
Heimatfilm vs. Football Das Debakel des "Heidi Bowl"


Da legst di nieder: Der nachträgliche Einblendungszeitpunkt des Spielstands war irgendwie unglücklich gewählt.
Foto: NBCDiese 65 Spielsekunden schrieben Sportgeschichte: Volle drei Stunden haben die Oakland Raiders beim Heimspiel am 17. November 1968 schon gegen die New York Jets angekämpft. Aber nun scheint alles verloren. Die Jets führen 32:29. Eine Minute vor Schluss.
Da passiert es: Raiders-Quarterback Daryle Lamonica spielt nach einem Penalty einen Pass zu Charlie Smith - und der rennt glatt durch zum Touchdown! Die Raiders gehen mit 36:32 in Führung. Aber sie haben noch nicht genug: Die Jets verlieren durch ein Fumble den Ball, Oakland-Spieler Preston Ridlehuber schnappt ihn sich und läuft wieder durch, abermals Touchdown. In nur einer Minute haben die Raiders ihren Gegner überrumpelt und 43:32 geschlagen - für das footballverrückte Amerika eine Sensation.
Blöd nur, dass sie keiner mitbekam.
Denn statt des dramatischen Finales sahen Tausende Fans ab 19 Uhr Eastern Time plötzlich auf dem Bildschirm: ein blondbezopftes Waisenkind, das im enzianblauen Kleidchen durch die Schweizer Alpen hüpfte und Abenteuer mit ihrem Freund Geissenpeter und der im Rollstuhl sitzenden Klara erlebte. Der Sender NBC hatte die Spielübertragung einfach abgebrochen, um pünktlich "Heidi kehrt heim" auszustrahlen, die deutsch-amerikanische Verfilmung des "Heidi"-Romans von Johanna Spyri.
Als "Heidi Bowl" ging das Match in die Geschichte ein. Das TV-Debakel brachte Zuschauer zum Kochen und Telefonleitungen zum Durchschmoren. Fortan ging das US-Fernsehen ganz anders mit Sportveranstaltungen und ihren Fans um. Dabei hatten gerade die den TV-Interruptus bewirkt.
Dass die Zeit eng werden könnte, hatte niemand geahnt. Im Vorfeld berieten NBC-Führungskräfte über den Zeitplan und hielten drei Stunden für mehr als genug. Noch nie hatte ein im Fernsehen übertragenes Football-Match länger gedauert. "Es wurde bestimmt", erinnerte sich Sendeleiter Dick Cline 2013 auf der Raiders-Homepage, "dass 'Heidi' um 7 Uhr starten sollte. Auch wenn Football noch nicht durch war." Dass das passieren würde, glaubte eh keiner.
Doch das Match zog sich: Wegen Auszeiten und Regelverstößen wurde immer wieder die Spielzeit angehalten - um 18.45 Uhr war noch immer kein Ende in Sicht. "Die Zuschauer, die 'Heidi' sehen wollten, riefen an, um zu fragen, ob der Film pünktlich starten würde", so Cline. Dann, als 19 Uhr nahte, wurde es noch schlimmer. "Nun begannen die Football-Fans anzurufen, die wissen wollten, ob wir das Spiel weiter zeigen."
Unablässig klingelten die Telefone. Wer jetzt nicht mehr durchkam: Clines Vorgesetzte. Denn sie hatten in letzter Sekunde entschieden, das Match doch weiter zu zeigen. Aber sie konnten Cline nicht erreichen. Also schaltete er das Spiel pünktlich ab - just in seiner spannendsten Minute.
Wie der Sport-Krimi zu Ende ging, blieb den Amerikanern außerhalb des Oakland Coliseum vorenthalten. Raiders-Co-Trainer John Madden sagt: "Wir wussten, wir hatten gewonnen, die Leute im Stadion wussten es - aber die Leute vor ihren Fernsehern überall im Land dachten, die Jets hätten gewonnen."
