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Der erste BRD-DDR-Studentenkongress 1990

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Archiv Himmelrath

Deutsch-deutsche Universitätsgeschichte "Von Helmut Kohls Plan waren wir gar nicht so weit weg"

Vertreter aus Ost und West organisierten Anfang 1990 den ersten Studentenkongress zwischen BRD und DDR. Kerstin Griese und Peer Pasternack erinnern sich an Kopiergeräte und Revolutionsgedanken. Dann wurden beide Staatssekretäre.
Ein Interview von Armin Himmelrath

Ein winterlicher Freitagabend in Berlin. Im Bundesarbeitsministerium an der Mauerstraße treffen sich Kerstin Griese, Jahrgang 1966, Sozialstaatssekretärin im Arbeitsministerium, und Peer Pasternack, Jahrgang 1963, Direktor des Instituts für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg.

Griese und Pasternack gehörten im Wintersemester 1989/90 zu den Initiatoren des "1. DDR-BRD-Studentenkongresses", der Ende Januar 1990 erst in Düsseldorf und dann Mitte Februar in Leipzig stattfand. Kerstin Griese war damals Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses (Asta) in Düsseldorf, Peer Pasternack Sprecher des Studentenrats (Stura) in Leipzig.

SPIEGEL: Vor 30 Jahren haben Sie sich das letzte Mal gesehen, als Vorsitzende der Studierendenvertretungen in Düsseldorf und Leipzig. Wie eng sind die Verbindungen zu ihren alten Unis heute noch?

Griese: Die Verbindung ist schon noch da. Wir haben damals darum gekämpft, die Düsseldorfer Uni nach Heinrich Heine zu benennen, als progressivem jüdischen Dichter und Denker. Das wurde 1989 verwirklicht, und im vergangenen Jahr hat mich die Uni mit der Ehrenmedaille ausgezeichnet, als erste ehemalige Studentin, weil ich mich seinerzeit stark für diese Namensgebung engagiert hatte. Ansonsten habe ich der Hochschulpolitik mittlerweile den Rücken zugekehrt.

Pasternack: Vor ein paar Wochen habe ich in Leipzig an der Uni eine Veranstaltung moderiert, 30 Jahre nach dem Mauerfall, mit dem ehemaligen Rektor und dem ehemaligen Kanzler. Da haben wir festgestellt: Mittlerweile gibt es schon zwei Generationen von Veteranen – zumindest an den Hochschulen seit der Wiedervereinigung.

Der "1. DDR-BRD-Studentenkongress" fand ab dem 26. Januar 1990 in Düsseldorf statt - unter dem Motto: "Wider die Vereinigung - unser Haus heißt Europa"

Der "1. DDR-BRD-Studentenkongress" fand ab dem 26. Januar 1990 in Düsseldorf statt - unter dem Motto: "Wider die Vereinigung - unser Haus heißt Europa"

Foto: Armin Himmelrath/ DER SPIEGEL

SPIEGEL: Genau 30 Jahre ist es auch her, dass Sie beide – zusammen mit anderen wie dem Bonner Asta – den ersten deutsch-deutschen Studentenkongress organisiert haben: erst drei Tage in Düsseldorf, ein paar Wochen später dann in Leipzig. Wie kam es dazu?

Pasternack: Den ersten Kontakt gab es schon unmittelbar nach dem Mauerfall Mitte November. Wir waren aus Leipzig nach Bonn eingeladen worden und haben die Chance genutzt, noch nach Köln und Düsseldorf zu fahren. Da sind wir dann an die Uni und haben gedacht: Schauen wir mal, was der Asta hier so macht.

Griese: Und dann seid Ihr über den Campus gelaufen, da haben Stephan Grüger, mein damaliger Stellvertreter, und ich euch eingesammelt. Und noch am selben Tag haben wir zur Uni-Vollversammlung eingeladen. Internet gab’s ja noch nicht, das lief alles über gedruckte Flugblätter. Die Versammlung war rappelvoll, die Leute hatten jede Menge Fragen und waren total gespannt, was Ihr aus dem Osten zu erzählen habt.

Als wir damals bei euch aufgekreuzt sind, hat uns am meisten beeindruckt, dass überall Leute herumstanden und kopiert haben.

Peer Pasternack

SPIEGEL: Welche Fragen waren das?

Pasternack: Wie ist die Stimmung im Osten? Dahinter steckte die Frage: Läuft es jetzt in Richtung Wiedervereinigung – was wollen die DDR-Bürger? Und dann kam es fast immer in diesen Versammlungen zum Streit zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der Studierendenschaft. Da zu unseren Veranstaltungen meistens die eher Linken kamen, wurde dann in aller Regel heftiger miteinander gestritten als mit den Rechten.

Griese: Etwas anderes als Linke gab es damals auch kaum in den Studentenschaften…

Grieses Handy klingelt, Stephan Grüger ruft an. Er war 1989 stellvertretender und ab 1990 Asta-Vorsitzender in Düsseldorf. Griese erzählt vom Interview und stellt das Handy auf Lautsprecher.

