Übergabezeremonie in der Botschaft Australiens in Berlin, 2019: Ein Mitglied der Yawuru beim Tanz vor Kisten mit menschlichen Überresten, die in deutschen Sammlungen gelagert worden waren

Übergabezeremonie in der Botschaft Australiens in Berlin, 2019: Ein Mitglied der Yawuru beim Tanz vor Kisten mit menschlichen Überresten, die in deutschen Sammlungen gelagert worden waren

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Sean Gallup / Getty Images

Sammlungen aus der Kolonialzeit »Dass menschliche Überreste in Kartons und Kellern gelagert werden, ist unwürdig«

Schädel und Knochen, Gehirne und Organe: Deutsche Museen und Universitäten haben Leichen im Keller, vor allem aus der Kolonialzeit – Staatsministerin Katja Keul über »Human Remains« und den Kampf von Angehörigen für die Rückgabe.
Ein Interview von Elias Dehnen

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Auf bis zu drei Millionen wird die Gesamtzahl der sogenannten Human Remains in Europa geschätzt, viele davon in deutschen Museen und Hochschulen. In ihren Archiven und Anatomiesammlungen lagern Gebeine von Menschen, die oftmals Opfer von Völkermord und Grabschändungen wurden. Für Angehörige bleibt der Schmerz, ihre Ahnen nicht angemessen bestatten zu können – daher setzen sie sich seit vielen Jahren für Rückgaben ein.

SPIEGEL: Frau Keul, der SPIEGEL war mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth verabredet, nun sitzen wir der Staatsministerin im Auswärtigen Amt gegenüber. Rangeln da zwei Regierungsvertreterinnen, wer über Human Remains öffentlich sprechen darf?

Keul: Unsere Arbeitsaufteilung sieht vor, dass die Kulturstaatsministerin für die Kultur im Inland zuständig ist und ich für die Auswärtige Kulturpolitik. Es gibt keine strittige Kompetenzfrage. Natürlich gibt es Überschneidungen, aber bei den Themen Dekolonialisierung und Rückgaben hat das Auswärtige Amt eine wichtige Rolle, weil wir hier in enger Absprache mit den Herkunftsstaaten agieren.

SPIEGEL: Forscher ließen in der Kolonialzeit Gebeine aus dem Globalen Süden nach Deutschland bringen, um pseudowissenschaftliche »Rassenforschung« zu betreiben. Noch heute befinden sie sich zahlreich in deutschen Sammlungen. Wem gehören diese Human Remains?

Keul: Von »gehören« kann man hier gar nicht sprechen. Human Remains sind keine Kulturgüter, also geht es nicht um Eigentumsfragen. Dass menschliche Überreste in Kisten, Kartons und Kellern gelagert werden, ist unwürdig und völlig inakzeptabel. Das Thema hat viel zu lange im Hintergrund geschlummert. Unsere Verantwortung ist es, Rückgaben an die Herkunftsstaaten zu ermöglichen, sofern diese das wollen. Das ist manchmal nicht ganz einfach, weil wir Gespräche mit den jeweiligen Regierungen, aber eben auch mit lokalen Communitys führen müssen, mit Familien bis hin zu Individuen.

SPIEGEL: Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, dass der Schädel Ihres Urgroßvaters irgendwo in einem fernen Land in einer verstaubten Kiste liegt?

Keul: Der Gedanke ist schwer zu ertragen. Und für viele Communities etwa in Afrika und Australien ist er wohl noch unerträglicher, weil sie einen besonderen Bezug zum Ort ihrer Ahnen haben. Während es für mich vielleicht ausreichen würde, dass dieser Urgroßvater im Ausland ein Grab und einen Gedenkstein bekommt, sehen das betroffene Völker manchmal anders. Oft wollen sie ihre Vorfahren in die Heimat zurückbringen, um sie nach ihren Ritualen und Traditionen zu bestatten.

SPIEGEL: Dafür müssten sie ihre Vorfahren zunächst finden. Der Aktivist Mnyaka Sururu Mboro sucht seit 45 Jahren nach dem Schädel des Mangi Meli, eines Volkshelden aus Tansania, der von deutschen Kolonialisten geköpft wurde. Museen in Deutschland verwehrten Mboro immer wieder Informationen zu ihren Beständen. Sollten die Institutionen gesetzlich zu Auskünften verpflichtet werden?

