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Stasi-Haftklinik: Der Feind auf dem OP-Tisch

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Stasi-Haftklinik Der Feind auf dem OP-Tisch

Ärzte blieben anonym, Kranke wurden gegen Geständnisse operiert: Statt zu heilen, dienten die Mediziner im Berliner Haftkrankenhaus der Stasi als Verhörgehilfen. Ein neues Buch beleuchtet die Geschichte der geheimsten Klinik der DDR - und zeigt, wie nah Therapie und Terror beieinander lagen.

Sieben Kugeln hatten den Körper von Dieter Hötger getroffen. Sieben Kugeln aus den Waffen der DDR-Grenzsoldaten, die auf ihn feuerten, als er im Juni 1962 versuchte, Fluchtwillige durch einen Tunnel nach West-Berlin zu holen. Der Moment, als er bereits im Operationssaal lag, blieb ihm für immer im Gedächtnis: Ein Mann in Uniform stürmte herein und versuchte, ihn zu erpressen - ohne Aussage keine OP!

Hötger lag im Krankenhaus der zentralen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen.

Nicht mehr mitbekommen sollte der West-Berliner die Auseinandersetzung zwischen den Ärzten um die Frage, wer ihn operieren würde. Ein Geschoss hatte die Kieferhöhle durchschlagen und das äußere Ohr verletzt. Der Chefarzt des Krankenhauses, Dr. Wolfgang Dorr, lehnte ab: Es sei nicht sein Fachgebiet. Die Kopfverletzung operierte schließlich ein Zahnarzt - selbst Insasse des Stasi-Knasts.

Der Rückgriff auf inhaftierte Mediziner war in dieser Klinik keine Ausnahme. Gerade kurz nach dem Mauerbau fehlte es der DDR an qualifiziertem Personal. Dorr, der Referatsleiter aus dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und verantwortlich für die medizinische Betreuung in den Stasi-Gefängnissen, hatte das Krankenhaus 1959 aufgebaut. Seinen Untergebenen schärfte er ein: "Sie müssen sich eines merken, der Häftling bleibt immer unser Feind." Der hippokratische Eid galt nicht viel im Stasi-Knast.

Das Haftkrankenhaus setzte andere Prioritäten: Nicht die Heilung der Patienten stand im Vordergrund. Die Aufgabe der Stasi-Mediziner war es, politische Gefangene "haft- und prozessfähig" zu machen.

Dass es zwischen beidem einen entscheidenden Unterschied gab, das beschreiben die Autoren Tobias Voigt und Peter Erler eindrücklich in ihrem jüngst erschienenen Buch "Medizin hinter Gittern". Nachdem der Zugang zu den Gefangenen-Akten lange aufgrund des Stasi-Unterlagen-Gesetzes zum Zwecke des Opferschutzes blockiert war, ist es ihnen nun gelungen, Betroffene zu identifizieren und deren Schicksale aufzudecken.

Erstmals veröffentlichen Voigt und Erler die Krankengeschichten Inhaftierter und nennen dabei auch die Namen von behandelnden Ärzten, Pflegern, Schwestern und Krankenwärtern. Denn es gehörte zu den Gepflogenheiten dieser Klinik, die Betroffenen sowohl über ihre Behandlung als auch die sie Behandelnden, deren Helfer und Weisungsgeber im Unklaren zu lassen. Nach Einschätzung der Autoren "einmalig in der Geschichte der Medizin".

"Schlimme Dinge"

Mehr als 3000 Inhaftierte wurden zwischen 1960 und 1989 im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen stationär behandelt. Angeschossene Flüchtlinge  ebenso wie schwerkranke Untersuchungshäftlinge und solche, deren Leiden erst mit ihrer Festnahme begann. Die Haft machte sie krank. Sie litten an Depressionen, verweigerten das Essen, verstümmelten sich selbst oder versuchten, sich umzubringen.

Bevor es das Krankenhaus gab, waren die Häftlinge lediglich von einem kleinen Trupp Sanitäter medizinisch betreut worden. "Schlimme Dinge" seien damals in dem Kellergefängnis passiert, deutete der inzwischen verstorbene Krankenwärter Max Goth gegenüber einer von den Autoren befragten Kollegin an. Voigt und Erler werten dies als Indiz für Folter, auch wenn sich in den Krankenakten selbst darauf erwartungsgemäß keine Hinweise fanden.

Die Stasi allerdings änderte bald ihre Strategie, schwenkte um von körperlicher Gewalt zu psychologischer Zermürbung. Den Betroffenen sollte man ihr Leid nicht ansehen. Für Schauprozesse wurden die Insassen in den fünfziger Jahren sogar aufgepäppelt - mit erhöhten Essensrationen, einer wenn nötig aufwendigen Sanierung des Gebisses und Höhensonnenbestrahlung für einen gesunden Teint. Eine Maßnahme mit Kalkül: Je weniger elend der Angeklagte aussah, umso leichter würde sich die Volksmeinung gegen ihn wenden lassen.

"Kiefer ausgehakt, rein den Schlauch"

Hinweise auf Gewalt gegenüber Gefangenen in medizinischer Obhut fanden die Autoren eigenen Angaben zufolge in den Akten "nur äußerst spärlich". Dafür entdeckten sie aufschlussreiche Gesprächsprotokolle der Stasi, die erkennen lassen, dass sich etwa Chefarzt Dorr mit der ihm auferlegten Zurückhaltung nicht anfreunden konnte: "Ich darf heute keinen Häftling anfassen, und das ist auch, was mir ein bisschen am Arsch hängt, weil ich am Anfang einigermaßen aufgeräumt habe bei den Ganoven", gab er freimütig im Bekanntenkreis zu und erwähnte "Zwangsjacken, Zwangshosen und kalte Bäder" - nicht ahnend, dass auch seine privaten Äußerungen von Spitzeln aufgezeichnet wurden.

