Internationaler Roma-Tag 700 Jahre Ausgrenzung

Seit Jahrzehnten fordern Sinti und Roma in Europa ihre Rechte als Bürgerinnen und Bürger ein, seit 1990 erinnern sie mit dem Roma-Tag daran. Von Anerkennung und Gleichberechtigung sind sie vielerorts noch immer weit entfernt.
Veranstaltung in Berlin zum 50. Jahrestag des Ersten Welt-Roma-Kongresses von 1971: Dieser Teilnehmer trägt am 8. April 2021 einen Corona-Mundschutz mit dem Symbol der Roma-Bürgerrechtsbewegung – blau wie der Himmel, grün wie Gras, mit einem roten Speichenrad

Veranstaltung in Berlin zum 50. Jahrestag des Ersten Welt-Roma-Kongresses von 1971: Dieser Teilnehmer trägt am 8. April 2021 einen Corona-Mundschutz mit dem Symbol der Roma-Bürgerrechtsbewegung – blau wie der Himmel, grün wie Gras, mit einem roten Speichenrad

Foto: Filip Singer / EPA-EFE

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Auf Beobachter mag die kleine Gruppe von Menschen, die sich am 8. April 1971 in einem kleinen Internat im Londoner Vorort Orpington traf, wie eine Gruppe Hippies gewirkt haben. 23 von ihnen waren als Delegierte dorthin geschickt worden, von verschiedenen Vereinen und Organisationen aus neun Ländern dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. Eine kleine Gruppe von Besuchern aus vier weiteren Nationen hatte zwar keine solchen Mandate, wollte aber dabei sein, um die Diskussion zu verfolgen.

Die Zusammensetzung der Gruppe war damit so international und divers, als tagten Diplomaten am Sitz der Uno. Doch da parlierten keine professionellen Schlipsträger, sondern Bürgerrechtsbewegte, der Rahmen war so informell wie leicht chaotisch. Schnell zeigte sich, dass allein der Geist der Gemeinsamkeit, der sie nach London gebracht hatte, sie nicht auch zu Gleichen machte: Die Debatte gestaltete sich problematischer als erhofft.

Denn in Orpington begegneten sich nicht nur Menschen aus der Tschechoslowakei, aus Finnland und Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Deutschland, aus Ungarn und Irland, Spanien und Jugoslawien, dazu aus den USA, Kanada, Belgien und Indien. Sie entstammten auch verschiedensten sozialen Schichten: Manche von ihnen waren Intellektuelle und Akademiker, während andere als Kleinhandwerker oder Schrottsammler in Elendssiedlungen oder Wohnwagen groß geworden waren.

Die Hoffnung, dass sie alle trotzdem miteinander sprechen könnten, platzte schnell. Die Sprache Romani, die sie im Ansatz teilten, erwies sich als kaum weniger variantenreich als die »Kontaktsprachen« der Länder, in denen ihre Familien oft schon mehr als 700 Jahre lebten. Obwohl sich alle als »Zigeuner« verstanden, wie es damals noch hieß, muss das Sprachchaos babylonisch gewesen sein.

Verschiedene Sprachen, gemeinsame Ziele

Dabei war ihre Aufgabe nicht klein: Sie wollten sondieren, ob, wann und wie man Vertreter von Landfahrenden und »Zigeuner«-Organisationen zu einem Kongress mit globalem Anspruch zusammenbringen könnte. Das Ziel: die Gründung einer großen, grenzüberschreitenden Organisation. Sie sollte die Rechte und Ansprüche von Menschen, die dem einst nomadisch lebenden Volk der Roma entstammen, auf höchster politischer Ebene vertreten – in Europa und bei der Uno.

Das hatte es bis dahin nicht gegeben. Und es war, selbst im wandelfreudigen Zeitgeist der Spätsechziger und Siebziger, nicht einfach. Erste Irritationen gab es schon, weil auch Vertreter der irischen und schottischen Travellers vor Ort waren, die keine Roma sind und Cant statt Romani sprechen. Kaum kleiner fielen auch die Meinungsunterschiede zwischen oft seit Generationen sesshaften, in manchen Gesellschaften gut integrierten Sinti und Roma mit denen aus, die noch immer eine »fahrende« Lebensweise vorzogen.

Schließlich löste Grattan Puxon, einer der Initiatoren des Treffens, diesen gordischen Knoten: Er schlug vor, man solle einfach konkrete Ziele formulieren, statt Regeln und Formalien für einen künftigen Kongress zu entwickeln. Das war offenbar leichter. Die Gruppe einigte sich darauf, dass...

• …man künftig darauf drängen würde, dass alle abwertenden Fremdbezeichnungen wie »Zigeuner«, »Tinker«, »Gypsy« aus dem Sprachgebrauch verschwinden sollten;

• ...stattdessen die Eigenbezeichnung »Roma« als Oberbegriff genutzt werden sollte, um auch bestimmte Gruppen mit ähnlicher Kultur und Lebensweise einzuschließen;

• ...man als Symbol der zu gründenden internationalen Roma-Bürgerrechtsbewegung eine gemeinsame Flagge wolle: oben blau wie der Himmel, unten grün wie das Gras, darauf ein rotes Speichenrad;

• ...die »Nation ohne Nation« ein Roma-Lied, eine Art Nationalhymne haben solle. Die Wahl fiel auf das traditionelle Liebeslied »Djelem, djelem«, für das ein neuer Text gedichtet wurde.