Der geballte Frust der Football-Fans brach über NBC herein. Fluchende Zuschauer sahen plötzlich Heidi, Alm-Öhi und Fräulein Rottenmeier im Alpenglühen statt der Raiders beim Touchdown. Und ließen die Leitungen im Sender heißlaufen. Buchstäblich: 26 Sicherungen brannten in der New Yorker NBC-Telefonzentrale durch, die Leitungen waren tot. Das bändigte den Zorn der Fans allerdings nicht. Nun riefen sie bei der New Yorker Telefongesellschaft an und beschimpften deren Mitarbeiter. Selbst die New Yorker Feuerwehr und die Polizeiwachen bekamen auf einmal Anrufe von pöbelnden Fernsehzuschauern.
Da legst di nieder: Der nachträgliche Einblendungszeitpunkt des Spielstands war irgendwie unglücklich gewählt.
Foto: NBCVolle 20 Minuten dauerte es, bis NBC eine Einblendung zum Spielausgang gelang - allerdings zu einem sehr, sehr unglücklichen Zeitpunkt: In einer dramatischen Filmszene bleibt die kleine Klara allein auf dem Berg zurück. In größter Verzweiflung stemmt sie sich aus ihrem Rollstuhl und kriecht ächzend über die Alm, um sich mit letzter Kraft aufzurichten. Ausgerechnet in dem Moment, in dem Klara zu Orchesterklängen von links ins Bild robbte, kroch ihr von rechts ein Schriftzug entgegen: "Sportmeldung: Raiders besiegen Jets 43:32". Regisseur Delbert Mann erinnerte sich noch Jahre später in einer Dokumentation an genau diesen Moment: "Ich sprang auf und schrie!"
Heidi Fans schäumten. Raiders-Fans tobten. Jets-Fans wüteten. NBC strahlte die fehlende Minute am nächsten Tag in allen Nachrichtensendungen aus, und Firmenchef Julian Goodman kroch in einer öffentlichen Erklärung zu Kreuze: "Ich habe das Spielende genauso verpasst wie alle anderen." Der unglückliche Zwischenfall sei ein "verzeihlicher Fehler" gewesen, "aus Sorge um die Kinder, die Heidi um 19 Uhr erwarteten".
Die um ihr Spiel geprellten Football-Anhänger zeigten sich unbeeindruckt von der Kinderliebe des Senders. Selbst die 10-jährige Jennifer Edwards, die "Heidi" im Film verkörpert hatte und damals in London lebte, bekam die Wut zu spüren: "Der Aufruhr war gewaltig", so Edwards 1998 in der "LA Times". Täglich habe sie neben ihrer Fanpost "riesige Umschläge mit Hassbriefen" bekommen: "Zeitungen beschimpften mich als 'die kleine Rotzgöre mit den weißen Strümpfen, die das Football-Match ruiniert hat'."
Nach dem Sendeunfall berichtete die "LA Times" im November 1968 von einer Gegenbewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, Heidis guten Namen wieder reinzuwaschen - eine Organisation namens "The Friends of Heidi". Ihren Präsidenten zitierte die Zeitung: "Die Sendung hätte mindestens eine halbe Stunde früher beginnen müssen. Für NBC wäre es ein Leichtes gewesen, das Spiel bei Halbzeit abzubrechen und 'Heidi' dann zu starten." Auch wenn der "LA Times"-Beitrag nur ein satirischer Text des Komikers Art Buchwald war - einen Verein der Fürsprecher hätte "Heidi" in den USA 1968 wirklich gut brauchen können.
Mit den Jahren jedoch sollte der Zorn abebben. In einer Umfrage der National Football League wurde der "Heidi-Bowl" 1997 gar zum "denkwürdigsten Regular-Season-Spiel der NFL-Geschichte" gewählt. Im Grunde hatten die Fans dem Debakel auch viel zu verdanken - denn es veränderte den Umgang mit Football im US-Fernsehen gründlich: NBC verfügte, nie wieder von einem Spiel, das auf der Kippe steht, vorzeitig wegzuschalten. Und die NFL verankerte eine Klausel in Sendeverträgen, die garantiert, dass alle ihre Ligaspiele in den USA vollständig ausgestrahlt werden.