Keul: Für die Herkunftsgesellschaften haben wir eine Kontaktstelle eingerichtet, über die sie Auskunft über ihre Vorfahren erhalten können, sofern es Informationen gibt. Das Hauptproblem liegt bei der tatsächlichen Umsetzung, nicht bei der Rechtslage. Anders als bei Kulturgütern gilt für Human Remains, dass die Institutionen sie schon länger zurückgeben wollen. Die Einrichtungen möchten das Problem lösen, wissen aber manchmal schlicht nicht, an wen sie sich wenden können. Auch Mnyaka Sururu Mboro wurde nach meiner Kenntnis umfangreich unterstützt bis hin zu DNA-Proben, die vorgenommen wurden. Leider konnte Mangi Meli bislang aber nicht identifiziert werden.

SPIEGEL: Kürzlich hat die Kontaktstelle für koloniales Sammlungsgut eine nationale Abfrage zu Human Remains aus kolonialen Kontexten in deutschen Institutionen durchgeführt. Nicht alle Einrichtungen haben kooperiert.

Keul: Es konnte eine große Auswahl an Institutionen angeschrieben werden. Die überwiegende Mehrheit war sehr kooperativ, bei Einzelnen müssen wir noch einmal nachhaken. Insgesamt hat uns diese Abfrage sehr vorangebracht, sodass wir jetzt eine konkretere Vorstellung über die Dimension haben. Das Ergebnis wird hoffentlich bald veröffentlicht.

SPIEGEL: Unklar ist, wie man bei der Digitalisierung der erhobenen Daten vorgehen soll, denn viele Bezeichnungen und Abbildungen werden heute als tief verletzend empfunden. Wie wollen Sie die Herkunftsgesellschaften einbeziehen?

Keul: Anders als bei Kulturgütern kann man Human Remains nicht einfach katalogisieren und digital ins Netz stellen. Wir müssen hier sehr sensibel agieren. Es gibt den Vorschlag, eine Art Ethikrat mit Expertinnen und Experten aus den Herkunftsgesellschaften einzurichten. Ich halte das für eine sehr gute Idee. Die Diskussion darüber wird zurzeit zwischen Bund und Ländern geführt. Es ist auch völlig klar, dass man trotz aller Bemühungen der Provenienzforschung einen Großteil dieser Human Remains nicht wird identifizieren können. Dann müssen wir in Deutschland eine angemessene ethische Lösung finden und können diese Schädel nicht weiter da lassen, wo sie jetzt sind.

SPIEGEL: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat immerhin mehr als 1000 Schädel aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika identifiziert und angeboten, sie nach Tansania, Ruanda und Kenia zurückzugeben. Wird Deutschland die Repatriierungen finanzieren?

Keul: Die Bundesregierung hat die Rückgabe schriftlich angeboten, wir haben jedoch bis heute noch gar keine Rückmeldung der ostafrikanischen Regierungen. Wir können also noch gar nicht wissen, wer was auf welchem Wege zurückhaben will. Ich habe das Thema vor Ort vorsichtig angesprochen, aber wir können uns doch nicht aufdrängen und sagen: »Gebt uns die Adresse, wo wir das Paket hinschicken können.«

SPIEGEL: Sie schieben die Frage der Finanzierung also auf?

Keul: Wenn es etwas zu finanzieren gibt, werden wir das klären. Ich kann nur für das Auswärtige Amt sprechen, aber auch die Bundesländer sind bei dieser Frage mit im Boot. Es sollte nicht an den Finanzen scheitern. Zunächst brauchen wir aber ein Signal der Herkunftsstaaten.

SPIEGEL: Ist es denn immer der richtige Weg, Rückgaben von Staat zu Staat zu organisieren? Nicht alle Communities, die ihre Vorfahren in die Heimat zurückbringen wollen, fühlen sich von ihren Regierungen repräsentiert.

Keul: Es wäre natürlich schön, wenn wir wie im Fall Australien feststellen, dass es vor Ort einen Konsens zwischen Communities und Regierung gibt, wie Repatriierungen organisiert werden. Für Ostafrika müssen wir im Einzelfall schauen, wie wir die Nachfahren einbinden können. Aber gegen den ausdrücklichen Willen des Herkunftsstaats zu agieren, ist für uns keine Option.