Pasternack: Wir reden gerade über den Kongress in Düsseldorf und Leipzig, das erste deutsch-deutsche Studententreffen. Wir haben hier sogar noch ein Plakat von damals, in der Form eines Hauses.

Grüger: Das war ja unser Motto: "Wider die Vereinigung – unser Haus heißt Europa". Das war Kerstins Idee.

Pasternack: Als wir damals bei euch aufgekreuzt sind, hat uns am meisten beeindruckt, dass überall Leute herumstanden und kopiert haben.

Grüger: Die Dinger standen unten im Flur, da gab es mehrere Kopierer. Ich kann mich noch erinnern, dass einer von euch gesagt hat: Das ist ja der Wahnsinn, wie viele Kopierer hier stehen.

Griese: Das war ein Riesenthema. Der Bonner Asta, da war Martin Knoop Vorsitzender, hat damals Kopierer und Druckmaschinen in den Osten gebracht, auch der Asta in Frankfurt am Main. Es ging darum, die Studierendenvertretungen in der DDR überhaupt arbeitsfähig zu machen. Wir hatten, als wir im Februar 1990 mit dem Bus nach Leipzig fuhren, auch Kopierer dabei. Und eine sehr große Neugier auf den Osten.

Pasternack: Der allgemeine Mangel bei uns war das eine. Aber wir hatten ja am Anfang auch keinerlei offizielle Unterstützung als Studentenrat in Leipzig. Das kam erst ganz langsam. Es gab keine verfasste Studierendenschaft – und demzufolge auch keine Semestereinnahmen. Allerdings hatte sich die FDJ-Kreisleitung über ein sogenanntes “Konto junger Sozialisten” finanziert, das kam aus dem Hochschulhaushalt. Und da hat der damalige Rektor noch im November entschieden, dass der Studentenrat offenbar größere Akzeptanz als die FDJ genieße und demzufolge die Verfügungsgewalt über dieses Konto bekommen sollte. Damit hatten wir plötzlich einen Etat und hätten Dinge kaufen können – wenn es denn etwas gegeben hätte.

Griese: Für uns war das alles extrem spannend. Da war alles in Bewegung, eine wahnsinnige Euphorie nach dem Mauerfall, die hat uns auch die Energie gegeben, innerhalb weniger Wochen diese beiden Studentenkongresse zu organisieren. Wir dachten: Wir bauen eine bessere Gesellschaft. Wir waren zuerst überhaupt nicht in Richtung Vereinigung orientiert. Das war einfach nicht unser wichtigstes Thema,

Pasternack: Doch, das war das wichtigste Thema! Deswegen hieß der Kongress ja auch "Wider die Vereinigung". Aber die Dinge haben sich natürlich fast im Wochenrhythmus geändert.

Wir hatten das Gefühl, in einer Phase zu leben, in der man auf einmal total viel gestalten konnte.

Kerstin Griese

Grüger: Wir haben uns bei unseren Debatten stark am 4. November orientiert und an der Großdemonstration in Ost-Berlin, als die Perspektive aufkam, die DDR zu reformieren. Ehrlich gesagt: Der Plan von Helmut Kohl damals, der erstmal eine Konföderation vorsah – davon sind wir gar nicht so weit weg gewesen. Wir wollten die Zusammenarbeit vertiefen und gleichzeitig der DDR die Möglichkeit geben, sich selbst zu reformieren. Mit der Idee waren wir seinerzeit ja nicht völlig aus der Zeit gefallen, aber die Entwicklungen haben uns dann einfach überrollt. Vor allen Dingen natürlich die Wiedervereinigungspropaganda, die dann eingesetzt hat

Grüger verabschiedet sich, er ist schwer erkältet. Griese und Pasternack diskutieren noch ein bisschen weiter über das damalige Kongressmotto.

SPIEGEL: Ist es Zufall, dass Sie beide als damalige Vorsitzende der Studierendenvertretung später in die Politik gegangen sind?

Pasternack: Der Asta war für euch doch nur der Testlauf für die große Politik.

SPIEGEL: Weil so viele von den damaligen Studentenvertretern später Politiker geworden sind?

Griese: Ja, da gibt es einige. Stephan Grüger zum Beispiel ist Landtagsabgeordneter in Hessen. Andere Kommilitonen von damals sind heute in der Bundestagsverwaltung oder arbeiten an deutschen Botschaften im Ausland. Da sind viele in Parlamenten und Ministerien tätig.

Pasternack: Von den Ostdeutschen gibt es in dieser Richtung weniger zu erzählen. Johannes Wien war lange im Bundesverkehrsministerium auf Leitungsebene tätig. Sven Vollrath war Büroleiter von Bundestagspräsident Thierse und ist seit 2006 Referatsleiter Europa in der Bundestagsverwaltung.

SPIEGEL: Und Sie beide. Sie sind Staatssekretäre geworden.

