
Spektakulärer Farbfilmfund: König vor der Kamera
Spektakulärer Farbfilmfund König vor der Kamera
London im Ausnahmezustand: Die Hauptstadt des britischen Empire feiert die Krönung eines neuen Monarchen, König Georg VI. Welsh Guards in grellroten Röcken und den charakteristischen Bärenfellmützen marschieren an diesem 12. mai 1937 in langen Reihen durch die Straßen, ebenso australische Soldaten mit Buschhüten. Ein Tourist filmt mit seiner kleinen Acht-Millimeter-Kamera am Hyde Park die Krönungsprozession. Die achtspännige Kutsche des neuen Königs rollt durch das Bild.
Mehr als 70 Jahre danach ist dieser einzigartige Farbfilm wieder aufgetaucht. Der deutsche Film- und Fotosammler Ralf Klee erstand bei einer Auktion im Internet fünf Schmalfilmrollen - von denen sich zwei als Colorfilme entpuppten. Ein kleiner Schatz, denn farbiges Zelluloid war für Filmamateure 1937 noch nicht lange auf dem Markt. Nur wenige betuchte Schmalfilmenthusiasten wie die Schauspielerin Marlene Dietrich konnten sich die teuren Filmrollen leisten - entsprechend wenig farbiges Material aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist heute noch erhalten. Von der Krönungszeremonie in London 1937 etwa lagern im Archiv des Londoner Imperial War Museums nur drei kurze Farbfilme, die andere Szenen zeigen.
Aber von wem stammen diese seltenen Aufnahmen? Wer war er oder sie? Was lässt sich über den Filmer über 70 Jahre nach der Entstehung dieser Aufnahmen noch herausfinden?
Wer ist der mysteriöse Farbfilmer?
Erste Hinweise auf den Urheber geben kleine, gummierte Aufkleber mit briefmarkenartigen Rändern, eine Art Vorkriegshaftnotizzettel. Auf ihnen ist mit akribischer Schreibschrift der Inhalt der Filmspulen dokumentiert: "Krönungsprozession in Farbe" steht da, "Schweden vom Zug aus" auf einer weiteren Schachtel.
Und es gibt die auf der Filmverpackung vorgedruckten Adressfelder. Die belichteten Zelluloidrollen wurden damals per Post zur Entwicklung an den Hersteller Eastman Kodak in Rochester im US-Bundesstaat New York geschickt - und anschließend von dort in der Originalverpacklung an den Absender zurückexpediert. Und so ziert vier der fünf kleinen gelben Schachteln mit dem dunkelgrünen Rand die Adresse: "Argilla Road, Ipswich, Mass." Darüber ein Name: "Yann de Pierrefeu".
Aber wer war Yann de Pierrefeu? Der zweite Farbfilm, aufgenommen in Schweden, lüftet den Schleier um den Autor wenigstens ein bisschen. Auf diesem Streifen tritt Pierrefeu selbst kurz vor die Kamera, an Bord eines Schiffes im Hafen von Göteborg. Gestochen scharf in ausgezeichnet erhaltenen Farbtönen ist ein kräftiger, gutaussehender Mann Anfang, Mitte 30 zu sehen, mit glatt zurückgekämmten Haaren, gekleidet in einen dreiteiligen Tweedanzug. Gefilmt wurde er wohl von seiner Frau, die in einer anderen Sequenz lachend im Bild zu sehen ist.
Der Graf aus Amerika
Es sind Bilder einer unbeschwerten Reise. Ein junges Ehepaar, das sich für einen besonderen Anlass aus Amerika in die alte Welt aufgemacht hat? Für Betrachter von heute schieben sich zwischen die idyllischen Sommerszenen schon Vorboten des kommenden Krieges: Im Hafen von Göteborg macht Pierrefeu auch Aufnahmen des Dampfers SS "Drottningholm", der fünf Jahre später von den Alliierten gechartert werden wird, um Diplomaten, Zivilisten und ausgetauschte Kriegsgefangene in die Heimat zurückzubringen.
