

Es ist das Jahr, in dem die Kinderrapper von Kriss Kross in die deutschen Charts einsteigen, und in dem die Fantastischen Vier dem deutschen HipHop zum Durchbruch verhalfen. In diesem Jahr kommt noch ein weiteres Phänomen aus den USA nach Deutschland.
An einem Samstag im August 1992 treffen sie sich zum ersten Mal, mehr als 1500 junge Männer auf einem Parkplatz in Ost-Berlin. Die meisten tragen kurze Hosen, Achselshirts und abgewetzte amerikanische Sneaker. Auf dem von der Sonne erhitzten Asphalt stehen ein paar Basketball-Körbe, Autoreifen markieren den Spielfeldrand. Die Jungs haben eine Mission: Sie wollen Basketball spielen - wie man ihn hier noch nie gesehen hat. Nicht die erwachsene Hallenvariante aus dem Vereinssport, sondern schneller, härter, für die Straße. Drei gegen drei. Alle werfen auf einen Korb, es gibt keinen Schiedsrichter und nur ein paar einfache Regeln.
Die Jungs fühlen sich ein bisschen rebellisch dabei. Ihr Spiel nennen sie deshalb auch nicht einfach Basketball, sondern Streetball. In den Staaten ist der Sport schon seit den achtziger Jahren populär - vor allem in den Ghettos und unter Schwarzen. Spielplätze wie der "Cage" an der West 4th Street im New Yorker Greenwich Village oder der Freiplatz im Rucker Park in Harlem sind legendär. Die Spieler tragen Piratentücher auf dem Kopf und Rastalocken, Tattoos zieren ihre Oberarme. Ihre Hände haben sie mit Panzer-Tape eingewickelt. Fouls sind keine Seltenheit.
Der PR-Coup
Doch während die Spieler in New York ihr Krafttraining in Hinterhöfen absolvieren, Wellblechdächer als Klimmzugstange nutzen und hinter drei Meter hohen Zäunen im "Käfig" in der Hoffnung kämpfen, von einem NBA-Spieleragenten entdeckt zu werden, geht es 1992 in Berlin weniger rau zu. Der "Cage" heißt Marx-Engels-Platz, es ist die Fläche vor dem Palast der Republik.
Die Center, Angreifer und Verteidiger lockt allerdings auch nicht die Aussicht auf sozialen Aufstieg, Ruhm und Geld, sondern die Einladung eines Sportartikelherstellers aus Herzogenaurach. "Wir haben einfach mal 70 Körbe hingestellt und geguckt, was passiert", erinnert sich Jan Runau, der damals am Spielfeldrand stand und dieses erste Turnier mit organisierte.
Es war das deutsche Sportunternehmen Adidas, das den "dreckigen Basketball" vor zwanzig Jahren nach Berlin holte - eine PR-Nummer, die die angeschlagene Firma retten sollte. "In einer Marktstudie hatten wir 1991 herausgefunden, dass Adidas bei der Jugend als konservativ, verstaubt, langweilig und nicht trendig angesehen wurde", erzählt Manager Runau. Der hagere Mitvierziger hatte nach seinem Studium gerade bei der Sportmarke angefangen, als zwei ehemalige Nike-Manager für Adidas die Idee austüftelten, wie das deutsche Unternehmen aus den roten Zahlen kommen und gleichzeitig sein Image aufpolieren könnte.
"Talking Cool"
Rob Strasser und Peter Moore hatten die Basketballmarke Air Jordan miterfunden. Sie hatten oft neben den Courts mit den Metallzäunen gestanden und wussten, dass Streetball für US-Kids mehr war als ein Sport. Das Image sollte auf Adidas abfärben. Aus dem unorganisierten Spiel der amerikanischen Subkultur machte Runau in den kommenden vier Jahren eine Turnierserie - mit passender Kollektion zum Lifestyle. Ein Spektakel für gelangweilte Mittelschichtskinder, die artig auf Marktplätzen von Paderborn und Kassel Bälle warfen.
