
Nachkriegsdeutschland: Robert Mulka in Hamburg
Stadtgeschichte Mein Nachbar, der KZ-Kommandant
Ich wohne in Hamburg, in einer schönen Straße nahe dem Zentrum. Die Mietshäuser in der Isestraße stammen von Anfang des vergangenen Jahrhunderts, ihre stuckverzierten Fassaden sind in Weiß oder Pastell gehalten, die Wohnungen dahinter meist weitläufig, mit hohen Decken. In der Mitte der breiten, von hohen Kastanien gesäumten Allee läuft ein grauschwarzer Viadukt, über den alle paar Minuten in Höhe der Beletage eine silbern-orangene Hochbahn vorbeirauscht. Ich mag das, es gibt der gediegenen Straße etwas sehr urbanes. Dienstags und Freitags ist Wochenmarkt entlang der hundert Jahre alten Hochbahnbrücke, dann swingt es hier: Rotbäckige Marktleute preisen Obst und Gemüse an, Akkordeonklänge russischer Straßenmusiker und der Duft von frisch frittiertem Fisch ziehen die Straße hinab. Beim Zuckerbäcker stehen die Kinder um Salmi-Lollies an und Damen gesetzten Alters um Buttertrüffel.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war hier ein Mittelpunkt bürgerlichen jüdischen Lebens in Hamburg. Der Volksmund nannte den Viadukt damals "Juden-Regenschirm". Mehrere Tempel und Synagogen und die jüdische Talmud-Tora-Schule lagen fußläufig. Ein paar hundert Meter von meiner Wohnungstür wurde am pittoresken Innocentiapark noch 1938 ein jüdisches Bethaus geweiht, vermutlich das letzte vor der Shoa. Heute ist das ehemalige jüdische Gottes- ein hanseatisch-gediegenes Wohnhaus.
Unter meinen Nachbarn - Anwälte, Ärzte, höhere Angestellte; "gebildetes" Publikum, wie man so sagt - gibt es viele aufgeklärte Menschen, die um die Geschichte unseres Viertels wissen und die sich für die Spuren dieser untergegangenen Welt interessieren. Als der Kölner Künstler Gunter Demnig 1997 begann, vor den Häusern ermordeter Juden als Erinnerung und Mahnung "Stolpersteine" mit den Lebensdaten der Opfer einzulassen, dauerte es nicht lange, bis auch bei uns die ersten Steine verlegt wurden. Neulich bin ich die ziemlich lange Straße einmal ganz auf- und einmal ganz abgegangen, und dabei habe ich die Stolpersteine vor den Haustüren gezählt. Ich kam auf einhundertdreiunddreißig.
Freitod am Elbstrand
Vor der Nummer 69 nehmen 16 kleine Messingplaketten fast einen halben Quadratmeter ein. Die Hälfte der Hausbewohner - deportiert in Gettos und Vernichtungslager, nach Minsk, Lodz, Riga, Chelmno. Die jüngste Verschleppte war fünf Jahre alt. Vor der Nummer 61 liegen 13 Stolpersteine, vor der Nummer 79 eben so viele, 12 vor der Hausnummer 67. Aus der 55 wurde der greise Dr. Isidor Fürst nach Theresienstadt geschickt, aus der Nummer 88 die kleine Penny Müller, deren Geburtsjahr 1941 auch ihr Todesjahr wurde.
Der erste Tote aus der Isestraße wohnte in der Nummer 23, Herbert Michaelis, ein jüdischer Anwalt und Kommunist. Er hatte gleich nach Beginn der NS-Herrschaft in einer Widerstandsgruppe mitgearbeitet, die Waffenlieferungen Hamburger Firmen ins Bürgerkriegs-Spanien im Ausland bekannt machen wollte. "Wie ein Hamburger Jude schweren Hochverrat trieb", titelte das "Hamburger Tageblatt" über den Fall. Einer von Michaelis' Mitverschwörern war Dagobert Biermann, der Vater des Dichters Wolf Biermann. Dagobert Biermann wurde 1944 in Auschwitz ermordet, Herbert Michaelis schon am 14. Juni 1939 in der Berliner Haftanstalt Plötzensee hingerichtet, noch vor Kriegsbeginn.
