hat sich selbst mit einer Silhouette verewigt. In Deutschland war der Scherenschnitt im 18. und 19. Jahrhundert eine beliebte Kunstform. Auch die Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller liebten es, Silhouetten zu verschenken.
Freundschaft: Der Silhouettenfilmmeister Bruno J. Böttge war Klausjörg Herrmanns Lehrmeister und Kollege. Der Trickfilmer und Regisseur Böttge war Mitbegründer des Trickfilmstudios der Deutschen Film AG (DEFA). Zusammen produzierten sie Herrmanns ersten Film "Lieber Mohr".
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