Griese: Ich habe mich schon immer gerne engagiert, in der studentischen Vertretung an der Uni und  in der evangelischen Jugendarbeit. Das ist für professionelle Politik durchaus eine gute Voraussetzung, und ich mache Politik heute wirklich mit Herz und Seele. Aber 1989 war einfach auch ein sehr politisiertes Jahr. Das entscheidende Ereignis für die Diskussionen innerhalb der studentischen Linken war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Die Frage war damals: Wie hältst du es mit diesem Massaker? Eine Kommilitonin hat das damals noch als Niederschlagung einer Konterrevolution gerechtfertigt – das hat mich völlig erschüttert. Und dann kam auf einmal der November.

Peer Pasternack und Kerstin Griese 30 Jahre später. Pasternack war Staatssekretär, Griese ist es immer noch

Peer Pasternack und Kerstin Griese 30 Jahre später. Pasternack war Staatssekretär, Griese ist es immer noch

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Armin Himmelrath/ DER SPIEGEL

Pasternack: Nicht zu vergessen die Ausreisewelle im Sommer, das Europa-Picknick in Ungarn, als der Stacheldraht aufgeschnitten wurde, danach die Botschaftsbesetzungen in Osteuropa. Das war wirklich dermaßen beschleunigt, dieses Jahr.

SPIEGEL: Wie wichtig war in dieser Situation das Studium noch?

Griese: Wir waren so voller Elan, ich war ja gerade 22. Wir hatten das Gefühl, in einer Phase zu leben, in der man auf einmal total viel gestalten konnte. Wir haben für das allgemeinpolitische Mandat des Asta gekämpft und uns Tag und Nacht engagiert. Wir studentisch Engagierten haben 1989/90 das Studium total schleifen lassen.

Pasternack: Fachinhalte waren damals für uns zweitrangig. Wir wollten ja die Uni revolutionieren. Im Rückblick muss ich sagen: Wir waren dabei bürokratisch bis zum Exzess. Weil wir immer gesagt haben: Wenn wir Formfehler machen, machen wir uns angreifbar. Deswegen haben wir vor der Konstituierung des Studentenrats am 9. November mehrere Vollversammlungen durchgeführt, und wir haben in 500 Seminargruppen die Seminargruppensprecher wählen lassen. Die haben dann wiederum Fachschaftsratssprecher wählen lassen, die dann den Studentenrat bildeten. Und dann saßen wir am 9. November im Studentenrat zusammen, da kam zum Schluss der Versammlung jemand rein und sagte: “Die Mauer ist offen!” Und wir haben gelacht und abgewunken, weil wir dachten, der will uns provozieren. Und haben mit der Tagesordnung weitergemacht.

Griese: Das ist jetzt natürlich eine amüsante Episode. Ich finde das generell aber wirklich mutig, was Ihr gemacht habt. Ich bin bis heute unglaublich dankbar dafür, dass Ihr aufgestanden seid. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich die Bilder vom Mauerfall sehe. Dieser Drang nach Freiheit ist für mich auch eine Motivation, Politik zu machen. Und mich heute als Parlamentarische Staatssekretärin zu engagieren, ist die großartigste Aufgabe, die ich je hatte - seit der Zeit als AStA-Vorsitzende 1989/90.

Pasternack: Das war bei mir definitiv nicht so. Ich war ab 2002 zwei Jahre lang Staatssekretär beim Berliner Wissenschaftssenator Thomas Flierl, bin dann aber zurückgetreten. Das hatte viel mit dem damaligen Berliner SPD-Finanzsenator zu tun: Thilo Sarrazin. Der hatte uns zwingen wollen, 70 Professuren einzusparen. Und während Berlin sich damals gerade anschickte, zum Hotspot für Studierende aus aller Welt zu werden, wollte Sarrazin nochmal 25.000 Studienplätze abbauen. Außerdem wollte der rot-rote Senat Studiengebühren einführen – da hat es mir dann gereicht. Ich bin zurück in die Wissenschaft gegangen.

SPIEGEL: Was bleibt vom ersten deutsch-deutschen Studententreffen im Januar und Februar 1990?

Pasternack: Viele Fragen, die immer noch nicht beantwortet sind. Wir haben damals darüber geredet, dass das Haus Europa mehr ist als nur die EU. Eine andere Arbeitsgruppe hieß "Humanismus statt Nationalismus". Wir haben über die ungerechte Verteilung von Besitz und Geld auf der Welt gesprochen, über die Staaten, die den Hinterhof Europas bilden. Aber auch über Fragen wie: Hat der Sozialismus eine Zukunft?

Griese: Die große Abschlussdiskussion hieß: "Was ist wichtiger als die Wiedervereinigung? Diskussion über Perspektiven und weitere Zusammenarbeit der Studenten zwischen den beiden deutschen Staaten". Einen Minus-10-Punkte-Plan wollten wir aufstellen, gegen den 10-Punkte-Plan von Kohl. Uns ging es um Frieden und soziale Gerechtigkeit in Europa.

Pasternack: Das klingt im Rückblick so ein bisschen wie: Alle reden über das Wetter – nur wir nicht.

SPIEGEL: Frau Griese, Herr Pasternack, herzlichen Dank für das Gespräch.

SPIEGEL-Redakteur Armin Himmelrath war 1990 Student in Wuppertal und nahm ebenfalls an den beiden Kongressen teil.

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