Für den Fall, dass trotzdem einmal etwas bei der Ausstrahlung schiefgehen sollte, platzierte NBC sicherheitshalber in jeder Sendezentrale ein Notfalltelefon, das über eine eigene Stromversorgung und eine eigene Amtsleitung verfügt. Sie tauften es das "Heidi Phone".
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Nervenzerfetzend: Drei Stunden lang hatten Spieler der Raiders und der Jets am 17. November 1968 miteinander gerungen. 65 Spielsekunden vor Schluss beendete der Sender NBC die Ausstrahlung - doch in genau dieser Minute sollte das Ligaspiel komplett kippen. Es war der Football-Krimi und der TV-Skandal des Jahres.
Oh Schreck! Irgendwie reumütig blicken Heidi und ihr Großvater auf diesem Filmstill von "Heidi kehrt heim" (1968) aus der Trachtenwäsche. Dabei konnten die Darsteller Michael Redgrave und Jennifer Edwards beim Dreh unmöglich geahnt haben, welches Ungemach sie über amerikanische Footballfans bringen würden.
Umkämpft: Achtmal hatte die Führung im Spiel der New York Jets gegen die Oakland Raiders bereits gewechselt, als NBC am 17. November 1968 die Sendung abbrach. Ein Zeitrahmen von drei Stunden war vorgesehen - und länger hatte noch nie eine Football-TV-Übertragung gedauert.
Unglückliches Händchen: Erst 20 Minuten nach Spielende schaffte Sender NBC es, das überraschende finale Endergebnis doch noch einzublenden. Allerdings zu einem wenig feinfühlig gewählten Zeitpunkt: Während die aus ihrem Rollstuhl gefallene Klara hilflos über die Alm kroch, kroch ihr der Football-Spielstand entgegen.
Nachspiel: "Heidi"-Darstellerin Jennifer Edwards wurde nach dem Debakel des "Heidi-Bowls" mit Hassbriefen von Football-Anhängern überschüttet. "Der Aufruhr war gewaltig", erinnert sich die Schauspielerin. Und ahnte: "Auf meinem Grabstein wird stehen: 'Sie sorgte für einen großartigen Moment im Football'."
Unglückliche Partnerwahl: Die Spieler waren ebensowenig beglückt über den Sendungsabbruch wie ihre Fans. Jahre später sollte Jets-Quarterback Joe Namath (vorne) für die TV-Serie "Love Boat" vor der Kamera stehen. Seine Geliebte sollte ausgerechnet Jennifer Edwards darstellen, die in dem "Heidi"-Film von 1968 die Titelrolle gespielt hatte. Das Drehvorhaben wurde aufgegeben.
Alp-Traum aller Footballfans: Während sich im Oakland Coliseum das wohl spektakulärste Spielfinale der Saison 1968 ereignete, sahen frustrierte US-Zuschauer auf der Mattscheibe die Abenteuer von Heidi und Geissenpeter in den Schweizer Bergen.
Historisches Debakel: Die Fans, die am 11. November 1968 live im Oakland Coliseum dem Spiel beiwohnten, konnten sich glücklich schätzen - sie waren die einzigen Amerikaner, die den tatsächlichen Ausgang des Spiels mitbekamen. 1997 sollte die umstrittene Partie zum "denkwürdigsten Regular-Season-Spiel der NFL-Geschichte" gewählt werden.
Verwandelt: Kurz vor Schluss des Spiels am 11. November 1968 führten die New York Jets 32:29 vor den Oakland Raiders. Doch den Spielern Preston Ridlehuber und Charlie Smith gelangen zwei Touchdowns in buchstäblich letzter Minute. Die Raiders gewannen 43:32. Nur hatte keiner außerhalb des Stadions ihren Triumph gesehen.
Minütchen: Einen Tag, nachdem es dem Sender misslungen war, die finale Minute des wohl spannendsten Spiels des Jahres auszustrahlen, sendete NBC nachträglich die letzten Sekunden. Doch die Wut der Zuschauer war kaum zu bändigen.
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