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Damit hatte das Treffen letztlich alles erreicht, was der zu planende Kongress erst erreichen sollte – und Puxon schlug vor, dass das Planungstreffen im Cannock House deshalb gar nicht das Vortreffen gewesen sei, sondern bereits der erste Welt-Roma-Kongress. So begann höchst hemdsärmelig ein neues Kapitel in der Geschichte der Roma.

Jahrhundertelang verfolgt

Deren Historie ist bis heute strittig und voller Rätsel. Was man weiß: Sie sind seit spätestens dem 14. Jahrhundert Europäer. Möglicherweise aus Mittelindien auf nicht in Gänze geklärten Wegen zugewandert, leben geschätzt zwölf Millionen von ihnen vor allem in Ost-, Süd- und Mitteleuropa. In Deutschland – je nach Zählweise, die angestammte Bevölkerung und Flüchtlinge einschließt oder auch nicht – sind es zwischen 70.000 und 120.000.

Was man noch weiß: dass sie über all die Jahrhunderte immer wieder verfolgt, ausgegrenzt und vertrieben wurden. Selbst in Ländern, in denen sie große Minderheiten der Bevölkerung stellen, wurde Roma die Integration lange verweigert – oft bis heute. Antiziganismus, Misstrauen und Hass gegen sogenannte Fahrende befeuerten immer wieder Pogrome und machten Roma zu gesellschaftlichen Außenseitern, die meist weitgehend rechtlos blieben.

Am 24. Oktober 2012 wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eingeweiht – fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende

Am 24. Oktober 2012 wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eingeweiht – fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende

Foto: Rainer Jensen/ dpa

Vor allem die Deutschen stellten ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus mit einem Furor nach, der auf Völkermord zielte: Etwa eine halbe Million Roma starben in den Konzentrationslagern. Die Überlebenden mussten feststellen, dass ihr Leiden nicht nur in Deutschland, sondern so gut wie überall weiterging. In Frankreich und Deutschland, Großbritannien und Irland intensivierte sich die Entrechtung Ende der Fünfzigerjahre sogar noch: Die Regierungen versuchten zunehmend, die fahrende Lebensweise zu behindern und durch Zwangsansiedlungen auch zu beenden.

Dagegen wandte sich – ganz im Geist der Zeit – ab den Fünfzigerjahren eine kleine, keimende Bürgerrechtsbewegung. 1958 entstand in Frankreich mit der »Communauté Mondiale Gitane« (CMG) eine erste politische Organisation mit grenzüberschreitendem Anspruch. Der CMG trat auch der Brite Grattan Puxon bei und beteiligte sich, nach ihrem Verbot im Jahr 1965, an der Gründung des »Comité International Tzigane« (CIT), aus dem 1978 die »International Roma Union« (IRU) werden sollte.

Späte Anerkennung

Das öffentliche Bild der Sinti und Roma war zu dieser Zeit durch offen rassistische Abwertung gekennzeichnet. »Vermöge ihres Lebens und ihrer Einkommensart werden sie sehr häufig straffällig«, informierte etwa der »Polizeikalender 1971 – Handbuch und Nachschlagewerk für den Polizeibediensteten« seine uniformierte Leserschaft unter Z wie »Zigeuner«. Dabei bemühte sich das von der Deutschen Polizeigewerkschaft herausgegebene Buch sogar um scheinbare Liberalität: »Es soll jedoch auch einwandfreie Zigeuner geben.«

Wie unfassbar zynisch: Auf eine Tatsachenbehauptung ohne Belege folgte ein Satz in der Möglichkeitsform – nicht kriminelle »Zigeuner« kannten die Autoren offenbar nur vom Hörensagen.

Den notwendigen Kampf gegen solche jahrhundertealten Vorurteile, gegen Alltagsdiskriminierung und für Chancen- und Rechtsgleichheit führen zahlreiche Roma-Interessenvertretungen noch heute. Die größte transnationale ist weiterhin die IRU, heute eine anerkannte Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Beobachterstatus bei der Uno und Mitgliedschaft in der Unesco. Seit 1990 erinnert sie mit dem Internationalen Roma-Tag an den ersten, kleinen Kongress am 8. April 1971, der zum Katalysator einer weltweiten Bürgerrechtsbewegung werden sollte.

Die wirkte auch in Deutschland. 1982 entstand hier mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma eine kraftvolle Interessenvertretung. Im selben Jahr erkannte die deutsche Regierung auch erstmals den Völkermord an den Roma im »Dritten Reich« an. Bis zur Anerkennung der Roma als nationale Minderheit vergingen dann allerdings noch einmal 13 Jahre: Erst seit 1995 gilt auch offiziell, dass die Roma, die seit etwa 700 Jahren hier leben, irgendwie doch zum Land gehören.

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