Wer sich im Internet auf die Suche nach aussagekräftigen Quellen macht, die die Geschichte des Yann de Pierrefeu erzählen, muss lange stochern. Viel mehr als Hinweise auf einzelne Stücke aus einem 2008 versteigerten Nachlass finden sich nicht: Kinderbücher etwa, aber auch weitere Amateurfilme. Doch mit etwas Geduld beginnt Puzzlestück um Puzzlestück ein Bild zu entstehen.
Yann de Pierrefeu wird 1905 geboren. Sein Vater ist ein französischer Graf, Comte Alain de Pierrefeu, der eine Amerikanerin geehelicht hat. Elsa Tudor war die Enkelin des legendären "Eiskönigs" von Boston, Frederic Tudor, der Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vermögen mit dem Export von Eis der Seen Neuenglands in die Karibik gemacht hatte. Neues Geld aus USA vermählt sich hier Anfang des 20. Jahrhunderts mit altem Adel aus Europa in einer zukunftsträchtigen Symbiose. Deren sichtbare Frucht wird bald der kleine Yann.
Tod als Sanitäter
Die Pierrefeus leben offenbar zunächst in Chicago, jedenfalls arbeitet der Graf in der Metropole am Lake Michigan für die United States Steel Corporation. Doch als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht kehrt Alain de Pierrefeu ohne Zögern nach Frankreich zurück, um mit seinem alten Regiment gegen die deutschen Invasoren zu kämpfen. Seine amerikanische Frau folgt ihm; als Oberschwester arbeitet sie in einem Rot-Kreuz-Lazarett in Dinard. Alain de Pierrefeu wird bei den Grabenkämpfen im Winter 1914/15 verwundet, doch nach seiner Genesung kehrt er als Sanitäter zurück an die Front. Im Mai 1915 wird er "während seines Dienstes in einem Rot-Kreuz-Krankenwagen getötet", wie die "New York Times" am 25. Mai 1915 vermeldet.
Yann wird so mit zehn zur Halbwaise. Seine Mutter kehrt in die USA zurück und widmet sich fortan ihren freigeistigen und spirituellen Neigungen. Sie führt einen jahrzehntelangen Kampf für einen weltweiten Gebetstag, der alle Religionen einen soll, korrespondiert mit Mahatma Ghandi und anderen geistlichen Führern der Epoche. Ihre Briefe finden sich heute in den verschiedensten Archiven zu finden.
Yann hat von dieser Ader seiner Mutter wenig abbekommen, er durchläuft die klassischen Bildungsstationen der amerikanischen Ostküsten-Elite: das Internat Groton in Connecticut, anschließend Harvard. Aus Yann de Pierrefeus Studienzeit an der berühmten Universität in Cambridge, Massachusetts, ist ein Tagebuch überliefert, das ebenfalls kürzlich im Netz versteigert wurde. Darin gibt der 22-Jährige zu Protokoll, was ihn an- und umtrieb. "Harvard ist nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte", notiert er dort am 23. Januar 1927, "zu viel Arbeit - zu wenig Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen".
"Dachte an Sex und Ellen"
An welcher Art zwischenmenschlicher Beziehungen er besonders interessiert ist, zeigt ein Eintrag am Heiligabend 1927: "Dachte an Sex und Ellen, als ich heute morgen aufwachte." Kurz zuvor hatten Yanns Gedanken dabei noch einer anderen gegolten: "Ich liebe Charlotte, ich merke jetzt, was für ein Trottel ich war", heißt es am 3. März in dem Notizbuch: "Charlotte hat schöne Hände - so anders als Ellens männliche Hände."
Dennoch heiratet Yann de Pierrefeu drei Jahre später Ellen, nicht Charlotte. 1931 wird der gemeinsame Sohn Alain geboren. Ellen Hemmenway Taintor, verheiratete de Pierrefeu, ist vermutlich die Frau, die in dem zweiten Farbfilm aus Göteborg zu sehen ist - ein Mädchen aus bestem Bostoner Hause, wie die elterliche Adresse in der Beacon Street 149 nahelegt. Auch ist eine halbjährige Bildungsreise dokumentiert, die Ellen 1923/23 mit ihren Eltern nach Japan, Korea, China und Indien unternahm. Von dieser ereignisreichen Fahrt inklusive Erdbeben und einem Blick auf den Kaiser von Japan wurde im Internet ebenfalls ein Tagebuch angeboten.