Die PR-Kampagne zeitigte Erfolg. Rund 3000 Zuschauer wollten das Berliner Turnier im Sommer 1992 sehen. Zum Höhepunkt der Sportart im Jahr 1995 gab es fast jeden zweiten Tag irgendwo einen Wettkampf. Das ZDF übertrug die Finalspiele der Adidas Streetball Challenge. In den Spielpausen sollten Hardcore-Skater und BMX-Vorführungen die Zuschauer bei Laune halten. Es gab Slam Dunk-Wettbewerbe, Musiker wie Run DMC oder Marky Mark und NBA-Stars wie Kobe Bryant oder Scott Williams traten auf. Adidas verteilte derweil "Talking Cool"-Broschüren mit Streetballsprachcodes und karrte Cheerleaderinnen an den Spielfeldrand.
"Wir hatten teilweise eine halbe Million Zuschauer und 50.000 Mitspieler pro Jahr - allein in Deutschland", sagt Jan Runau. Streetball wurde ein Hype in ganz Europa, Adidas ging mit der Idee sogar auf den Roten Platz nach Moskau, nach China und Australien. Bis heute hält die Firma die Rechte am Begriff "Streetball".
"Ausschöpfen von Umsatzpotentialen"
Für das Unternehmen hatte sich der Aufwand gelohnt. "Endlich kamen wir weg vom 'Blut- und-Eisen'-Image und wurden eine coole Marke." Der Zauber des Spiels allerdings ging auf dem Weg zur kommerziellen Megasportart der neunziger Jahre verloren. "Die Streetballevents sollten zum Ausschöpfen von Umsatzpotentialen beitragen", gibt Adidas-Mann Runau heute zu, "wir haben aus dem Thema Streetball eigentlich für uns als Marke alles rausgeholt, was für uns auch drin war. Ich denke, dass Adidas mehr von der Partnerschaft profitiert hat als der Streetball."
Nachdem Deutschland mit Schuhen, Bällen und Hemden vollversorgt war, ließ das Interesse des Sportartikelherstellers an seinem importierten Trendsport denn auch schnell nach. Heute spielen nur noch wenige den harten Basketball auf der Straße. Streetball ist auf das Popularitätsniveau von Synchronschwimmen zurückgefallen, wo es in Deutschland auch vor 1992 war.
Mittlerweile hat sich ein anderes Unternehmen des Streetball angenommen. Der in Deutschland eher unbekannte amerikanische Sportartikelhersteller And1 wirbt für eine sogenannte Streetball League. In Berlin haben sich dafür gerade einmal zwei Teams angemeldet, in Hamburg kein einziges. Auf der Webseite steht: "Im Moment existiert leider keine Liga, für die man sich anmelden kann."
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Von Berlin nach Barcelona: Nicht nur mit Streetculture, sondern auch mit internationalem Flair lockten die Adidas Streetball Challenges Teilnehmer und Besucher. Mehr als 800 Teams mit 2500 Spielern kämpften 1995 im Deutschland-Finale in Berlin um den Einzug in das Streetball-Weltfinale am 10. September in Barcelona.
Marketingtrick: Die Erfindung von Streetball war genau das, was Adidas gebraucht hatte. Tausende Spieler und Schaulustige trafen sich rund um die Welt zu den Adidas Streetball Challenges (hier 1992 in Madrid) - und der Sportartikelhersteller konnte endlich sein verstaubtes Image aufpolieren.
Imagekampagne: Immer wieder ließ Adidas Basketballstars bei seinen Turnieren auftreten, wie etwa 1994 in München den Deutschen Detlef Schrempf, der es damals in das Team der Seattle Supersonics geschafft hatte. Am Spielfeldrand wurden derweil "Talking Cool"-Broschüren mit Streetballsprachcodes verteilt.
Harte Jungs und große Bälle: Zu den Turnieren holte der Veranstalter auch Musiker mit hoher "Streetcredibility" wie den Rapper Marky Mark (heute besser bekannt als Mark Wahlberg - hier bei einem Streetball-Turnier 1992 mit dem NBA-Star Dikembe Mutombo, der damals bei den Denver Nuggets spielte).
Eine Frage der Hautfarbe: Ganz um Streetball drehte sich auch die Komödie "Weiße Jungs bringen's nicht" (im Original "White Men Can't Jump") von 1991 mit Wesley Snipes und Woody Harrelson in den Hauptrollen.
Authentizität vom Reißbrett: Madrid, Paris, London und Berlin waren die ersten Veranstaltungsorte von Adidas' Streetballturnieren (hier 1992 in Madrid).
Werbefläche: Am 14. Mai 1993 war die Adidas Streetball Challenge zu Gast in Halle an der Saale. Und während das Fahnenmonument im Hintergrund noch die rote Farbe des Sozialismus trägt, spielen die Jungs vorne schon eine Sportart, die sich ein Konzern ausgedacht hat.
Freizeitsportler: In den neunziger Jahren konnte Adidas mit seinen Streetball Challenges überall in der Republik die Parkplätze mit bunt gekleideten Jugendlichen füllen, die von der großen weiten Welt träumten. Der Hype ist inzwischen abgeklungen, die Rechte an dem Begriff hält die Firma aber bis heute.
Andere Zeiten: Das erste Streetball-Event in Deutschland fand am 22. und 23. August 1992 auf dem Marx-Engels-Platz vor dem Palast der Republik in Ost-Berlin statt. Über das Hammer-und-Zirkel-Symbol am Palast hängte der Veranstalter kurzerhand ein Streetball-Banner.
Körbe werfen: Davon träumte so mancher deutscher Streetballspieler, der auf einem Parkplatz vor dem Supermarkt seiner Kleinstadt an der Adidas Streetball Challenge teilnahm - einmal "im Ghetto" ein paar Körbe werfen, ganz wie diese Teenager im Februar 2001 im Marcus Garvey Park in Harlem.
Auf der Straße: Die Realität des Streetball war weit weniger attraktiv. Zwischen Müllhaufen und ganz ohne TÜV-geprüftes Spielgerät vertreiben sich ein paar Kinder im Februar 2007 die Zeit an einer Straßenecke im Norden von Philadelphia.
Hoch hinaus: Gut dotierte Werbeverträge mit Adidas ließen auch immer wieder große Basketballstars bei den Veranstaltungen auftreten. So kam ein Junge in Budapest dazu, sich am 15. September 1996 mit Kareen Abdul Jabbar zu messen.
Werbung an der Mauer: Sehr öffentlichkeitswirksam ließ Adidas seine Streetball-Veranstaltungen auch an ungewöhnlichen Orten stattfinden. So etwa 2001 am Rand von Peking, direkt an der Chinesischen Mauer. Die Aktion mit dem amerikanischen Basketballspieler Kobe Bryant warb für die neue Kobe-Reihe von Sportschuhen und -kleidung von Adidas.
Sieg nach Punkten: Was im Kalten Krieg noch unmöglich gewesen war, ging ganz problemlos mit Streetball. Konzerne wie Adidas und Coca-Cola sponserten Turniere im Herzen der ehemaligen Sowjetunion - wie etwa dieses im Juni 2000 in St. Petersburg.
Perfekt gerüstet: Zu seinen Streetballturnieren, wie dieses am 21. Juni 1997 auf dem Hamburger Heiligengeistfeld, lieferte Adidas immer auch gleich die passende Ausrüstung mit. Mit dem Traum von der amerikanischen Subkultur im Hinterkopf kauften sich gelangweile Mittelstandskinder die T-Shirts, Schuhe, Caps und Bälle mit dem Logo der Firma aus Herzogenaurach.
Werbeträger: Zu seiner Hochzeit hatte auch Streetball seine Stars - beispielsweise Grayson Boucher, der auch der "Professor" genannt wurde (hier im Dezember 2004 bei Fernsehaufnahmen in San Diego).
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