"Weltpokal-Massaker" 1969
Treten, bis der Arzt kommt
Es war eines der hässlichsten Fußballspiele der Geschichte. Estudiantes de La Plata kickte vor genau 50 Jahren im Weltpokalfinale gegen AC Mailand. Die blutige Strategie der Argentinier: einschüchtern und zerstören.
Blut schießt Nestor Combin aus einer Wunde knapp unter dem Auge und hinterlässt dunkelrote Flecken auf seinem weißen Baumwolltrikot. Halb bewusstlos liegt er am Spielfeldrand im Stadion La Bombonera, der "Pralinenschachtel" von Buenos Aires. In seinen Ohren das Kreischen und Klatschen von 45.000 Zuschauern. Über ihn beugt sich jetzt Domingo Massaro. Der chilenische Schiedsrichter hat längst die Kontrolle verloren und fordert Combin zum Aufstehen auf, damit die Partie weitergehen kann.
Es ist der 22. Oktober 1969, im Weltpokalfinale treten die argentinischen Estudiantes de La Plata gegen den AC Mailand an. Für Mailand stürmt Nestor Combin, 28, gebürtiger Argentinier. Aufstehen kann er nicht mehr. Joch- und Nasenbein sind gebrochen, zerschlagen von seinen Gegenspielern Alberto Poletti und Ramón Aguirre Suárez, die an diesem Tag agieren wie in einem Fußball-Krieg (wenige Monate nachdem ein Länderspiel zwischen El Salvador und Honduras zu einem echten Krieg geführt hatte).
Combin wird ohnmächtig, Helfer schleppen ihn auf einer Trage in die Katakomben - wo er gleich von zwei Polizisten wegen Wehrdienstverweigerung verhaftet wird. So hässlich wie an diesem Tag, dem zehnten Weltpokal-Finale der Geschichte, war Fußball noch nie.
Niedergestreckt und angespuckt
Nicht mal 1966, als das Drama in der Pralinenschachtel seinen Ausgangspunkt hatte: Nachdem England das WM-Viertelfinale gewann, bezeichnete Nationaltrainer Alf Ramsey die Mitglieder der argentinischen Tretertruppe fassungslos als "Tiere" und legte damit das Fundament für eine langjährige Feindschaft zwischen argentinischen und europäischen Mannschaften.
Nicht mal 1967, als sich Celtic Glasgow mit Racing Club aus Buenos Aires im entscheidenden dritten Spiel des Weltpokalfinales in Montevideo eine Keilerei mit insgesamt fünf Platzverweisen lieferte. Kurz vor Anpfiff war der Unparteiische von einer aus dem Publikum geworfenen Flasche getroffen worden.
Und auch nicht 1968, als Estudiantes und Manchester United herausfinden wollten, wer die beste Vereinsmannschaft des Planeten stellt. Carlos Bilardo, der später als Trainer Argentiniens Nationalmannschaft zum WM-Titel 1986 führen sollte, trat im Mittelfeld erbarmungslos um sich. Vor allem ihn meinte United-Trainer Matt Busby damit, dass seine Spieler sich in Lebensgefahr begeben hätten, "sobald sie nur für einige Sekunden den Ball hielten".
Schon im Hinspiel war Nobby Stiles, seit dem WM-Sieg 1966 selbst als "Hard Man" berüchtigt, hartnäckig mit Tritten, Schlägen und Kopfstößen bearbeitet worden, bis er selbst kurz die Contenance verlor und dafür - Ironie der Partie - vom Platz gestellt wurde. Im Rückspiel in Manchester präsentierten sich auch die Briten hart, aber nicht fair: Angesichts der drohenden Niederlage und sicher zudem aus Frust über die Spielweise des Gegners schlug Uniteds Superstar George Best seinen Kontrahenten José Hugo Medina erst nieder und spuckte ihn dann an.
Aufwärmprogramm: Gegner abschießen
"Estudiantes' Weg zum Erfolg: einschüchtern und zerstören", befand die Zeitung "Guardian". So war es auch 1969. Das Hinspiel hatten die Mailänder mit 3:0 gewonnen und wollten ihren Vorsprung nun im La Bombonera verteidigen. Im interkontinentalen Vergleich spielten die "Studenten" aus La Plata alles andere als akademisch.
Was ihre Leidenschaft für Fußball angeht, sind Argentinier nicht normal. Die Serie der Gehässigkeiten begann lange vor dem Anstoß: Schon beim Einlaufen ins Stadion bewarf das ekstatische Publikum die Italiener mit Münzen und heißem Kaffee. Estudiantes Aufwärmprogramm bestand darin, die Gäste mit Bällen abzuschießen. Was die geschockten Mailänder nicht wissen konnten: Vor der Partie hatten die argentinischen Fußballer Besuch von Vertretern des Militärs bekommen. Die verkündeten die Parole des Tages - "siegt oder sterbt".