Die Pierrefeus sind also nicht mehr in den Flitterwochen, als sie 1937 Europa besuchen. Wie es scheint, führten Yann und Ellen das angenehme Dasein von Erben, die sich ohne materielle Sorgen ganz ihren Neigungen verschreiben konnten. Yann isst fast nie Uuhause, sondern meist in den schicken Restaurants von Boston und Umgebung, dem Café Rouge oder dem Ritz etwa, dem Hart House in Ipswich an der North Shore von Boston, wo die de Pierrefeus wohnen, oder im White Gull in Gloucester.
Geschichte vor der Linse
Und sie reisen gern. In den Dreißigern, so lässt sich nachlesen, besuchen sie außer Europa auch Kuba, Jamaika und Mexiko. Yann, der sein Harvard-Studium nicht zum Abschluss gebracht hat, sieht sich selbst als Autor, Historiker und vor allem als Fotograf - ein Zeitbeobachter, der in Wort und Bild festhält, was um ihn herum vor sich geht. Und auch das relativ junge Medium Schmalfilm setzt er mit Begeisterung und sogar einem gewissen Können ein. Die hohen Kosten für die raren Farbfilme sind für ihn das kleinste Problem.
Zur Krönung von König George VI. kommt dann im Mai 1937 alles zusammen - die Aussicht, Zeuge eines historischen Moments zu werden, die Reiselust, die Filmbegeisterung. Schon auf der Zugfahrt nach London dreht Yann de Pierrefeu aus dem Abteilfenster; im Film fliegen englische Vorkriegslandschaften vorbei. Es sind Bilder tief aus der Vergangenheit, aber heute noch so frisch, als seien sie erst gestern entstanden. Das riesige Kohlekraftwerk von Battersea taucht auf, damals erst wenige Jahre in Betrieb.
Als Höhepunkt bekommt der Amateurfilmer tatsächlich den neuen König vor die Linse, Georg VI. in seiner Staatskalesche. Es ist ein wahrhaft historisches Datum. Denn eigentlich sollte an diesem Tag Georgs älterer Bruder Edward zum König von England gekrönt werden, doch der hatte wegen seiner Liebesbeziehung zur geschiedenen Amerikanerin Wallis Simpson auf den Thron verzichtet. Nun, während Yann de Pierrefeus kleine Kamera surrt, scheint der Skandal vergessen; das britische Commonwealth feiert und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.
Zerstreutes Erbe
Nur etwas mehr als zwei Jahre später wird Großbritannien Nazi-Deutschland den Krieg erklären, Bomben werden auf London fallen. Georg VI. stirbt 1952. Seine älteste Tochter Elisabeth II. regiert bis heute.
Was aus den Zeitzeugen Yann und Ellen de Pierrefeu geworden ist? Die Spur lässt sich vorerst nicht bis an ihr Ende verfolgen. Womöglich wird sich die Geschichte der beiden auch nie mehr ganz erzählen lassen. Ihre Hinterlassenschaft, die seit den späten Dreißigern unbeachtet in Depots lagerte, ist zwar wieder an das Licht der Öffentlichkeit gelangt. Aber Fotos, Tagebücher, Filme der Pierrefeus werden nun endgültig auseinandergerissen und buchstäblich in alle Welt zerstreut.
Rund zwei Dutzend weitere Schmalfilme von Yann de Pierrefeu sind mittlerweile versteigert worden, seit Sammler Ralf Klee seine fünf Filme erwarb. Über sein Schnäppchen kann er sich nur teilweise freuen: "Ein ganzes filmisches Leben ist so auseinandergerissen worden", bedauert er. Seine Hoffnung ist, dass vielleicht auch diese Filme von Yann de Pierrefeu irgendwann öffentlich gezeigt werden - und vielleicht noch das eine oder andere Geheimnis preisgeben.