Stasi im Westen Die ausgespitzelte Republik
Kein Geheimdienst hat je ein anderes Land so total ausgespäht wie die Stasi Westdeutschland. Zu Tausenden saßen Mielkes Mannen in bundesdeutschen Schlüsselpositionen. Erst die Öffnung der Stasi-Akten machte das Ausmaß deutlich - der Fall Kurras zeigt, dass wir noch längst nicht alles wissen.
Das giftige Erbe der DDR-Staatssicherheit wird heute von einer ordentlichen bundesdeutschen Behörde verwaltet, und die ehemalige Stasi-Zentrale ist ein Museum geworden. Doch auch 20 Jahre nach dem Untergang des Imperiums von Stasi-Minister Erich Mielke geht der Geist des berüchtigten Geheimdienst-Chefs noch um, gruselig und ominös wie einst.
Jetzt ist wieder eine dieser im den Akten vergrabenen Altlasten an die Oberfläche geschwemmt worden. In der Stasi-Unterlagenbehörde fand sich jetzt ein Hinweis, der scheinbar fest zementierte westdeutsche Gewissheiten zum Einsturz brachte: Der Berliner Kriminalpolizist Karl-Heinz Kurras, der mit seinen tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg 1967 den Aufstand der jungen Linken gegen die bundesdeutsche Nachkriegsdemokratie mit lostrat und vielen seither als "faschistisches Bullenschwein" galt, war mehr als das - ein heimlicher SED-Genosse und hochbezahlter Stasi-Agent.
Prompt steht die Frage nach dem Einfluss des MfS auf Politik und Gesellschaft der Bonner Republik wieder auf der Tagesordnung. Viele Westdeutsche würden das Thema lieber zu den Akten legen. Doch jetzt ist klar: Da schlummert wohl noch manches. Dass der DDR-Geheimdienst vor 1989 in der gesamten westdeutschen Gesellschaft präsent war, ist zwar lange bekannt. Doch im Licht der Causa Kurras fällt der Blick auf andere Schlüsselereignisse der westdeutschen Historie, bei der Hinweise auf das MfS bisher als Verschwörungstheorien abgetan wurden.
Mischte die Stasi bei Morden im Westen mit?
Ob nicht auch beim Pistolenattentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke 1968 das MfS seine Finger im Spiel hatte, fragt Marek Dutschke, jüngster Sohn des 1979 an den Folgen des Anschlags verstorbenen SDS-Führers. Und auch der Sohn des 1977 von RAF-Terroristen ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback teilt mit, er habe schon früher geglaubt, "meinen Vater holt mal die Stasi" - schließlich hatte der Strafverfolger gegen DDR-Agenten ermittelt.
Denkbar ist vieles, bewiesen werden muss es meist noch. Doch auch jetzt schon ist die Bilanz des vierzigjährigen Feldzugs der Stasi gegen den "imperialistischen Klassenfeind" westlich der Elbe aus bundesdeutscher Sicht bedrückend. Auch wenn vieles vielleicht für immer verborgen bleibt, weil die Akten der Stasi-Auslandsabteilung während der Wende und noch danach vernichtet wurden - fest steht, dass die Ausspitzelung der Bundesrepublik durch den ostdeutschen Aufklärungsapparat weltweit ohne Parallele war.
Berühmt wurden Spitzenleistungen, wie die Plazierung des Kanzleramtsspions Günter Guillaume im Büro Willy Brandts oder der Spitzenquelle Rainer Rupp alias "Topas" im Allerheiligsten der Nato in Brüssel. Mielkes Leute zapften militärische Planungen an, stahlen Diplomatenpost säckeweise und infiltrierten den Sicherheitsapparat der Bundeswehr. Die Stasi-Spitzenquelle Gabriele Gast, die nach dem Ende der DDR ausgerechnet in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes aufflog, war schon 1968 von der "Hauptverwaltung Aufklärung" (HVA) des MfS angeworben worden und erfreute sich, verständlicherweise, besonderer Wertschätzung des HVA-Chefs Markus Wolf.
