
Skandalfilme: Sex, Gewalt und SED
Skandalfilme Chaos im Kinosaal
"Ich habe eine Bombe gelegt, um 'Baby Doll' in die Luft zu jagen", schrie der Anrufer in den Telefonhörer. Dann legte er auf. Die Polizei von Hartford, Connecticut, evakuierte an diesem Abend im Januar 1957 umgehend 1500 Menschen aus dem örtlichen Kino und begann mit der Suche nach dem Sprengsatz. Sie fanden jedoch "nichts Explosives außer dem Film selbst", wie das "Time Magazine" später schrieb.
"Baby Doll" war das neueste Werk von Elia Kazan. Zuvor hatte der Regisseur mit "Endstation Sehnsucht" und "Jenseits von Eden" Marlon Brando und James Dean zu Kino-Ikonen gemacht. Nun war er für den bis heute vermutlich größten Skandal der US-Filmgeschichte verantwortlich.
Auch in anderen Städten mussten in den nächsten Wochen Kinosäle wegen Bombendrohungen geräumt werden. Demonstranten belagerten Lichtspielhäuser, die "Baby Doll" zeigten. Katholiken legten in Gottesdiensten gemeinschaftlich Gelübde ab, sich den "Sündenqualen dieses Films nicht auszusetzen". Und in Providence, Rhode Island, griff die Polizei selbst zur Schere und erlaubte nur eine von den Ordnungshütern persönlich geschnittene Fassung. Insgesamt sollen rund 20 Millionen Amerikaner den Film boykottiert oder sogar aktiv gegen seine Aufführung protestiert haben. "Es ist gut möglich", goss das "Time Magazine" Öl ins Feuer, "dass 'Baby Doll' der schmutzigste amerikanische Film ist, der je vorgeführt wurde."
Der Skandalfilm in den Köpfen der Zuschauer
Kazan erzählt in seinem Werk die Geschichte eines erfolglosen Baumwollfarmers, der mit einer blonden Lolita verheiratet ist. Ihrem Vater musste er bei der Hochzeit versprechen, nicht vor dem 20. Geburtstag des Mädchens mit ihr zu schlafen. Dann wirft sich die ebenso dümmliche wie verschlagene Kindfrau einem anderen Mann an den Hals. Kazan macht aus dieser Dreieckskonstellation eine bittere Südstaaten-Sozialstudie voller schlüpfriger Anspielungen. Doch was daran erzürnte die Menschen? Schockierte der Film mit einer freizügigen Sexszene? Eskaliert das Ehedesaster in einer brutalen Vergewaltigung? Endet die tragische Geschichte in einem blutigen Racheakt? Nichts dergleichen. Niemand stirbt, Baby Doll behält ihre Unschuld, nicht einmal eine Nacktszene gibt es.

Skandalfilme: Sex, Gewalt und SED
Stattdessen verurteilte die Öffentlichkeit "Baby Doll", weil er sich "fast ausschließlich mit fleischlichen Anzüglichkeiten" beschäftige und die Untreue einer minderjährigen Frau nahelege. Nicht dem Film auf der Leinwand wurde der Prozess gemacht, sondern dem, der in den Köpfen der Zuschauer womöglich ablaufen könnte.
Solche Aktionen der Empörung sind in der Filmgeschichte keine Seltenheit. Immer wieder wurden Werke verteufelt, Kinos demoliert, Verbote gefordert. Der Filmwissenschaftler Stefan Volk hat nun eine Historie der Bewegtbild-Provokation vorgelegt. In seinem Buch "Skandalfilme - Cineastische Aufreger gestern und heute" versammelt er eine Auswahl von Filmen, die heftige Proteste auslösten.
"Hurerei und Selbstmord" - die Ideale eines Volkes?
Nicht immer ist sofort nachvollziehbar, warum ein Werk die Zuschauer zu seiner Zeit derart in Aufregung versetzte. Detailliert untersucht Stefan Volk daher die Geschehnisse, zitiert Quellen und zeichnet so Film für Film und Jahrzehnt für Jahrzehnt ein Bild von den Umständen, in denen sich Missmut von Zuschauern zum Skandal auswachsen konnte. Dabei zeigt sich, dass der Wirbel um die Werke oft mehr über die Gesellschaft erzählt als die Filme selbst.
In Willi Forsts "Die Sünderin" von 1951 zumindest war es nicht, wie heute oft angenommen, der Busenblitzer der jungen Hildegard Knef, der Kirche und Staat auf den Plan rief und Tausende Bundesbürger zu Demonstrationen auf die Straße trieb. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) kritisierte damals, dass die Protagonistin "die Prostituierung als einen selbstverständlichen Ausweg aus ihrer menschlichen und wirtschaftlichen Notlage wählt". Zudem sorgte man sich darum, dass die Sterbehilfe und der Selbstmord am Ende der Geschichte als normal dargestellt würden und Anreiz zur Nachahmung geben könnten.