Gegenüber seinem Oberarzt Reinhard Uhlig, auch das war einem Stasi-Protokoll zu entnehmen, erklärte Dorr 1961 bezüglich Inhaftierter, die das Essen verweigerten: "Wenn sie anfangen zu hungern, kippen wir ihnen Salz ins Waschwasser, damit sie das nicht trinken können, sie dursten zwei Tage, und dann ist Schluss." Ein Häftling hatte sich davon offenbar nicht beeindrucken lassen. "Da habe ich gesagt", so Dorr, "komm, alter Freund - alles fertiggemacht, großen Magenschlauch, Kiefer ausgehakt, rein den Schlauch, Trichter drauf und dann die Kalbsbrühe rein, Traubenzucker rein. Das hat er bloß einmal mitgemacht, dann hat er gegessen."

Geschwätzig und "geltungsbedürftig", zudem "mit organisatorischen Schwächen" und der Neigung, "Frauen als zweitrangige Menschenklasse" zu betrachten, so beschrieb die Kaderakte Dorr, und weder Häftlingen noch Untergebenen blieb das oft unbeherrschte Verhalten des Mannes erspart, der aus Angst vor "Banditen" ständig eine geladene Pistole in der Hosentasche trug. Sein Oberarzt Uhlig beschwerte sich in einem Schreiben an Vorgesetzte über die schlechte Arbeitsmoral und unterlassene Hilfeleistung seitens des "Genossen Chefarzt".

Vernehmung geht vor

Das Personal wechselte, eines aber blieb gleich in den 30 Jahren des Krankenhauses: Oberster Dienstherr war die Stasi. Das drückte sich nicht nur in den militärischen Rängen der medizinischen Fachkräfte aus. Die Befehlskette hatte auch unmittelbar Auswirkung auf das Handeln der Ärzte und Pfleger. Mal mehr, mal weniger freiwillig ordneten die Heilkräfte ihren Berufsethos den Interessen des DDR-Geheimdienstes, ihres Arbeitgebers, unter. Denn die medizinische Tätigkeit diente in erster Linie dem Bedürfnis der Ermittler - nicht dem des Kranken. "Wir können doch durch unsere Behandlung nicht die Vernehmung unterbrechen...", war etwa Chefarzt Dorr überzeugt.

Zwar galt auch in der DDR der ethische Grundsatz der ärztlichen Schweigepflicht. Sanktionen bei Verstößen waren aber nicht zu fürchten. Wer hätte sie auch einfordern sollen? Die Inhaftierten wären dazu kaum in der Lage gewesen, wurden doch die Namen und die Qualifikation der sie Behandelnden grundsätzlich geheim gehalten.

Oft wussten die Betroffenen nicht einmal, wo sie sich überhaupt befanden. Auch dies gehörte zur Strategie des MfS: Um die Betroffenen zu verwirren, ließ man sie von ihrer Zelle in verschlossene Transporter verfrachten und aus dem Gefängniskomplex heraus über einen Umweg zum Krankenhaus bringen - obwohl sich dieses nur wenige Schritte über den Hof vom Zellengebäude entfernt befand.

"Das bleibt schön drinne"

Der Fluchthelfer Dieter Hötger hatte erst nach seiner Verurteilung und der anschließenden Inhaftierung im Stasi-Knast Bautzen von einem Mithäftling erfahren, dass er zuvor in Hohenschönhausen war - dort, wo man ihn ohne ein Geständnis nicht hatte operieren wollen. Die Kiefer-OP hatte dennoch stattgefunden, doch das Projektil, das seit seiner Festnahme im Juni 1962 in seiner Lunge steckte, ließ Hötger nie entfernen. Als er nach zehn Jahren Haft entlassen werden sollte, wollte ihn die DDR noch operieren. Er aber weigerte sich: "Das bleibt schön drinne, als Beweis für später mal, dass ihr nicht sagen könnt, ihr habt nicht auf mich geschossen."

Auch die ehemalige Berufschullehrerin Brigitte Bielke verweigerte eine OP im Gefängniskrankenhaus. Aus Angst. Bei einem Unfall in der Haftanstalt Halle hatte sie sich 1988 die Kniescheibe zertrümmert. Die Wärter warfen der ausreisewilligen Regimekritikerin vor, Simulantin zu sein. Schließlich wurde sie doch operiert, von einem Arzt, der sich ihr nicht vorstellte. Das Bein konnte sie danach kaum mehr bewegen. Erst kurz vor ihrem Freikauf durch die Bundesrepublik bot man ihr in der DDR eine erneute Operation an. Sie aber wollte auf keinen Fall noch einmal unter das Messer eines anonymen Mannes.

Die Anonymität des medizinischen Personals war es schließlich auch, die juristische Untersuchungen zu den Vorgängen im geheimsten Krankenhaus der DDR erschwerte. Bislang als Einziger musste sich vor Gericht der Nervenarzt Horst Böttger verantworten. Vom Vorwurf fehlerhafter medizinischer Behandlung von Inhaftierten wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Zum Weiterlesen:

Tobias Voigt, Peter Erler: "Medizin hinter Gittern - Das Stasi-Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen". Jaron Verlag, Berlin 2011, 96 Seiten.

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