
"Kunsthaus Tacheles": "Welches Formular müssten wir dann überhaupt nehmen?"
Szene-Mythos "Tacheles" Zauberwelt der Zwischenzeit
Es war kalt an diesem 13. Februar im Wendejahr 1990, als eine Handvoll junger Künstler die verfallene Ruine eines ehemaligen Luxuskaufhauses in Berlin-Mitte besetzte - und so die unmittelbar bevorstehende Sprengung des Gebäudes verhinderte.
Für Makler wie für Hausbesetzer gilt eine goldene Regel: Lage ist alles. Hätte das besetzte Kaufhaus in Greifswald, Neuruppin oder Berlin-Lichtenberg gestanden, die ganze Geschichte hätte kaum Aufsehen erregt. Hier allerdings, an der Kreuzung Oranienburger Straße/Friedrichstraße, einer der prominentesten Ecken des neuen, mauerlosen Berlin, sorgte die Aktion für Furore.
Und sie wurde zur Geburtstunde einer der Kultur-Ikonen der frühen Neunziger: des "Tacheles". In und um das besetzte, ruinöse Künstlerhaus, das bald grellbunt bemalt aus dem Ost-Berliner Grau-in-grau herausstach, fand in den Monaten nach dem Mauerfall der Urknall für jene schrille Szene statt, die schnell zum Markenzeichen des neuen Berlins wurde. Bald liebte die ganze Welt dieses verrückte, vermüllte, irgendwie völlig undeutsche Symbol ungeahnter Freiheiten, diesen seltsamen Mikrokosmos, in dem sich Verfall und Aufbruch umarmten und der die Zeile aus der alten DDR-Nationalhymne auf unerwartete Weise mit Leben füllte: "Auferstanden aus Ruinen".
Das Alte vergangen, das Neue noch nicht da
"Zur Wendezeit waren ja ganz viele Häuser besetzt", erinnert sich Paulo San Martin, 42. Er war einer der Besetzer der ersten Stunde und arbeitet bis heute im Café Zapata im Erdgeschoss des Riesenkomplexes. "Man konnte eigentlich jeden Tag woanders schlafen oder sich ein Atelier einrichten. Und so ist unsere kleine Gang eben auch im Tacheles gelandet - das muss so eine Woche nach der Besetzung gewesen sein." Als die Besetzer einzogen, stand das frühere Wertheim-Kaufhaus schon zehn Jahre lang leer. 1980 hatte die DDR es teilweise gesprengt und dann als verstümmelte Ruine stehen lassen; für April 1990 war die endgültige Planierung angesetzt. Doch dann kam die Wende dazwischen; die Besetzer erwirkten am Runden Tisch, an dem damals SED und Opposition um die Macht rangen, den Abrissstopp.
Ein Mitglied der kleinen Tacheles-Truppe war auch Christian Lorenz, Spitzname "Flake". Damals spielte er noch mit der Ost-Berliner Punkband Feeling B in Kirchenkellern, heute steht er mit Rammstein auf den Bühnen der Welt. Flake und Paulo kennen sich seit frühesten Schultagen. Paulo, nach dem Militärputsch in Chile 1973 als Sohn eines emigrierten Theaterregisseurs in die DDR gekommen, wurde direkt neben den dürren Flake gesetzt, den Klassenbesten - eine Freundschaft, die immer noch hält. Heute sitzt man bei Tee und Wodka am Prenzlauer Berg, wühlt sich durch alte Fotos und erinnert sich an diese magische Zeit, in der das Alte vergangen und das Neue noch nicht da war.

"Kunsthaus Tacheles": "Welches Formular müssten wir dann überhaupt nehmen?"
"Alles war kaputt, man rannte so durch dieses versiffte Gebäude, hier hat einer geprobt, dort ein anderer gekifft, und wir hatten dann die brillante Idee, einen Theatersaal aufzubauen, um dort Stücke aufzuführen", erzählt San Martin. Also spielten Flake, Paulo und Freund "Lupe" im besetzten Kunsthaus Bauarbeiter - mit brüderlicher Hilfe von Technikern des nahe liegenden Berliner Ensembles und des Deutschen Theaters. "Ihr seid verrückt", hätten die nur gesagt, erinnert sich Paolo, "aber ihr braucht hier 'ne Rauchklappe, und die Notausgänge müssen so groß sein." Damals spontan requirierte Gerüststangen von umliegenden Baustellen dienen bis heute als Lampenhalter.