Elf Traumtreffer: Goooooal! Die größten Tore aller Zeiten
So hat es jedenfalls Torwart Alberto Poletti 2005 erzählt. Und er sorgte nach gut 30 Minuten für den ersten negativen Höhepunkt: Nach seinem Führungstreffer wurde Milans Superstar Gianni Rivera gleich mehrfach von Poletti niedergeschlagen. Kurz darauf musste Riveras Sturmpartner Pierino Prati nach einem brachialen Zweikampf mit Gehirnerschütterung ausgewechselt werden. Einschüchtern und zerstören - zumindest in dieser ersten Halbzeit hatte Estudiantes damit Erfolg, zur Pause stand es 2:1 für die Gastgeber.
Auch nach Wiederanpfiff hatten die Argentinier mehr Schaum vorm Mund als Gold im Fuß. "Als sie merkten, dass sie ihren Titel nicht verteidigen würden, verteilten sie Schläge und Tritte, sobald sich der Schiedsrichter umdrehte", berichtete Mailand-Rechtsverteidiger Angelo Sormani, "es war ein Massaker, wie ich es noch nie erlebt habe." Für Karl-Heinz Schnellinger, den Deutschen in Diensten der Italiener, waren diese 90 Minuten "die schrecklichsten meines Lebens. Gegen alles, was sich bewegte, traten und boxten die Argentinier".
"90-minütige Menschenjagd"
Hauptangriffsziel war Nestor Combin, als Sohn französischer Einwanderer in Las Rosas geboren. Er wurde als "Verräter" gebrandmarkt, weil er Argentinien mit 19 verlassen, die französische Staatsangehörigkeit angenommen und sogar acht Spiele für die Équipe Tricolore bestritten hatte.
Es blieb jedoch beim 2:1, in der Gesamtbilanz gewann AC Mailand. Anstelle einer Siegerehrung donnerten die argentinischen Offiziellen den Pokal auf die Fliesen der Gästekabine. Combin war offiziell festgenommen und wurde im Krankenhaus behandelt; Italiener und Franzosen legten Protest gegen seine Verhaftung ein. Nach zwei Tagen ließ man Combin frei und nach Mailand fliegen. Der Spuk war vorüber.
Dieses schmutzige Spiel würdigten argentinische wie italienische Medien später als "Bombonera-Massaker" oder "90-minütige Menschenjagd", das Image des Weltpokals war schwer lädiert. Angestachelt von der internationalen Empörung forderte Argentiniens Diktator Onganía harte Strafen. Ramón Aguirre Suárez wurde für 30 Spiele gesperrt, Torwart Poletti lebenslang, er musste zudem für einen Monat ins Gefängnis. Beide Sperren wurden später aufgehoben.
Nur ein Jahr später stand Estudiantes de La Plata schon wieder im Finale des Weltpokals, diesmal gegen Feyenoord Rotterdam. Das von DDR-Schiri Rudi Glöckner geleitete Hinspiel in Buenos Aires endete 2:2, das Rückspiel entschied Brillenträger Joop van Daele in der 65. Minute mit dem 1:0 zugunsten der Niederländer. Den Treffer bezahlte er mit dem Verlust seiner Sehhilfe: Gegenspieler Oscar Malbernat riss ihm die Brille vom Gesicht und bearbeitete sie mit dem Stollenschuh.
Die zertretenen Gläser liegen heute im Feyenoord-Museum. Eine Erinnerung an die Jahre der Einschüchterung und Zerstörung.
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Niedergestreckt: Das Finale um den Weltpokal am 22. Oktober 1969 kam einem Massaker nahe. Der argentinische Klub Estudiantes de La Plata kickte gegen den AC Milan. Hier liegt Nestor Combin blutüberströmt auf dem Boden. Mailands Stürmer musste vorzeitig vom Platz, Gegenspieler hatten ihm das Joch- und Nasenbein gebrochen. Es war eines der hässlichsten Spiele der Fußballgeschichte.
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30 Tage Knast: Vielleicht hätte man Alberto Poletti heute als einen der erfolgreichsten Torhüter der südamerikanischen Fußballgeschichte in Erinnerung, wäre da nicht das Rückspiel um den Weltpokal am 22. Oktober 1969 gewesen. Für seinen skandalösen Auftritt, bei dem er unter anderem Gegenspieler Nestor Combin einen Kopfstoß verpasste, wurde Poletti nach der Partie auf Lebenszeit gesperrt und musste sogar für einen Monat hinter Gitter. Die Sperre wurde später wieder aufgehoben.
Foto: TopFoto/ ullstein bild
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Spieler des Jahres: Auch Mailands Stürmer Gianni Rivera gehörte zu Polettis Opfern. Nach Riveras Führungstreffer in der 30. Minute rächte sich der Torwart gleich mehrfach mit Schlägen an ihm. Kleiner Trost: Am Ende des Jahres wurde Weltpokal-Gewinner Rivera auch zu "Europas Fußballer des Jahres" gekürt.