Liebesattacke auf Vorzimmerperlen
Einen gehörigen Schreck versetze dem Establishment der Bonner Republik aber auch die Riege der aus Ost-Berlin gesteuerten Einflussagenten auf dem politischen Parkett der Bundesrepublik. Da gab es schwärmerische Idealisten wie den Fotounternehmer Hannsheinz Porst, der im Stasi-Auftrag seine Freunde aus der FDP-Spitze umgarnte, oder graue Eminenzen wie den SPD-Insider Karl Wienand, Strippenzieher zahlreicher Bonner Affären. Die Stasi manipulierte sogar Bundestagsentscheidungen - durch Bestechung verhinderte sie 1972 wohl die Abwahl von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt.
Schlagzeilen machte nach 1989 die Enthüllung, dass Spionage-Chef Wolf auf einsame Bonner Chefsekretärinnen smarte Heiratsschwindler angesetzt hatte - altgediente Vorzimmerperlen von Bonner Ministern und Fraktionsoberen hatten sich auf Geheiß ihrer "Romeos" der Liebe wegen über die Schubladen ihrer Chefs hergemacht.
Schwer durchsetzt mit Spitzeln waren aber nicht nur die Parteien, Ministerien und Behörden. In bundesdeutschen Redaktionen protokollierten Heerscharen als Journalisten getarnte Geheimagenten, was es über Kollegen und Informanten Neues gab. Die Stasi horchte selbst in Gemeinderäten. Die Hauptlast trugen nicht die paar Top-Quellen, sondern Wolfs Fußvolk, nach Expertenschätzung zwischen 3000 und 4000 Kundschafter, die im verhassten Nachbarland insgeheim für die Sache der SED unterwegs waren.
Tausender im Umschlag
Ein kleines Heer von Überzeugungstätern, Lohnspitzeln oder Erpressungsopfern hatte sich in westdeutschen Amtsstuben eingenistet. Auch widerstrebende Perspektivagenten waren leicht zu "überzeugen": In West-Berlin etwa mussten Sicherheitsbeamte jeden östlichen Anwerbungsversuch in ihrer Behörde melden. Also schickten Wolfs Akquisiteure interessanten Kandidaten einfach Briefe mit beigelegten Tausendmarkscheinen. Viele Beamte behielten das Geld und verschwiegen lieber den Empfang des Schreibens. Das reichte, um sie erpressbar zu machen - und zu Spitzeldiensten zu nötigen.
Andere Westbeamte boten sich der Gegenseite aus Geldnöten an, andere einfach aus Frust über ihre Lebenssituation. Solche "Selbststeller" brachten dem bundesdeutschen Verfassungsschutz auch seine schwerste Niederlage bei: das Debakel der beiden übergelaufenen Spitzenkräfte Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge. Tiedge, Chef der Spionageabwehr, setzte sich 1985 mit dem Interzonenzug in die DDR ab, nachdem er seines Alkoholproblems nicht mehr Herr geworden war. Kuron, verantwortlich für westliche Doppelagenten in der DDR, arbeitete ab 1981 für das MfS und gab seine in Ostdeutschland operierenden Leute preis, weil er einfach nur das Geld wollte.
So gelangte die Stasi im "Operationsgebiet" (MfS-Jargon für die BRD) höchste Schlagkraft - keine Branche im Westen, die nicht "Zielobjekt" war, kaum ein Vorhaben, das nicht ausgespäht worden wäre. Erst durch einen Überläufer erfuhr Bonn etwa, dass die DDR zur Abschöpfung westdeutscher Industrie- und Forschungsgeheimnisse einen Riesenapparat unterhielt: Als sich der MfS-Abteilungsleiter Oberleutnant Werner Stiller 1979 in den Westen absetzte, musste die HVA Dutzende ihrer Geheimen aus westdeutschen Unternehmen und Labors zurückrufen.
Solche Pannen allerdings unterliefen den Ost-Berliner Agentenführern nur ausnahmsweise. Denn in aller Regel war das MfS über Ermittlungen und Gegenmaßnahmen der westdeutschen Spionageabwehr bestens im Bild. Denn auch die erwiesen sich - lange vor den Kurras-Enthüllungen - als unterwandert.