In der Isestraße 65 lebte das Ehepaar Wolff. "Freitod 18.7.1942" steht auf dem Stolperstein vor dem Haus. Welches Drama hat sich an jenem Tag hinter dieser Fassade abgespielt? Nur zufällig fand ich es heraus: Nachdem die Wolffs den Deportationsbefehl für den 19. Juli erhalten hatten, fuhren sie am Vorabend an die Elbe, legten sich dort in den Sand und nahmen Schlaftabletten. Die Flut nahm sie gemeinsam mit sich. Auch ihre Tochter und deren Lebensgefährte, die um die Ecke wohnten, schieden freiwillig aus dem Leben. Nur der Enkel Helmuth überlebte. Er wohnt heute noch im Viertel; sein genaues Geburtsdatum kennt er nicht. Erst vor kurzem kam heraus, dass Helmuth Wolff ein Cousin des Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust ist - ihre Großväter waren Brüder. Gemeinsam verlegten die beiden Männer im Juni 2006 Stolpersteine für ihre ermordeten Vorfahren im mecklenburgischen Lübtheen, aus dem die Familie stammt.
Aufpolierte Erinnerungen
Seit ich sie zählte, sind in der Isestraße schon wieder neue Stolpersteine dazu gekommen. Die frisch verlegten funkeln noch so neu, dass man sie nicht übersehen kann. Vor der Nummer 61 sind es jetzt 15 statt bisher 13. Es tut gut, zu sehen, wie viele heutige Bewohner den Irrsinn, der sich hier abspielte, nicht wegdrücken und ihren vergasten Vormietern ein eigenes memento mori setzen. Gelegentlich sehe ich auf dem Weg zur Arbeit, dass Hausbewohner das von Wetter und Schuhsolen stumpf gewordenen Messing der Stolpersteine wieder aufpoliert haben.

Nachkriegsdeutschland: Robert Mulka in Hamburg
Das ist eine schöne und irgendwie sehr angemessene Form der Erinnerung, denke ich dann. Und dass es wohl doch genügend Leute gibt hierzulande, die der drückenden Nazi-Vergangenheit nicht einfach nur ausweichen. Menschen, die Fragen stellen, Erinnerungen pflegen, Zeichen setzen. Vielleicht, schießt es mir dann manchmal durch den Kopf, sind wir in Deutschland doch ziemlich dicht dran an einem Umgang mit der Geschichte, wie man ihn sich eigentlich nur wünschen kann - nicht perfekt natürlich, aber doch differenziert und lebendig und lernfähig.
Spielerei mit Folgen
Dann hörte ich zum ersten Mal den Namen Robert Mulka.
Ich hatte ein wenig herumgegoogelt, eher aus diffusem Spieltrieb denn aus zielgerichtetem Wissensdurst. "Isestraße" und "Auschwitz", "Isestraße" und "Holocaust", solche Begriffspaare: den mir vertrauten, heimatlichen Straßennamen zusammen mit Chiffren für das Böse und Monströse. Mal sehen was rauskommt. Und so stieß ich irgendwie auf ihn.
Robert Mulka machte sich 1931 mit 36 Jahren in Hamburg als Außenhandelskaufmann selbständig. Im Hamburger Adressbuch von 1939 findet man den Sohn eines Postassistenten und Kriegsfreiwillligen von 1914/18 unter der Adresse Wendlohstraße 28 im Vorort Lokstedt-Niendorf. In Niendorf bin ich aufgewachsen; als Pennäler radelte ich auf dem Weg zum Fußballtraining gelegentlich durch die Wendlohstraße, meine Großeltern wohnten unmittelbar um die Ecke. Es ist ein unspektakulärer Stadtteil, ein dicht besiedeltes Hamburger Subzentrum, dessen Dorfstraße in den Siebzigern Fußgängerzone wurde. Keine Adresslage in der statusbewussten Hansestadt, weder damals noch heute.
Im September 1939 gab Mulka in einem Antragsformular eine neue Adresse an: "Isestraße 127, Hochparterre". Ein ordentlicher Sprung, aus einem Häuschen draußen am Stadtrand in die Beletage eines der schönsten Häuser in einer der schönsten Straßen in einem der schönsten Viertel der Stadt. Offenbar gingen Mulkas Geschäfte Ende der Dreißiger gut. Womöglich war es auch einfach eine günstige Gelegenheit. Es war nicht lange nach der "Reichspogromnacht", vielleicht war jemand geflohen. Das Formular, in das Mulka die vornehme Adresse eintrug, war übrigens sein Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP. Zu gerne würde ich wissen, unter welchen Umständen Robert Mulka in meine Straße zog. Es wäre womöglich aufschlussreich.
Der Mann mit dem weißen Pelzkragen
Dann kam der Krieg. Mulka wurde nicht als Offizier in die Wehrmacht übernommen, er war vor Jahren einmal wegen Hehlerei verurteilt worden. Das nagte wohl an ihm, dem offenkundig statusbewussten Aufsteiger. Mulka meldete sich 1941 freiwillig zu einer Truppe, die ihm ohne große Umstände einen Offiziersrang zugestand: der Waffen-SS. Aber zum Kämpfer taugte er nicht, nicht einmal zum Ausbilder an der Pionierschule, denn er kränkelte. So landete der SS-Obersturmführer Mulka im Februar 1942 als Kompanieführer des 1. Wachsturmbanns weit hinter der Front: in Auschwitz.