"Macht doch mal 'ne Ausnahme"
Im Fahrtwind der untergehenden DDR war plötzlich alles möglich. Sogar die Polizei spielte mit. Fahren ohne Führerschein, Diebstahl öffentlichen Eigentums, zur Schau gestellter Drogenkonsum: Plötzlich war das alles kein besonderes Problem mehr. "In dieser kurzen Zeit konnte man mit der Polizei reden - und die haben einen verstanden", lächelt Paulo. "Da konnte man sagen: 'Macht doch mal ne Ausnahme, wir sind gleich weg.' Und die wussten genau: Wenn wir die mitnehmen, gibt das nur Ärger. Und überhaupt, welches Formular müssten wir dann überhaupt nehmen: das neue für ganz Berlin oder das alte DDR-Formular?"
Man baute also gemeinsam am Theatersaal, in dem tatsächlich im November 1990 mit dem Stück "Quai West" von Bernard-Marie Koltès Premiere gefeiert werden konnte. Laut Selbsteinschätzung gehörte die Gruppe zu den "Ordentlichen" in der besetzten Kaufhausruine. "Dadurch, dass Paulos Vater der Theaterdirektor war, waren wir natürlich sehr diszipliniert", erzählt Flake. "Die anderen, die 'Unordentlichen', waren anarchistischer als wir. Wir wollten eben Theateraufführungen machen und brauchten in der Zeit natürlich auch Ruhe im Haus, und irgendwann wollten wir dann auch legalen Strom haben, weil das sonst nicht ging."
Ende 1990 besuchte auch Stefan Schilling, freier Künstler aus Dresden, das besetzte Haus mit der hohen Anziehungskraft. Nach einer Woche war ihm klar, dass er hier nicht mehr so einfach wegkommen würde. "Das Tacheles war wie ein Labyrinth, mit einer Wahnsinnsatmosphäre", erinnert sich der nachdenkliche Videokünstler. "Überall war Kunst, es gab Musik, in Ansätzen sogar eine Siebdruckwerkstatt. Im Juni 1991 bin ich dann wirklich hingezogen. Gleich am ersten Abend gab es ein großes Performance-Fest, und ab dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass ich wirklich angekommen war. Meiner damaligen Freundin hatte ich zwar gesagt, dass ich nur zwei Monate da bleibe, aber das war dann eben irgendwann die Ex-Freundin."
Das Zentrum der Welt
Schilling weiß auch, wie die Besetzung im Februar 1990 wohl tatsächlich ablief. Die weitverbreiteten Legende lautet, dass sich die Aktivisten vom nebenliegenden Wohnhaus mehr oder weniger zum Tacheles durchgraben musste - tatsächlich stand den Besetzern damals wohl alles offen, wie Schilling von Leo Kondeyne weiß. Für einen geplanten Fotoband über das Tacheles hat Schilling Konedeyne, Mitglied der namensgebenden Ost-Berliner Künstlergruppe "Tacheles" und von vielen als geistiger Vater der Besetzung betrachtet, und andere frühere Protagonisten interviewt. "Es gab anscheinend kaum eine Barriere zu überwinden und gerade einmal vier oder fünf Ostler sind da einfach reinspaziert", berichtet Schilling aus dem Gespräch. "Und Leo hat wohl mit der Staatsmacht ganz frech verhandelt: 'Genosse Volkspolizist, willst du dieses Haus wirklich irgendwelchen Kapitalisten geben? Dann gib es doch besser uns!'."
Irgendwann im Jahr 1990 stieß auch Jenny Rosemeyer dazu - ausgerechnet an einem Tag, als das Tacheles von Neonazis angegriffen wurde. "Es wurde von allen Seiten mit Molotow-Cocktails geworfen. Einer der Besetzer, Tombo, ist brennend durchs Café gerannt, draußen stand die Polizei, die aber nichts gemacht hat - das war alles sehr rauschartig", erinnert sich die heute 34-jährige Künstlerin. "Ich war gerade einmal 15 Jahre alt, und das ganze war für mich der totale Schock. Ab dann war ich jeden Tag im Tacheles. Mir wurde schnell klar, dass mir das hier mehr bringt, als das Abitur."