Deutsche Ministerinnen Roth und Baerbock, Nigerias Außenminister Geoffrey Onyeama im Dezember 2022 bei der Rückgabe von Benin-Bronzen

Deutsche Ministerinnen Roth und Baerbock, Nigerias Außenminister Geoffrey Onyeama im Dezember 2022 bei der Rückgabe von Benin-Bronzen

Foto: Annette Riedl / dpa

SPIEGEL: In Nigeria haben Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth öffentlichkeitswirksam 20 Benin-Bronzen zurückgegeben. Wie die Rückgabe der restlichen Bronzen finanziert werden soll, scheint aber völlig offen zu sein – wie auch bei zukünftigen Rückgaben von Human Remains. War der Auftritt in Nigeria eine Nebelkerze, um davon abzulenken, dass viele Fragen noch ungeklärt sind?

Keul: Im Falle der Benin-Bronzen haben wir die Finanzierung der Rückgaben schon geklärt. Wir finanzieren außerdem den Bau des Museums vor Ort in Benin City, wo die Benin-Bronzen ausgestellt werden können. Und auch die Eigentumsrückübertragung ist bereits erfolgt, sodass ich hier keine offenen Fragen sehe.

SPIEGEL: Viele Communities legen großen Wert darauf, vor Ort in Deutschland Rückgaben ihrer Vorfahren rituell zu begleiten. Vergangene Delegationsbesuche aus Hawaii, Australien und Neuseeland bezahlten die jeweiligen Regierungen. Wieso lehnt sich Deutschland hier zurück und lässt die Betroffenen zahlen?

Keul: Diese Staaten haben interne Strukturen und proaktiv entschieden, Delegationsreisen zu ermöglichen. Wir unterstützen diese Verfahren diplomatisch und organisatorisch. Wenn andere Staaten diese Strukturen noch nicht haben, wird man darüber sprechen müssen, wie wir Delegationsbesuche und Repatriierungen organisieren. Da gibt es noch keine festgefahrenen Wege, wir müssen diese Fragen jetzt neu klären.

SPIEGEL: Machen wir es konkret: Das Grassi-Völkerkundemuseum in Leipzig möchte jetzt 24 weitere Gebeine an Communities auf den Osterinseln zurückgeben, aber für den Transport und für einen Delegationsbesuch der Nachfahren fehlt das Geld.

Keul: Ich kenne den aktuellen Stand in diesem speziellen Fall nicht. In der Regel wäre dies Sache der Bundesländer, in diesem Fall also Sachsen.

SPIEGEL: Bund und Länder schieben sich gegenseitig die Verantwortung für Repatriierungen zu. Warum legt man hier Kompetenz und Abläufe nicht klar fest?

Keul: Ich bin dafür, dies festzulegen – wir arbeiten ja daran. Dafür müssen die Institutionen, die Bundesländer und der Bund zusammenkommen. Man wird das pro Region unterschiedlich entscheiden müssen. Ich kann nur nochmals sagen: An der Finanzierung wird die Rückgabe von Human Remains nicht scheitern.

SPIEGEL: Auch die Nachfahren der Aborigine-Frau Sussy Dakaro warten auf ein Signal der Bundesregierung. Dakaro wurde im 19. Jahrhundert auf rassistischen »Völkerschauen« im Zoo ausgestellt, starb in Wuppertal und liegt dort auf einem Friedhof begraben. Vom Auswärtigen Amt hieß es bisher, für einen Delegationsbesuch der Nachfahren sei man nicht verantwortlich.

Keul: Die Geschichte von Sussy Dakaro ist grauenvoll, und sie ist ein Sonderfall. Ihre Human Remains befinden sich nicht in einer Sammlung, sondern hier hat es im 19. Jahrhundert bereits eine Beisetzung im heutigen Wuppertal gegeben. Deshalb greifen auf der australischen Seite die üblichen Verfahren nicht. Ich bin im Kontakt mit den zuständigen Stellen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen, wo im Grassi-Museum eine Büste von Sussy Dakaro steht. Es ist unser gemeinsames Ziel, dafür zu sorgen, dass die Nachfahren möglichst bald nach Deutschland kommen können, um zu entscheiden, was mit den menschlichen Überresten und der Büste von Sussy Dakaro geschehen soll.

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