Wenn dort die Transporte aus dem Reich anrollten, stand an der Rampe Mulka und selektierte. Er entschied, wer sofort ins Gas musste, und wer noch nicht. An seinem Dienstmantel trug Mulka einen auffälligen, eleganten weißen Pelzkragen. Er scheint seine absolute Macht genossen zu haben. Ex-Insassen berichteten nach dem Krieg, wie Mulka ohne erkennbaren Grund Häftlinge mit der Pistole niederschoss. Jedenfalls nutzte er seine schwächelnde Gesundheit nicht, um sich wieder versetzen zu lassen. Eher im Gegenteil. Im April 1942 wurde Mulka Adjutant und Stellvertreter des KZ-Kommandanten Rudolf Höß, zuständig, unter anderem, für den Nachschub an Zyklon B. Bis März 1943 war der Kaufmann aus der Isestraße 127 der zweitmächtigste Mann in der größten Mordfabrik der Menschheitsgeschichte. Mein Nachbar, der KZ-Kommandant.
Ich habe Leute gefragt, die sich mit der Historie meines Viertels auskennen. Nicht einer wusste von Robert Mulka. Dabei war seine Geschichte nie ein Geheimnis. 1963/64 stand Mulka über ein Jahr lang im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, als ihm und anderen SS-Leuten in Frankfurt der Prozess gemacht wurde. Man war ihm durch Zufall auf die Schliche gekommen: Sein Sohn hatte als Segler bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom eine Medaille gewonnen; ein Überlebender war bei dem Namen Mulka hellhörig geworden. Bis dahin hatte der Ex-Obersturmführer, nach dem Krieg in einem Revisionsverfahren als "enlastet" entnazifiziert, als honoriger Kaufmann in Hamburg gelebt, als sei nichts geschehen.
Strafsache 4 Ks 2/63
Die Strafsache mit dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63 "gegen Robert Mulka und andere" wurde berühmt als "Auschwitz-Prozess", viele Historiker sehen das größte NS-Verfahren der bundesdeutschen Geschichte heute als Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Groß war seinerzeit etwa die Empörung gewesen, als ein Verteidiger argumentierte, beim Dienst an der Rampe seien doch Leben gerettet worden, schließlich hätten die Angeklagten bei der Selektion Menschen vor der Gaskammer bewahrt.
Was damals die Öffentlichkeit in Wallung brachte, ist heute längst vergessen. Und so passiere ich, wenn ich zum Italiener an der Ecke Isestraße/Heilwigstraße gehe, zwar Aberdutzende messingglänzende Stolpersteine, die an Mulkas Opfer erinnern - an den Massenmörder (der wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu 14 Jahren verurteilt wurde, aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit aber schon 1968 freikam und im Jahr darauf starb) erinnert nichts. Und niemand erinnert sich mehr an ihn.
So hat mein vorsichtiger Stolz auf unsere Kultur der Erinnerung ein wenig gelitten. Ich frage mich mittlerweile, ob wir die Erinnerung an die Opfer nicht auch deshalb so gründlich pflegen, weil wir uns so ganz gut ablenken lassen können von der Auseinandersetzung mit den Tätern, auch wenn ihre Spuren überall und mitten unter uns sind. Es ist ja leicht, mit den armen Ermordeten zu fühlen; aber es schmerzt, die Täter zu nennen, und es schürt Unruhe. Direkt neben dem Hamburger Rathaus etwa erinnert eine Tafel an das ehemalige Modehaus der Gebrüder Hirschfeld, das am 9. November 1938, der "Reichskristallnacht", geplündert und anschließend "arisiert" wurde. Sehr honorig, sicherlich. Doch wer profitierte, wird nicht erwähnt.
Als die ersten Stolpersteine verlegt wurden, hagelte es noch Proteste. Hausbesitzer fürchteten um den Wert ihrer Immobilie, Anwohner um die Psyche ihrer Kinder, Tourismusmanager um das Image ihrer Stadt. Inzwischen sind in mehr als 270 Orten überall in Deutschland über 12.000 dieser Gedenkplaketten, gesponsert von Anwohnern für 95 Euro das Stück, verlegt worden. In meiner Heimatstadt wird diese Woche eine Internetdatenbank mit Informationen über alle Stolpersteine in Hamburg freigeschaltet. Die Kontroverse ist längst dem Konsens gewichen.
Vor dem Haus dagegen, in dem einst Robert Mulka wohnte, denke ich manchmal, könnte man noch einen echten Stolperstein setzen.