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First Blood: Das erste Opfer des "Massakers von Buenos Aires" war allerdings Stürmer Pierino Prati, der nach einer heftigen Attacke mit einer Gehirnerschütterung ausgewechselt werden musste. Hier tragen ihn gerade von zwei Mannschaftskollegen vom Rasen. Der Deutsche Karl-Heinz Schnellinger (rechts) bezeichnete die Partie später als "die schrecklichsten 90 Minuten meines Lebens".
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Knockout: Auf einer Trage muss der verletzte Prati vom Feld getragen werden. Die Attacke gegen den Italiener wurde vom chilenischen Schiedsrichter Domingo Massaro übrigens genauso wenig geahndet wie die ungezählten übrigen Vergehen der argentinischen Gastgeber. Argentinische wie italienische Medien würdigten das Spiel später als "Bombonera-Massaker" oder "eine 90-minütige Menschenjagd".
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Böser Junge: Estudiantes-Verteidiger Ramon Aguirre Suárez hatte schon vor der Partie seinen Ruf als harter Hund weg, nach dem Spiel musste er für seine Tätlichkeiten ebenso wie Torwart Poletti gar in den Knast. Mit einem Ellenbogenschlag hatte er Mailands Nestor Combin das Jochbein gebrochen und den Kiefer ausgerenkt.
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Nachspiel: Selbst argentinische Zeitungen gingen hart mit dem Verhalten der Estudiantes-Akteure ins Gericht. Diktator Juan Carlos Onganía forderte harte Strafen für die Sündenböcke (hier begleiten Polizisten nach dem Schlusspfiff Abwehrmann Oscar Malbernat Richtung Katakomben).
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Für eine Handvoll Gold: Nestor Combin (links) erwischte es doppelt hart. Der in Argentinien geborene, aber nach Frankreich ausgewanderte Angreifer wurde noch in der Kabine wegen vermeintlicher Wehrdienstverweigerung festgenommen und erst nach zwei Tagen freigelassen. Statt nachträglich seinen Militärdienst für Argentinien zu leisten, durfte der immer noch schwer lädierte Stürmer mit seinen Kollegen (hier Pierino Prati) den hart erkämpften Gewinn des Weltpokals feiern. Combin spielte noch bis 1976 aktiv Fußball für französische Vereine und arbeitete später als Scout für Montpellier HSC.
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Was zuvor geschah: Seinen Ausgangspunkt hatte das Drama im Stadion La Bombonera, der "Pralinenschachtel" von Buenos Aires, bereits drei Jahre zuvor. Denn 1966 führte Trainer Sir Alf Ramsey (Foto) England 1966 zum lang ersehnten WM-Titel. Und urteilte nach dem knüppelharten Viertelfinale gegen Argentinien, einige der Spieler hätten sich "wie Tiere" aufgeführt. Eine Einschätzung, die Argentinier ihm und dem Rest der europäischen Fußball-Welt sehr übelnahmen.
Foto: Photopress/ AP
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Fünfmal Rot: 1967 gab es im Weltpokal-Finale zwischen Celtic Glasgow und dem argentinischen Racing Club wüste Keilerei. Nach einem 1:0 im Glasgower Hampden Park und einem 2:1-Erfolg für die Gastgeber in Avellaneda musste der Weltpokal auf neutralem Boden in Montevideo entschieden werden. Die Partie artete in eine derartige Treterei aus, dass Schiedsrichter Rodolfo Pérez Osorio zwei Argentinier und drei Schotten vom Platz schmiss. Endstand: 1:0 für Racing Club.
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Der große Ekel: Ein Jahr später standen sich Manchester United und Estudiantes de La Plata gegenüber, das Hinspiel in Buenos Aires verloren die Engländer mit 0:1. United-Coach Matt Busby befand nach all den kleinen und großen Gemeinheiten, die Partie sei die "ekelerregende Karikatur eines Fußballspiels" gewesen.
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Rotz und Wasser: Doch auch Manchester präsentierte sich nicht wirklich als guter Gastgeber. Beim 1:1-Unentschieden, das Estudiantes im Rückspiel zum Sieger machte, boxte George Best seinen Gegenspieler José Medina (auf dem Bild untergehakt) kurz vor Schluss nieder, wurde gemeinsam mit dem Argentinier vom Platz gestellt und spuckte seinem Kontrahenten auf dem Weg in die Kabine noch ins Gesicht.
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The show must go on: Trotz erheblicher Proteste der europäischen Vereine wurde der Weltpokal auch 1970, im Jahr nach dem Skandalspiel ausgetragen. In zwei Finalspielen konnte sich Feyenoord Rotterdam (hier vertreten durch Kapitän Rinus Israël, zweiter von rechts) gegen Estudiantes de La Plata durchsetzen, das erneut das Endspiel erreicht hatte. Weil es in den Folgejahren immer wieder zu äußerst harten Begegnungen mit den Siegern der südamerikanischen Copa Libertadores kam, fanden 1975 und 1978 überhaupt keine Spiele statt. Erst 1980 rettete ein japanisches Autounternehmen den interkontinentalen Vergleich und ließ die Spiele von 1980 bis 2001 einfach in Tokio stattfinden.