Die Polizei verhängte Vorführverbote, Priester stürmten Kinosäle mit Stinkbomben. "Hurerei und Selbstmord! Sollen das die Ideale eines Volkes sein?", fragte ein von Politikern verteiltes Flugblatt und brachte die Ängste im Nachkriegsdeutschland auf den Punkt: Forsts leidlich gelungener Streifen verunsicherte eine Gesellschaft, die wenige Jahre nach Weltkrieg, Holocaust und Faschismus auf der Suche nach einer neuen moralischen Identität war.
"Der schweinischste Film aller Zeiten"
Wenn sich aber die Zeiten ändern, ändert sich auch der Blick auf den Skandalfilm von einst. Dies erlebte der spanische Regisseur Luis Buñuel. 1930 hatte er mit seinem surrealistischen Film "Das goldene Zeitalter", einer Kampfansage an bürgerliche und christliche Werte, für Aufruhr gesorgt. Bei einer Vorstellung etwa bewarf eine Gruppe von Protestlern die Leinwand mit Tintenfässern, riss Sitze aus der Verankerung und ging schließlich mit Knüppeln auf die anderen Zuschauer los. Als nächstes nahmen sie sich die surrealistischen Kunstwerke vor, die im Foyer ausgestellt waren. Sie zerstörten dabei Bilder von Dalí, Miró, Max Ernst und Man Ray.
1966 wurde der Film im Rahmen einer Retrospektive erneut vorgeführt. Buñuel fast ein bisschen enttäuscht über die Reaktion des Publikums auf den Film, dessen letzte Einstellung ein Kreuz zeigt, an das die Skalps von Mädchen genagelt sind, die während einer Orgie von Adligen und Jesus persönlich geschändet wurden: "Kein einziger Protest, kein einziges Zeichen des Unbehagens. Die Leute fanden den Film sehr erheiternd." Aus dem revolutionären Aufschrei von einst war ein Filmklassiker geworden - was den Regisseur dazu veranlasste, in einem Interview das Ende des Skandalfilms zu verkünden.
Natürlich war das vorschnell. Andererseits setzte der bekannteste Skandalfilm der vergangenen Dekaden seinen Aufreger wohl lediglich zu Marketingzwecken ein. Eher amüsiert erinnert sich Stefan Volk daran, dass für die "Bild"-Zeitung "Basic Instinct" von 1992 der "schweinischste Film aller Zeiten" gewesen sei. Dabei wirkt die Verhörszene, in der Sharon Stone ihre Beine übereinanderschlägt und der Kinobesucher für einen Sekundenbruchteil sieht, dass sie unter ihrem Rock keinen Slip trägt, heute im Vergleich mit vielen anderen Werken nur noch wie ein platter Werbegag.
Das Skandalfilmrezept
Warum aber führt ein kurzer Blick unter die Gürtellinie eines Hollywood-Stars schon zum Eklat, Porno- oder Horrorstreifen aber bleiben ohne Medienecho? Volk stellt für die Zutaten eines Skandalfilm eins simple Formel auf: "Je höher der soziale Status eines Films, je prominenter seine Besetzung, sein Regisseur, je höher sein Kunstwert gehandelt wird, desto tiefer kann er fallen." Und: "Je bekannter ein Film ist, desto schneller wird er zum Skandal."
Skandalfilme: Cineastische Aufreger gestern und heute
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02.04.2023 05.51 Uhr
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Deshalb wurde Pasolinis höllische Faschismus-Parabel "Salò oder Die 120 Tage von Sodom" von 1975 zeitweilig von der italienischen Regierung verboten, in Frankreich in Pornokinos abgeschoben und in Deutschland von vielen Kritikern auf das schärfste verurteilt. Der provokante US-Nischenstreifen "Ilsa - She Wolf Of The SS", der mit KZ-Sex und Erotik-Folterszenen durchaus das Potential zu einem weltweiten Skandal gehabt hätte, blieb dagegen unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung.
Und deshalb wurde die Kopie von Nagisa Oshimas "Im Reich der Sinne", der 1976, erstmals echten Sex außerhalb eines Pornofilms zeigte, damals auf der Berlinale beschlagnahmt. Dass die deutschen Kinos zeitgleich mit pseudoaufklärerischen Sexfilmchen à la "Schulmädchenreport" überschwemmt wurden, in denen unter anderem mehrfach minutenlang Vergewaltigungen von minderjährigen Mädchen nachgestellt wurden, schien hingegen vollkommen okay.
Am Ende von Stefan Volks Exkurs steht dennoch die Einsicht, dass es für einen Skandalfilm keine Blaupause gibt. Manche Werke schockieren scheinbar grundlos, während andere beim gezielten Versuch, einen Aufreger zu inszenieren, kläglich scheitern.