So lebte und arbeitete man in einem besetzten Haus, das die ganze Welt zu Gast hatte. "Man lag da rum, hat Steine geklopft und Professoren aus Frankreich kamen vorbei und wollten über Kunst und die Welt reden", erinnert sich Paulo. "Momentelang hatte ich das Gefühl, wir wären das Zentrum der Welt. Denn in den Augen vieler Besucher war man ein Held, auch wenn man nur Steine geklopft hat." Die anderen nicken. Vier Tacheles-Biographien von mindestens hundert. Das Tacheles ist ein Teil ihrer Prägung, so wie es ein Teil jener unwirklichen Wirklichkeit der Wendezeit war, dieses kurzen Spagats zwischen zwei Systemen.
Ein Geschenk der Geschichte
Natürlich reden sie dann auch noch lange über den Niedergang. Über das Geld, das dann irgendwann in Form von ABM-Stellen kam, und dessen Folgen, über stundenlange Streitereien bei den montäglichen Vollversammlungen, die teilweise in körperliche Gewalt ausarteten. Ob Hysterie oder gelebte Basisdemokratie: Hier gab es immer die zwei Seiten derselben Medaille. Über Drogentod, Selbstmord und Psychiatrie. Über die vermeintlich falschen Leute in Machtpositionen und die großen und kleinen Unterschiede zwischen Westlern und Ostlern. Über verlorengegangene Freundschaften, Streitigkeiten vor Gericht und den Verrat an der eigentlichen Idee, etwa als das Tacheles sich im Jahr 1993 für eine Veranstaltung der Berliner Olympia-Bewerbung hergab. Heute ist das Tacheles zumeist nur noch mit Rechtsstreitigkeiten zwischen den ehemaligen Besetzern in den Schlagzeilen: Seit 2002 wurden über 140 Prozesse gegeneinander geführt. Meist geht es um ausstehende Mietzahlungen, die der Vorstand des Tacheles e.V. von seinen Mitgliedern eintreiben will. Da geht es bis hin zur Räumungsklage - Besetzer werfen Besetzer raus.
Und sie reden darüber, dass es eigentlich auch ganz gut sei, wenn es mit dem inzwischen von der Kommerzialisierung der Berliner Mitte voll erfassten Tacheles jetzt zu Ende geht. 400.000 Touristen lockt die in die Jahre gekommene Ikone der alternativen Kulturszene heute jährlich an - so viele wie die hochkulturelle Museumsinsel. "So wie es jetzt ist, ist es Scheiße", fasst Paulo San Martin zusammen. Er hat kein Problem damit, dass Ende des Jahres der bisherige Mietvertrag mit dem Eigentümer, der Investorengruppe Fundus, zum symbolischen Preis von einer D-Mark beziehungsweise 50 Cent pro Monat ausläuft und das letzte Filetstück in Berlins Mitte wohl gutbürgerlich werden wird. "Ich will keinem seine Galerie oder seinen Arbeitsplatz wegnehmen", sagt Paulo, "aber wenn ich der Besitzer wäre, würde ich das heute nicht mehr an mich vermieten."
Dabei hat die wilde Pionierzeit mit ihrer fast unbegrenzten Freiheit die Tacheles-Mannschaft geprägt wie wohl keine andere Erfahrung. Als "fortgesetztes Toleranztraining" hat Stefan Schilling die wilde Zeit in Erinnerung, vom "ultimativen Systemcheck" spricht Jenny Rosemeyer. Das Tacheles war ein Geschenk der Geschichte, das neugierigen und wagemutigen Leuten die Chance gab, unkompliziert Theater zu spielen, Kunstausstellungen zu machen oder, durch ABM-Gelder beflügelt, mit Videokunst zu beginnen. Es waren magische Jahre, in denen alles möglich war. Eine Zwischenzeit, in der alle abzuwarten schienen, vor allem der Staat - und sich in diesem Vakuum in einer riesigen Kaufhausruine mitten in Berlin die aufgestaute Energie einer ganzen Generation entlud.
Eine Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist.