Um zu erklären, wie Winston Churchill die Welt sah, muss man die Geschichte mit den drei Streichhölzern erzählen. Sie trug sich 1943 in Teheran zu, als dort die "Großen Drei" der Anti-Hitler-Koalition zusammentrafen: der Kreml-Diktator Josef Stalin, US-Präsident Franklin D. Roosevelt und eben Churchill, damals britischer Premierminister.
Es ließ sich bereits absehen, dass Stalin nach dem Sieg über das "Dritte Reich" einen Teil Polens seiner Sowjetunion einverleiben wollte, und damit stand Churchill vor einem Dilemma. Schließlich war Großbritannien in den Zweiten Weltkrieg gezogen, weil Hitler Polen überfallen hatte, und nun wollte ausgerechnet Churchills Verbündeter Stalin die territoriale Integrität Polens verletzen.
Aber da die Rote Armee nun einmal die Hauptlast der Kämpfe gegen die Wehrmacht trug, mochte der Premier den Wunsch nicht abschlagen und sann auf Kompensation für seine polnischen Schützlinge. Er nahm daher drei Streichhölzer und legte sie nebeneinander auf den Tisch; je eines für die Sowjetunion, Polen und Deutschland. Verrückte er die Sowjetunion zu einer Seite (nach Westen), schob er die zwei anderen Hölzer vor sich her. "Das amüsierte Stalin, und in dieser Stimmung gingen wir einstweilen auseinander", erinnerte sich später der Brite an seine anschauliche Demonstration der Westverschiebung Polens, aus der die heutigen Grenzen Deutschlands und Polens hervorgegangen sind.
Politik am Reißbrett: Staaten verschieben, Grenzen neu ziehen und dann die Menschen umsiedeln, denn natürlich mussten die Polen aus jenen Gebieten verschwinden, die an die Sowjetunion kamen. Und die Deutschen in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien hatten zu weichen, weil diese Teile Ostdeutschlands an Polen fielen. Heute würde man so etwas ethnische Säuberungen nennen, und es zählt zu den großen PR-Coups Churchills, dass er Zeitgenossen wie der Nachwelt den Eindruck vermittelte, er sei ein Romantiker. Mitnichten.
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20.04.2021 06.28 Uhr
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Schließlich hat er doch selber überdeutlich ausgesprochen, was ihn umtrieb: "Das Britische Empire ist für mich das A und O. Was für das Empire gut ist, ist auch für mich gut; was für das Empire schlecht ist, ist auch für mich schlecht."
An dieses Bekenntnis hielt sich der etwas beleibte Brite mit dem Großen-Jungen-Gesicht Zeit seines Lebens, was bei seiner Herkunft und seinem Lebensweg nicht verwundert. Der 1874 geborene Monarchist stammte aus einer der bedeutendsten Familien Großbritanniens; ihr gehörte und gehört das prächtige Blenheim Palace bei Oxford, das zu den größten Schlossanlagen Großbritanniens zählt. Als junger Offizier war Churchill in Indien und dem Sudan im Einsatz; die Welt des Empires war seine Welt.
"Gegen unsere gesamte Geschichte"
In praktische Politik umgesetzt bedeutete die Regel des "Empire first": Großbritannien musste verhindern, dass eine Macht den europäischen Kontinent dominierte. Das hätten die Briten schließlich seit Jahrhunderten getan, schrieb Churchill einem Freund. Alles andere wäre "gegen unsere gesamte Geschichte" auch gegen die Tradition der eigenen Familie: Churchills berühmtester Vorfahre war der erste Herzog von Marlborough, der als britischer Heerführer einst verhindert hatte, dass die Franzosen das europäische Festland beherrschten.
Aus diesem Denken heraus kannte Churchill keine Freundschaften und auch nicht dauerhafte Feindschaften, sondern nur kühl erwogene Interessen. Im Laufe seiner mehr als ein halbes Jahrhundert dauernden Karriere wollte der Realpolitiker mal mit, mal gegen die Deutschen kämpfen, mal ging es mit, mal gegen die Sowjetunion.
Nach dem Ersten Weltkrieg galt zunächst die Devise: "Kill the Bolshie, kiss the Hun" ("Töte die Bolschewiken, küsse die Deutschen"). Churchill war damals ein aufstrebender junger Minister in London und schlug vor, mit den gerade besiegten Deutschen einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion zu führen, wozu es dann nicht kam.
Churchill warnt früh vor Hitler
Natürlich verabscheute er das Abschlachten des Adels in der Russischen Revolution und schimpft Lenin und Genossen "Vampire, die ihren Opfern das Blut aussaugen" (Capet 2). Doch wie er später dem sowjetischen Botschafter in London anvertraut, war sein Motiv ein anderes: "1919 glaubte ich, Ihr Land stelle die größte Gefahr für das Empire dar, und war deshalb damals ein Gegner Ihres Landes."
Als gut anderthalb Jahrzehnte später Hitler auf Expansionskurs ging, argumentierte Churchill dann, er sei "jetzt der Ansicht, dass Deutschland die größte Gefahr für das Empire ist, darum bin ich jetzt ein Gegner Deutschlands...". Und darum sei er nun "zur Zusammenarbeit mit den Sowjets bereit".
Von der britischen Regierung, der er damals nicht angehörte, forderte Churchill schon in den dreißiger Jahren, sich dem "Dritten Reich" in den Weg zu stellen: "Stoppt es! Stoppt es jetzt!!!" 1940 wurde der einstige Kommunistenhasser Premier und streckte Stalin nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 sofort die Hand entgegen.
Ein Nachkriegsmachtblock aus USA und Großbritannien?
Aufnahmen von den großen Kriegskonferenzen in Teheran und Jalta zeigen Churchill und Stalin im trauten Gespräch, was nichts daran änderte, dass Churchill nur der alten Regel der Realpolitik folgte, wonach der Feind des Feindes ein Freund ist.
Insgeheim glaubte er, das britische Weltreich werde gemeinsam mit den USA am Ende des Krieges den mächtigsten Machtblock bilden, den die Menschheit je gesehen hat. Und die zerstörte Sowjetunion werde vom Westen abhängig sein: "Sie werden unsere Hilfe mehr benötigen als wir ihre."
Doch 1945 war das Empire so gut wie pleite, die Rote Armee stand an der Elbe und Churchill fürchtete, "die Woge der sowjetischen Herrschaft (werde) 200 Kilometer vorwärts geschwemmt".
Das Zweckbündnis zwischen Churchill und Stalin endete de facto mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945; wenige Tage später gab der Premier bezeichnenderweise seinen Generälen den streng geheimen Auftrag, die Option eines britisch-amerikanischen Krieges gegen die Sowjetunion durchzuspielen mit der gerade besiegten Wehrmacht auf alliierter Seite. Kriegsbeginn: 1. Juli 1945.
Ein letzter, einsamer Versuch
Die Antwort auf die Frage, ob Churchill diese Idee ernsthaft verfolgt hätte, muss offen bleiben. Immerhin erhielt Feldmarschall Bernard Montgomery Order, die der Wehrmacht abgenommenen Waffen bereitzuhalten. Doch weder die Amerikaner noch die britischen Militärs wollten mitmachen. "Die Erfolgschancen sind minimal", notierte Armeechef Alan Brooke in seinem Tagebuch. Die Unterlagen zur "Operation Unthinkable" landeten im Archiv, und wurden erst vor wenigen Jahren freigegeben.
Churchill war beim Ende des Zweiten Weltkrieges 70 Jahre alt, und es fiel ihm erkennbar schwer, den Gedanken zu akzeptieren, dass sein geliebtes Empire den Zenit längst überschritten hatte.
Er wurde abgewählt, kehrte dann 1951 noch einmal für eine kurze Zeit als Premierminister in die Downing Street 10 zurück und bot der Welt das Bild eines alternden Mannes, der zu mancher Volte bereit war, soweit sie britischer Weltgeltung zu dienen schien. Die letzte Initiative: Ein Gipfeltreffen mit Amerikanern und Sowjets sollte den Kalten Krieg beenden, in dem die Briten nur die Rolle eines amerikanischen Juniorpartners spielen konnten.
Schon die Amerikaner winkten müde ab.
Im April 1955 trat Churchill erschöpft zurück. Der Mann und seine Idee hatten sich überlebt.
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Die "Großen Drei": Winston Churchill, links, Franklin D. Roosevelt, Mitte, und Josef Stalin während der Konferenz von Jalta vom 4. bis zum 11. Februar 1945.
Konferenz von Jalta: Josef Stalin, der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko, William Leahy, Edward Stettinius, Franklin D. Roosevelt, Averell Harriman, Alexander Cadogan, James F. Byrnes und Winston Churchill (von links) am 12. Februar 1945 während der Konferenz von Jalta. Außer militärischen und politischen Maßnahmen zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs vereinbarten die "Großen Drei" auf diesem Gipfeltreffen eine Neuordnung Europas - unter anderem die Aufteilung des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen, die Entmilitarisierung und Entnazifizierung Deutschlands und die Forderung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze.
Verbündete: Josef W. Stalin, links, und Winston Churchill im Gespräch auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945.
Luftschlacht um England: Britische Hawker-Jagdflugzeuge vom Typ "Hurricane" beim Start am 16. September 1940 während des Höhepunktes der Luftschlacht um England. Der Versuch der deutschen Luftwaffe, auf diesem Wege die Kapitulation Großbritanniens zu erzwingen, scheiterte schnell.
Truppenbesuch: Winston Churchill besucht am 25. Oktober 1940 in Schottland polnische Truppen. Hinter ihm steht John Dill, Vizechef des Imperialen Generalstabes. Polnische Soldaten kämpften auf Seiten der Alliierten an allen Fronten des Zweiten Weltkrieges von der Luftschlacht um England bis zur Invasion in der Normandie und in Italien.
Treuer Staatsmann: "Was für das Empire gut ist, ist auch für mich gut; was für das Empire schlecht ist, ist auch für mich schlecht", sagte Winston Churchill, hier mit Prinzessin Elisabeth am 22. März 1950 bei einem Dinner der Lord Mayor's National Thanksgiving Fund. Im Hintergrund sind Clement Attlee, Premierminister des Vereinigten Königreiches, und dessen Frau zu sehen.
Adeliger Spross: Winston Churchill (Foto von 1889) stammte aus einer der einflussreichsten Familien Großbritanniens. Sein Vater war der britische Politiker Lord Randolph Churchill, seine Mutter die amerikanische Millionärstochter Jennie Jerome. Sein Großvater väterlicherseits zählte als Herzog von Marlborough zum britischen Hochadel.
Junger Offizier: Von 1895 bis 1901 nahm Winston Churchill als Soldat und Kriegsberichterstatter an fünf verschiedenen Kolonialkriegen teil, als Offizier war er unter anderem im Sudan und in Indien im Einsatz.
Konferenz von Teheran: Der sowjetische Diktator Stalin, US-Präsident Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, der britische Premierminister,trafen sich 28. November bis zum 1. Dezember 1943 in Teheran, um ihr weiteres Vorgehen auf dem europäischen Kriegsschauplatz zu besprechen. Auf dem Rückweg erkrankte Churchill schwer - und die Modeschöpferin Coco Chanel musste ihren von Himmlers Reichssicherheitshauptamt unterstützen Plan aufgeben, den Briten-Premier zu treffen, um ihn zu Verhandlungen mit Deutschen zu bewegen.
Potsdamer Konferenz: Der britische Premierminister Winston Churchill, der amerikanische Präsident Harry S. Truman und der sowjetische Diktator Josef Stalin reichen sich während der Potsdamer Konferenz vor Schloss Cecilienhof die Hände. Auf der Konferenz, die am 17. Juli 1945 begann und mit der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens am 2. August 1945 endete, wurden die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze über die Behandlung des im Zweiten Weltkrieg besiegten Deutschen Reiches festgelegt.
Churchill und Montgomery: Der britische Premierminister Winston Churchill (stehend) besucht im Januar 1944 britische Truppen in Tripolis. Im Wagen sitzen vorne Bernard Montgomery, Befehlshaber der 21. britischen Heeresgruppe, hinten Oliver Leese, Kommandeur der 8. Britischen Armee.
Letzte Jahre eines Realpolitikers: Winston Churchill und Anthony Eden, sein Nachfolger im Amt des Premierministers, nach einem Mittagessen in der Downing Street No. 10 am 28. November 1955. Nach einem wiederholten Schlaganfall hatten Parteifreunde Churchill nahegelegt, seinen vorzeitigen Rücktritt zu erklären.
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